E-Book, Deutsch, 1152 Seiten
Harstad Unter dem Pflaster liegt der Strand
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8437-3590-2
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman | Das Über-Lebensbuch aus Norwegen
E-Book, Deutsch, 1152 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3590-2
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ingmar Olsen nimmt in Warschau an einer Konferenz zum Thema Atommüll teil, als ein ihm bis dahin unbekannter Amerikaner auf ihn zukommt und beginnt, ihn über seine Jugendzeit in Norwegen auszufragen, über die er längst mehr zu wissen scheint. Kurz darauf erhält Ingmar einen Anruf von seinem Jugendfreund Jonatan, der sich nach fast 20 Jahren von einem Containerschiff meldet, um etwas zu besprechen, mit dem Ingmar vor langem abgeschlossen hat. Der Freund und der Fremde bringen Ingmar dazu, über seine damalige Clique nachzudenken, was sie zusammenhielt und auseinandertrieb - und mit deren einzigem weiblichen Mitglied Ingmar bis heute eine große Liebe verbindet. Unter dem Pflaster liegt der Strand ist ein ebenso großer wie überwältigender Roman über eine Art Stein, der einen in sieben Minuten die eigene Zukunft durchleben lässt und dabei, tja, keinen Stein auf dem anderen lässt.
Johan Harstad, geboren 1979 in Stavanger, veröffentlichte in Norwegen zwei vielbeachtete Erzählbände, bevor dort 2005 sein erster Roman erschien, der in zehn Sprachen übersetzt wurde. Harstad wurde mit dem Ungdommens Kritikerpris, dem Bragepris, dem Ibsenpris und dem Hungerpris ausgezeichnet. Er lebt in Oslo. Zuletzt erschienen von Harstad 'Max, Mischa und die Tet-Offensive' (2019) und 'Auf frischer Tat' (2022).
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»Und damit, meine Damen und Herren, zu folgendem Punkt: Allgemein wird unterschätzt, wie schwer sich Astrophysiker damit tun, zu verstehen, was andere Astrophysiker so treiben. Da, jetzt habe ich es gesagt. Hm. Ich sehe jetzt viele Ihrer Blicke flackern, dabei sollte meine Aussage eigentlich niemanden überraschen, und ich glaube, das tut sie auch nicht, wenn wir ganz ehrlich zueinander sind. Und für uns Forscher ist der Mut zur Ehrlichkeit natürlich unerlässlich. Wir alle hier im Raum – abgesehen von Knut dort drüben – haben vergangenes Jahr wie üblich an der Internationalen Astrophysikerkonferenz im Sheraton Hotel in Pasadena teilgenommen. Aber kann mir einer von Ihnen sagen, welcher Programmpunkt die mit Abstand wenigsten Zuhörer hatte? Niemand? Nicht einer? Ich verrate es Ihnen, ich weiß es, weil ich einer der drei Anwesenden war: Dr. Agnar Poulsons Vortrag mit dem etwas unbeholfenen Titel ›Probleme interdisziplinärer Einhelligkeit im astrophysischen Problemfeld‹ war nicht gerade ein Publikumsmagnet für Wissenschaftler, die sich, tja, ich sage es freiheraus: die sich nach Gemeinschaft sehnten. ›Warum erzählt er uns das?‹, fragen Sie sich vielleicht. ›Ist Gemeinschaft wichtiger als die Sache an sich?‹ Ich tendiere zu: Ja. Unser Forschungsfeld ist zu vielfältig, oder vielleicht eher, das Universum ist zu vielfältig, da liegt doch der Hund begraben. Im Übrigen lässt sich genau das jedes Jahr auch über das Konferenzprogramm sagen, oder über die Astronomie im Allgemeinen, von der wir streng genommen nur einen winzig kleinen Teil bilden. Wissenschaftler, die sich mit der Geschichte des Sonnensystems befassen, gestehen sich nur ungern ein, dass sie kaum nachvollziehen können, womit sich Experten für Sternendynamik beschäftigen oder für Magnetohydrodynamik, die Stringtheorie, Quantenmechanik, Astropartikel, Astrophysik