E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Harvey Kein Opfer ist vergessen
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-492-96057-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-492-96057-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Das Seminar fand in Fisk Hall statt, einem der ältesten Gebäude auf dem Campus der Northwestern University. Unter seiner verkrusteten Schale schlug das Herz der Medill School of Journalism. Ich setzte mich hinten in den Seminarraum. Vorn wurde eine rote Mähne geschüttelt; ein Hund, der aus dem Regen kommt. Eine Hand winkte mich herbei. »Kommt nicht infrage, Mr Joyce.« Seufzend schnappte ich mir meinen Rucksack und setzte mich nach vorn. Die Haarmähne teilte sich und enthüllte eine auffallend lange Nase und veilchenblaue Augen. »Mein Name ist Judy Zombrowski. Sie können mich Z nennen. Kennen Sie Ms Gold?« Z wies auf die Frau zu meiner Linken. Sie hatte ein kantiges Kinn, hohe Wangenknochen und langes brünettes Haar, das in der späten Nachmittagssonne rötlich schimmerte. Sarah Gold winkte mir zu. Ich fühlte mich benommen. Wunderbar benommen. »Wir kennen uns aus dem Grundstudium«, sagte Sarah und lächelte mich an, als hätten wir in diesen vier gemeinsamen Jahren je mehr als zwei Worte gewechselt. »Natürlich kennen Sie sich.« Z schaute über die Bankreihen. »Wir warten noch auf jemand.« Hinter uns flog eine Tür auf. Der dritte Student unseres Sommer-Graduate-Seminars war groß gewachsen und kantig, mit muskulösen Schultern und ausgeprägter Kinnpartie, die von blonden Bartstoppeln bedeckt wurde. Seine Augen waren verschattet, ihr Ausdruck nicht zu deuten. »Jake Havens?« Zs Stimme hallte in dem leeren Raum wider. Havens setzte sich auf den Platz, den ich mir anfangs ausgesucht hatte. »Was ist nur mit Ihnen los?« Z winkte Havens zu sich. »Nach vorn.« »Danke, ich sitze hier ganz gut.« Seine Stimme klang rau und abgehackt, wie ein Wagen, der im ersten Gang stottert. Er wirkte schon älter. Womöglich in den Dreißigern. »Wie Sie wollen.« Z wühlte in den Unterlagen, die sie auf dem Tisch vor sich gestapelt hatte, und zog unter einem Notizblock etwas hervor, das aussah wie ein Big Mac. Sie wickelte ihn aus dem Papier, biss ein Stück ab, entdeckte einen Becher Cola mit Strohhalm und nahm einen Schluck. »Kann mir jemand sagen, weshalb wir hier sind?« Z aß den nächsten Bissen, kaute und musterte uns. »Wir sind hier, um Fehlurteile zu untersuchen.« Beim Sprechen klopfte Sarah mit einem Stift auf den Tisch. »Es geht uns um Menschen, die wegen eines Verbrechens verurteilt wurden, das sie nicht begangen haben.« »Sie meinen wegen eines Mordes, Ms Gold.« »Ja, Madam.« »Z.« »Ja, Z.« »Und was ist - Gott bewahre! -, wenn das Dreckschwein doch schuldig war?« Aus dem Big Mac fiel eine Gurkenscheibe heraus. Z ging darüber hinweg. »Was ist, wenn Sie das ganze Quartal eine Akte durchackern und sich dann herausstellt, dass er das kleine Mädchen tatsächlich vergewaltigt, zerstückelt und die Einzelteile in einen Müllsack gestopft hat? Genau, wie es der Staat befunden hat?« Sarah öffnete den Mund, um zu antworten. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte Z. »Was ist, wenn Sie einen Fall untersuchen und sicher sind, dass der arme Kerl unschuldig ist? Und es daran keinerlei Zweifel gibt. Auch wenn Sie dafür keinen Beweis haben. Oder Sie haben den Beweis, der aber aus irgendeinem Grund unzulässig ist. Was dann?