etc.; keiner von uns spricht mehr die Sprache des Nebenmanns, wir alle haben uns vertieft in das eine oder andere Spezialgebiet, das im Laufe der Jahre immer weiter schrumpft – natürlich nur, weil wir bestrebt sind, aus der Not eine Tugend zu machen, denn der Gegenstand unserer Arbeit ist nun einmal sehr groß – und klein! – und komplex, über die Maßen komplex. Aber sehen Sie nicht, wo uns das alles hinführt? Ich spreche hier nicht von den Publikationen, zu denen wir einander gratulieren und auf die wir in unseren eigenen darauffolgenden Publikationen verweisen, obwohl wir bestenfalls 20 % der Gedankengänge und Konklusionen erfasst haben; und ich spreche auch nicht von Festanstellungen, Ehrendoktorwürden oder dem heiligsten aller Grale, dem Nobelpreis. Hach. Ich spreche von fachlicher Einsamkeit, meine Damen und Herren. Sehen Sie nicht, wie unglaublich einsam wir sind? Und was diese Einsamkeit mit uns macht? Wir verfolgen Swift, WISE, Spitzer, GALEX, Kepler, Planck und Fermi und schauen Milliarden Jahre in die Zukunft, doch wir haben einander aus dem Blick verloren. Ist das nicht … Verzeihung, könnten Sie das wiederholen? Genau. Ja, das auch. Aber, na schön, lassen Sie es mich so sagen: Wer von Ihnen kannte Poulson persönlich? Wer mit ihm zusammengearbeitet hat, hebe jetzt bitte die Hand. Wie viele von Ihnen sind ihm schon früher begegnet – und nur um Missverständnisse im Protokoll zu vermeiden, mit ›begegnet‹ meine ich, wer von Ihnen hat mehr als ein paar Höflichkeitsfloskeln mit ihm gewechselt? Niemand? Wirklich keiner? Ich könnte Sie ebenso gut fragen, wie viele von Ihnen sich erkundigt haben, wie sein Vortrag gelaufen sei, als Sie später mit ihm am Büfett anstanden, aber das werde ich nicht tun. Ich denke, die Antwort kennen wir bereits. Also, um zum Kern des heutigen Vortrags zu kommen: Es wäre vollkommen sinnlos, ihn zu halten. Gut, ich selbst würde mir durchaus gern dabei zuhören, wie ich von meinen neuesten Erkenntnissen zur Lithiumdiskrepanz im Licht kosmischer Nukleosynthese erzähle, weil ich sie, wenn ich das so sagen darf, für ungemein spannend halte, und ihre Bedeutung weit über unser … Fach … hinausreichen wird. Aber was nützt es, wenn selbst Sie meinem Vortrag nur grob folgen könnten? Deshalb habe ich beschlossen – und bedauerlicherweise werde ich jetzt diejenigen von Ihnen enttäuschen, die gehofft haben, wenigstens zu hören, dass wir auch weiterhin kosmologische Fortschritte machen, und die sich an den 20 % der Informationen erfreut hätten, die nicht augenblicklich zu Kauderwelsch zerfasert wären –, diesen schönen Vormittag dafür zu nutzen, über unseren Freund Dr. Poulson zu sprechen. Den niemand hier kennt, wie wir soeben festgestellt haben. Und der vor nicht allzu langer Zeit, sozusagen am Fuß des Bergs, als den er das Jahrtausend betrachtet hat und von dem uns nur noch wenige Monate trennen, aus dem Leben geschieden ist, wie ich Ihnen leider mitteilen muss. Ich halte es für notwendig, dass wir über ihn sprechen. Für entscheidend. Deshalb lege ich mein Skript nun beiseite und möchte darum bitten, dass alles, was ich im Folgenden sage, weder protokolliert noch auf Band aufgenommen wird. Es ist nur für unsere Ohren bestimmt. Bitte haben Sie Verständnis dafür. Also – ist das Aufnahmegerät ausgeschaltet? Gut … na schön. Poulson. Wo fange ich an? Vielleicht hier: Nichts war ihm mehr zuwider als die Jugendlichen, die ihn, wenn er hin und wieder ein Gymnasium besuchte, weil man ihn dazu gedrängt und auf diese Weise sein chronisch schlechtes Gewissen gefüttert hatte, beständig mit Fragen nach der