« Z nahm noch einen Bissen, legte den Hamburger weg und hob die Hände wie ein Chirurg, der sich bereit macht zu operieren. »Dieses Zeug dürfte ich gar nicht essen, aber ich liebe es einfach.« Sie wischte ihre Hände an einer Papierserviette ab, wickelte den Rest ihres Burgers darin ein und steckte das Ganze in die Tüte zurück. »Was ich sagen will - wir haben jede Menge Akten. Aus denen kann sich alles Mögliche ergeben. Deshalb suchen wir auch nicht nach einem bestimmten Resultat, das wir allen anderen vorziehen würden.« »Wonach suchen wir dann?«, fragte Sarah. »Nach der Wahrheit, falls wir sie entdecken. Und nach einer guten Story. Die Methoden unseres Gerichtssystems ...« Z drehte ihre Handflächen nach oben. »Manchmal muss man die Dinge nehmen, wie sie sind. Ist Ihnen klar, worauf ich hinauswill?« Wir nickten. »Okay, Sie haben nicht den Hauch einer Ahnung. Kein Problem. Denken Sie immer an die Regel Nummer eins. Ein Beweis spricht für sich. Sie müssen ihm erlauben, seine Geschichte zu erzählen, statt ihn so zu formen, dass er zu einem gewünschten Ergebnis führt. Darüber werden wir uns später noch ausführlicher unterhalten. Also, lassen Sie uns anfangen.« Z deutete auf den Berg brauner Akten hinter ihr an der Wand. »Da sind einige der Fälle, die Sie sich anschauen können. Am Ende des Flurs haben wir noch einen ganzen Raum voll damit.« »Sollen wir an einem bestimmten Punkt anfangen?«, erkundigte ich mich. »Oder suchen wir uns einfach irgendwas heraus?« »In diesem Seminar geht es um den Instinkt, Mr Joyce. Und darum, wer ihn hat. Der erste Fall, den wir uns hier jemals vorgenommen haben, basierte auf nicht viel mehr als einem Gefühl. Haben Sie davon gehört?« Wir schüttelten die Köpfe. Z wirkte zufrieden. »Es handelte sich um Charles Granger. Er wurde angeklagt, einen Mann während eines Drogendeals erschossen zu haben. Der Staat Indiana verurteilte ihn deswegen zum Tode. Im Frühjahr 1999 gingen wir seine Akte durch, hier in diesem Seminarraum. Keiner von uns glaubte an seine Schuld. Wir wussten zwar nicht, weshalb wir uns da so sicher waren, aber die Fakten passten einfach nicht zusammen. Wir forderten die Prozessprotokolle an und begannen mit der Durchsicht. Schließlich konzentrierten wir uns auf die Aussage der Hauptzeugin der Anklage. Anfangs hatte sie Angst, mit uns zu reden. Wir leiteten ihr die Briefe weiter, die Granger uns geschrieben hatte. Dann schickten wir ihr einen Kalender, in dem wir das Datum der Hinrichtung markiert hatten. Am Ende zog sie ihre Aussage zurück, und der ganze Fall fiel in sich zusammen. Charles Granger hatte vierzehn Jahre in der Todeszelle gesessen. Es gab einen Moment, da war er nur noch achtundvierzig Stunden von der Vollstreckung des Urteils entfernt. Wir retteten sein Leben. Seither sind in diesem Seminar acht weitere Leben gerettet worden. Mindestens ebenso viele Menschen haben wir freibekommen, nachdem sie jahrzehnte lang im Gefängnis gesessen hatten. Für Verbrechen, die sie nicht begangen hatten. Das hier wird die beste Arbeit sein, die Sie jemals verrichten werden. Aber sie wird Sie auch wie keine andere fordern. Darüber hinaus wird sie Ihnen zeigen, ob Sie sich auf Ihren Instinkt verlassen können.« Z schüttelte die Eisstücke in ihrer Cola und saugte am Strohhalm, bis nichts mehr kam. Dann warf sie den Becher in die Richtung der Mülltonne, die sie um einiges verfehlte. »Sie sind für dieses Seminar ausgewählt worden, weil Sie die Besten sind. So hat man es mir jedenfalls gesagt. Ich habe in meiner Karriere zweimal den Pulitzerpreis bekommen und weiß demnach, was Begabung ist. Wenn man mich fragt, liegt das Auswahlkomitee bei gut fünfzig Prozent seiner Entscheidungen richtig. Was auch bedeutet, dass hier mindestens einer von Ihnen fehl am Platz ist. Wer, wird sich im Lauf der Zeit herausstellen. So, und jetzt begeben wir uns in den Raum am Ende des Flurs, und ich führe Sie in unser Ablagesystem ein.« Z stand auf. Sarah und ich taten es ihr gleich. »Ich habe schon einen Fall.« Jake Havens fläzte sich auf seinem Stuhl. »Der Mann heißt James Harrison. Vor vierzehn Jahren wurde er in Chicago wegen Mordes an einem Vierzehnjährigen verurteilt.« Z lächelte. »Mr Havens. Schön, dass Sie mitmachen. Aber wir konzentrieren uns weniger auf die Fälle aus Illinois. Der Staat hat die Todesstrafe abgeschafft.« Havens hob den Kopf und sah Z an. »Ich dachte, es ginge um unseren Instinkt.« »Ich habe keineswegs gesagt, dass wir uns die Fälle aus Illinois nicht ansehen können. Sondern nur, dass sie aus Gründen der Einheitlichkeit vielleicht nicht an erster Stelle stehen.« »Sie sind aber nicht alle einheitlich.« »Was soll das heißen?« »Harrison ist tot, damit fängt es schon mal an. Nach vierzehn Monaten Haft hat ihm jemand eine Klinge in den Hals gerammt.« Havens kam nach vorn und setzte sich auf den Platz neben Sarah. Er zog er eine dicke Akte aus seinem verschlissenen Rucksack hervor und ließ sie auf den Tisch fallen. »Das ist alles, was ich auftreiben konnte. Hauptsächlich Zeitungsausschnitte. Und die Originalfassung des Polizeiberichts.« Z ignorierte die Akte und betrachtete Havens. »Und warum sollen wir uns mit einem Fall beschäftigen, in dem der Verurteilte gestorben ist?« »Macht sein Tod ihn weniger unschuldig?« Z kniff die Lippen zusammen. Na toll. Schon am ersten Tag hatten wir den Prof sauer gemacht. »Mr Havens, wie wäre es, wenn wir uns nach dem Seminar weiter darüber unterhalten?« Havens holte einen zerknitterten grauen Briefumschlag aus seinem Rucksack und legte ihn neben die Akte. »Haben Sie noch etwas für uns?« Zs Stimme war zusammen mit ihren Brauen in die Höhe gewandert. »Es ist ein Brief, Madam.« »Das sehe ich.« »Den ich vor vier Tagen erhalten habe.« »Mit der Post?« Sarah und ich setzten uns wieder. Sie neigte sich zur Seite und warf einen Blick auf den Umschlag. »Er ist nicht frankiert.« »Der Umschlag steckte unter meiner Wohnungstür.« »Wann, Mr Havens?« »Das habe ich schon gesagt. Vor vier Tagen.« Z nickte. »Und weiter?« Ich spürte, dass sich etwas verschoben hatte. Z war nicht länger die Lehrerin. Und Jake Havens nicht mehr bloß ein Schüler. »Ich stand morgens auf, entdeckte den Umschlag unter meiner Tür und öffnete ihn.« »Wer hat ihn sonst noch angefasst?« »Niemand.« »Sind Sie sicher?« »Ziemlich sicher.« »Und was, meinen Sie, hat dieser Brief zu bedeuten?« »Ich weiß, was er bedeutet. Es ist eine Nachricht des Mörders. Des wahren Mörders.