Möglichkeit von Zeitreisen bombardierten, in manchen Fällen, um clever zu wirken, in anderen, um ihn zum Narren zu halten und auf diverse Hollywoodfilme zu verweisen, von denen er höchstens die Titel kannte, und weil diese von der Filmindustrie und Regisseuren ohne Sachverstand verblendeten Jugendlichen sich einbildeten, sie würden Fragen stellen, die die Wissenschaft bisher übersehen hatte, und ihm damit ganz zufällig bahnbrechende Antworten entlocken. Er hatte nicht die geringste Lust, zum x-ten Mal das Großvaterparadoxon zu erklären, um sich dann die nächste Stunde und voraussichtlich auch die darauffolgende Pause – manchmal ging die Tortur so lange weiter, bis er den Autoschlüssel ins Zündschloss steckte, den Motor aufheulen ließ und zeigte, dass er durchaus bereit war, über ein paar Zehen zu fahren – unzählige Aber-, Wenn- und Falls- und Vielleicht nicht doch-Fragen anzuhören, samt und sonders Variationen von Gegenargumenten, die er schon zigmal zuvor gehört hatte, von anderen Jugendlichen an anderen Schulen, die denen, die ihm jetzt gegenübersaßen, zum Verwechseln ähnlich gesehen hatten, und das Ende vom Lied war jedes Mal ein enttäuschtes Ach …, woraufhin er die jungen Leute trösten oder sich schlimmstenfalls, wenn er es mit Jungs, die mehr Testosteron als Hirnschmalz hatten, anhören musste, wie sie sich in immer abstruseren Gegenargumenten verloren, bis er sie endlich überzeugt hatte, ihn mit dem Auto durchzulassen, und im Seitenspiegel sah, wie ihre weiterredenden Münder immer kleiner wurden.« An dieser Stelle hielt Dr. W. Degermark inne und trank einen Schluck aus dem geriffelten Wasserglas, das ganz rechts auf dem Rednerpult platziert worden war, vermutlich lange bevor Degermark das Podium erklommen hatte, und während er merkte, dass das Wasser bestenfalls lauwarm und im Begriff war, die Temperatur des Raums um ihn herum anzunehmen, dachte er darüber nach, seit wann sich das Wasser in dem Glas befinden mochte (er hatte nach seiner Ankunft niemanden mit einer Karaffe gesehen) und ob es womöglich eine Faustregel gab, wie weit im Voraus man das Wasserglas für einen Redner einschenken konnte, ohne ihn in seinen Grundrechten zu verletzen. Am Boden des Glases waren kleine, sich aneinanderdrängende Luftblasen zu erkennen, und er musste an ein Korallenriff denken. Nicht, dass er viel über Wasser in einem Glas wusste, doch er nahm an, der Grund für die Blasen war die Temperaturveränderung des Wassers seit dem Augenblick X, als es aus einem Wasserhahn in eine Karaffe (Y) gefüllt worden war bzw. direkt in das Glas (C), schließlich war von einer Karaffe weit und breit keine Spur zu sehen, was ihm nicht nur ungewöhnlich vorkam, sondern mit einem Mal auch besorgniserregend unprofessionell oder, noch viel schlimmer, als wollte ihm »jemand« auf passiv-aggressive Art mitteilen, dass er doch hoffentlich mit dem Vortrag fertig wäre, bevor er um neues Wasser bitten müsste. »Sie haben mich diese Worte schon öfter sagen hören«, fuhr Degermark fort, »zuletzt bei Dr. Feldts siebzigstem Geburtstag in Oslo, als unser Kollege Knut Dreyer beim Käsegang einen Zahn verlor, ein Vorfall, über den wir eines Tages bestimmt herzlich lachen werden, ohne der ganzen Geschichte zu viel Aufmerksamkeit zu schenken, aber die Pointe ist wichtig und zweifelsohne wahr, weshalb ich sie an dieser Stelle wiederholen will: Das Hirn ist das einzige Organ, das sich selbst einen Namen gegeben hat. Ein Unikum im Universum, soweit wir wissen. Und anschließend hat es allen anderen Dingen einen Namen gegeben. Denken Sie einen Augenblick darüber nach....