« Z durchquerte den Seminarraum zur Tür, schloss sie und kehrte mit einer Schachtel Latexhandschuhe zurück. Jeder von uns zupfte ein Paar heraus und streifte es über. Wie gebannt sah ich auf den Umschlag und fand, dass Zs Vorsichtsmaßnahmen die Sache noch um einiges spannender machten. Z nahm den Umschlag und studierte ihn. Man sah, dass die Adresse fehlte. Nur der Name Jake Havens stand darauf, in Druckbuchstaben und mit schwarzer Tinte geschrieben. »War er zugeklebt?«, erkundigte sie sich. Jake schüttelte den Kopf. Z zuckte mit den Schultern und öffnete den Umschlag. Behutsam zog sie den Inhalt heraus: eine Seite, auf der auch irgendetwas in Blockschrift stand. Sie legte sie auf den Tisch und strich sie glatt. Wir alle beugten uns darüber und lasen den kurzen Text. 98-2425 ... Ich hab den Jungn gekilt. »Das ist noch nicht alles.« Wieder griff Havens in seinen Rucksack. Diesmal zog er einen kleinen Stofffetzen hervor und legte ihn zu dem Brief. Bevor die anderen reagieren konnten, schnappte ich mir den Fetzen. Er war grob aus einem größeren Stück herausgeschnitten worden. Der Stoff war schwarz-weiß gestreift. »Sieht aus, als stammte das Stück von einem Hemd«, sagte ich. »Es war auch in dem Umschlag«, erklärte Havens. »Ich glaube, man kann darauf sogar noch einen Blutfleck erkennen.« Sarah hatte mir das Stoffstück abgenommen. Bei dem Wort »Blutfleck« ließ sie es fallen. »Wenn man mich fragt«, fuhr Havens fort, »wurde das Stückchen aus dem Hemd des Opfers herausgeschnitten.« »Woher wollen Sie wissen, was das Opfer trug?«, fragte Z. Havens legte eine Hand auf die Akte. »Fall Nummer 98-2425. Der Name des Opfers war Skylar Wingate. Laut Polizeibericht trug er ein schwarz-weiß gestreiftes Baumwollhemd. Scheint mir zu dem Stück da zu passen.« Z seufzte, als hätte sie all das schon mal gehört. »Offenbar übersehen Sie einige Fakten, Mr Havens.« »Erinnern Sie sich an den Fall?«, fragte ich sie. »Er hat damals ziemliches Aufsehen erregt.« »Und was hat er übersehen?«, wollte Sarah wissen. »Soweit ich weiß, wurde von dem Blut an der Jeans, die James Harrison bei seiner Festnahme trug, eine DNA-Analyse gemacht. Das Ergebnis zeigte eine hundertprozentige Übereinstimmung mit dem Blut des Opfers.« Sarah und ich drehten uns zu Havens um. »Der DNA-Test wurde nach dem Urteilsspruch gemacht«, sagte er. »Harrison hat ihn angefordert und selbst dafür gezahlt.« »Wieso ist das wichtig?«, fragte Sarah. »Warum zahlt ein Typ, der in Berufung gehen will, für eine DNA-Analyse, die jeden Zweifel an seiner Schuld beseitigt?«, entgegnete Havens. »Aus Verzweiflung«, sagte Z. »Wenn man nur genügend solche Geschichten kennt, wundert einen überhaupt nichts mehr.« Ich nahm den Stofffetzen wieder auf. »Ob das Hemd noch unter dem Beweismaterial ist?« »Wozu sollte man so etwas aufheben?«, fragte Sarah. »Wenn der Typ doch im Gefängnis umgebracht worden ist.« Wir sahen Z an, die konzentriert nachzudenken schien. Schließlich schrieb sie etwas auf ihren Block, riss die Seite ab und reichte sie Havens. »Wenn ein Fall abgeschlossen ist, werden die Prozessunterlagen und das Beweismaterial an das Bezirksgericht überstellt, in unserem Fall ist es das Gericht von Cook County. Die Prozessunterlagen werden in einem Nebengebäude in eine Datei aufgenommen, das Beweismaterial kommt in ein Lager. Ich habe Ihnen die beiden Adressen und einige Namen aufgeschrieben. Ich bezweifle zwar, dass in diesem Fall noch Beweisstücke vorhanden sind, aber wenn, dann finden Sie sie dort.« »Werden sie uns einfach hereinlassen?«, fragte Havens. »Ich meine, wenn wir ihnen sagen, dass wir von der Medill kommen.« »Ich befürchte kaum. Ich rufe heute Nachmittag an. Wenn es doch klappt, schicke ich Ihnen eine E-Mail. In dem Fall fahren Sie alle dorthin und schauen, was Sie über das Hemd herausfinden können. Wenn Sie mir bei unserem nächsten Treffen etwas Greifbares vorweisen können, etwas, mit dem sich das DNA-Ergebnis aushebeln lässt, fein. Wenn nicht, ist die Sache erledigt, und wir machen weiter. Ist das ein faires Angebot?« Wir sahen uns an und nickten. Z steckte den Brief und den Stofffetzen wieder in den grauen Umschlag und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hoch. »Das hier bleibt bei mir. Hat sonst jemand noch etwas, das er uns zeigen möchte? Eine Weihnachtskarte von John Wayne Gacy? Oder den Büstenhalter und die Unterhose von Richard Speck? Nein? Gut. Wenn Mr Havens nichts dagegen hat, würde ich jetzt gern zehn Minuten Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen, um über die anderen fünfhundert Fälle zu sprechen, die wir zurzeit hier in der Medill bearbeiten.« (...) Skylar Wingate wurde lebend zuletzt von seinem älteren Bruder Bobby gesehen. Er berichtete der Polizei, dass Skylar die Grundschule von St Augustin, im Nordwesten der Stadt, gegen 15.45 Uhr verlassen habe und über die Lemont Avenue nach Süden gegangen sei. Skylar war auf dem Weg nach Hause, eine Strecke von einer knappen Meile. Als er dort zur gewohnten Zeit nicht erschien, nahm seine Mutter an, dass ihr Jüngster den Nachmittag zusammen mit seinem älteren Bruder verbrachte, und machte sich erst Sorgen, als Bobby kurz nach 18 Uhr allein nach Hause kam. Fünfzig Polizisten aus Chicago befragten die Nachbarn und durchkämmten die rein weiße Wohngegend bis weit nach Mitternacht. Skylar wurde als ein Meter fünfundzwanzig großer Junge beschrieben, Gewicht neunundsechzig Pfund, mit grauer Hose und schwarz-weiß gestreiftem Hemd. Die letzte Angabe hatte Havens unterstrichen. Polizeiliche Ermittler befragten Skylars Familie und Freunde in den ersten Stunden nach dem Verschwinden des Jungen und kamen zu keinem Ergebnis. Nach einem Zeitungsbericht der Tribune wurde Skylars Leiche drei Tage später von einem Wanderer im Naturschutzgebiet von Cook County gefunden, eine Meile von seinem Elternhaus entfernt. Tiere hatten die Leiche ausgegraben. Die erste Autopsie ergab, dass auf den Jungen mehrfach eingestochen worden war. Zudem hatte man ihn gewürgt und schließlich ertränkt, bevor er verscharrt wurde. Als Havens mit unseren frischen Bieren zurückkehrte, hörte ich auf zu lesen. »Na?«, fragte er. »Ich habe einige Artikel und den Polizeibericht überflogen.« »Hast du die Beschreibung des Hemds gesehen?« Ich nickte. »Der Fall hat damals großes Aufsehen erregt«, sagte Havens. »Erinnerst du dich noch daran?« »Zu der Zeit war ich acht Jahre alt.« »Ja und? Ein weißer Junge aus einer guten Gegend, der auf eine katholische Schule geht. So etwas führt bei der Polizei zu hohem Druck, jemanden festzunehmen.« Havens schaute aus dem Fenster und dann auf seine Uhr. »Verdammt, ich muss los.« »Und was ist mit dem Bier?« Havens setzte sein Glas an, trank es zur Hälfte aus und stand auf. »Bis morgen, Joyce.« Ich sah ihm nach, wie er durch die Tür ging und über die Sherman verschwand. Inzwischen war das Pub brechend voll. Nicht weit von mir entfernt standen vier Frauen, die darauf warteten, dass ich mich aus der Sitzecke verzog. Ich trank einen Schluck Bier, aber es machte mir keinen Spaß mehr. Ich stand auf, lächelte die Frauen an und überließ ihnen ihre heiß ersehnten Plätze. Eine von ihnen erwiderte mein Lächeln sogar. Die drei anderen drängten sich an mir vorbei, riefen nach der Kellnerin und rückten sich auf den Sitzen zurecht. Draußen vor dem Nevins blinzelte ich im Licht der untergehenden Sonne. Es war kurz nach fünf. Die Dunkelheit würde sich erst in drei Stunden über den Michigansee senken. Ich lief die Straße hinunter und dachte an Jake Havens. Unter einer Überführung hörte ich plötzlich ein Hupen. Sarah saß am Steuer eines schwarzen Audi und winkte mich aufgeregt zu sich. »Steig ein!«, rief sie. Wortlos kletterte ich auf den Beifahrersitz. »Zieh deinen Kopf ein.« Sie duckte sich. Ich tat das Gleiche. Ein Wagen rauschte an uns vorüber. Sarah richtete sich wieder auf und fuhr an. »Und wozu war das gut?«, erkundigte ich mich. »Wir folgen ihm.« Sarah fädelte sich in den Verkehr ein. »Wem?« Sie zeigte auf einen silberfarbenen Honda, der drei Wagen vor uns fuhr. »Havens.« »Warum?« Ich fand, es war eine großartige Idee, wusste aber nicht, weshalb. »Er hat etwas vor. Und er hat alle Karten in der Hand.« »Was für Karten?« »Na, alle. Nur wenn es ihm passt, rückt er mit ein paar Informationen heraus. Er hat sogar Zombrowski herumkommandiert.« »Und was bringt es uns, wenn wir ihm folgen?« »Wir bekommen die Oberhand.« Sarahs Mundwinkel hob sich zu einem Grinsen. »Und was ist daran so lustig?« »Nichts.« Von der Sherman bog sie rechts in die Dempster Avenue ab. »Findest du es keine gute Idee, ihm zu folgen?« »Ich finde, es ist eine fabelhafte Idee.« »Jetzt bist du sarkastisch.« »Bin ich nicht.« »Interessiert er dich denn gar nicht?« »Nicht so wie dich.« »Was willst du damit sagen?« »Nichts.« Sie sah mich von der Seite an. »Es klang aber nach was.« Ich zeigte auf den dichten Verkehr vor uns. »Was glaubst du, wohin er fährt?« »Sag mir, wie du das gemeint hast.« »Wann?« »Na, gerade.« »Er mag dich, Sarah.« »Das denkst du also.« »Ja, das denke ich. Pass auf, wo du hinfährst.« Sarah konzentrierte sich wieder auf die Straße. »Er mag mich nicht. Außerdem ist er nicht mein Typ.« »Vielleicht bist du nur sauer, weil er deinen Freund zerlegt hat.« »Kyle ist nicht mein Freund. Er hat das bekommen, was er verdient hat.« Eine Weile fuhren wir schweigend weiter. Ich wusste nicht, was ich sonst noch sagen sollte. Havens stand auf Sarah, und das würde mir auch niemand ausreden können. Wie konnte es denn auch anders sein? Würde es nicht jedem so gehen? Dass sie es nicht merkte, hatte nichts zu bedeuten. Dafür war ich der lebende Beweis. »Was machen wir, wenn er uns erwischt?«, fragte ich. »Wir sagen ihm die Wahrheit.« »Und die wäre?« »Dass wir ihn merkwürdig finden. Und wissen möchten, was er vorhat.« »Das wird bestimmt gut ankommen.« Vor uns schaltete die Ampel auf Rot. Havens' Honda war nur noch zwei Wagen vor uns. Ich fragte mich, ob Sarah schon einmal jemanden verfolgt hatte. Alles in allem machte sie ihre Sache recht gut. Auf dem McCormick Boulevard bogen wir links ab und fuhren auf der Devon weiter in Richtung Westen. Ich beugte mich vor. »Er fährt zum Naturschutzgebiet.« »Wohin?« »In den Wald. Dahin, wo der Junge vergraben wurde.« Sarah hatte den Polizeibericht nicht gelesen, oder wenn, dann nicht sorgfältig genug, um zu wissen, wovon ich redete. Ich erklärte es ihr. »Skylar Wingate. Der Junge, den James Harrison ermordet hat. In dem Wald dahinten wurde er gefunden.« Ein Wegweiser mit der Aufschrift »Naturschutzgebiet Caldwell-Forst« huschte an uns vorüber. Vor uns setzte Havens seinen Blinker. »Er nimmt einen Seiteneingang«, sagte ich. »Ich glaube, da befindet sich ein kleiner Parkplatz.« »Was sollen wir jetzt tun?« »Rechts abbiegen.« Wir erreichten ein Wohngebiet mit einem Gewirr kleiner Straßen und parkten den Wagen. »Komm«, sagte ich. »Sonst verlieren wir ihn.« Wir liefen zurück, überquerten die Caldwell Avenue und blieben am Eingang zum Naturschutzgebiet stehen. Ich hörte, dass eine Autotür zugeschlagen wurde, und wartete noch einen Moment. Dann gab ich Sarah ein Zeichen, und wir marschierten los. Havens hatte sich auf den Weg gemacht und ging einen Pfad hinunter. Wir folgten ihm. Das Sonnenlicht fiel in blassen Streifen durch das Laub der Wipfel auf den Trampelpfad. Sarah lief mit federndem Schritt, ich trottete neben ihr her. »Was sollen wir sagen, wenn er uns sieht?«, fragte sie. »Keine Ahnung. Das Ganze war deine Idee.« Etwa hundert Meter vor uns verschwand Havens um eine Wegbiegung. »Glaubst du, er führt uns zum Tatort?«, sagte Sarah. »Ist anzunehmen. Wir sollten den Pfad lieber verlassen.« Ich entdeckte eine Lücke zwischen den Bäumen und trat in ihren Schatten. In der Nacht zuvor hatte es geregnet, der Boden war noch feucht. In der Luft hing der Geruch von satter Erde, faulendem Holz und etwas Metallischem, das vom Fluss her kam. »Warst du schon mal hier?« Sarah war so dicht hinter mir, dass ich die feste Rundung ihrer Brüste im Rücken spürte. »Ja.« »Wozu?« »Im Wald gibt es gute Laufstrecken. Manchmal komme ich auch mit dem Fahrrad her. Und jetzt bleib dicht hinter mir, und sei still.« Sobald meine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, begann ich, mich schneller durch die Baumreihen zu bewegen. Sarah hatte Schwierigkeiten, mit mir Schritt zu halten. Nach ungefähr hundert Metern blieb ich stehen und wartete. »Mann«, sagte Sarah, als sie schließlich zu mir aufholte. »Ich glaube, ich bin in jeden Dornbusch gerannt.« Ich nickte zu dem schwachen Licht zu unserer Linken hinüber. »Wenn ich die Karte richtig im Kopf habe, liegt der Pfad da drüben, nahe dem Fluss.« »Und der Tatort?« »Ich bin sicher, Havens führt uns zum Grab.« Das Wort »Grab« schien die Luft zwischen uns aufzusaugen. Sarah wich die Farbe aus dem Gesicht. Sie war wieder Kind, ein Kind, das in ein schwarzes Loch der Angst gefallen war, aus dem es zu mir hochsah. Ich trat auf sie zu, und für einen flüchtigen Moment war ich Teil ihrer Welt. »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. »Er wird uns nicht bemerken. Und wenn doch, ist es auch egal.« »Geh du voran.« Wir setzten unseren Weg fort. Nach fünfzig Metern blieb ich stehen. Vor uns war ein scharrendes Geräusch. Sarah schien es nicht zu hören. Ich zeigte nach vorn. »Zwischen den Bäumen ist jemand. Ich werde das mal checken. Du gehst zurück zum Pfad und folgst ihm, bis du mich siehst.« Sarah schien der Vorschlag zu gefallen, besonders die Sache mit dem Pfad. Als sie verschwunden war, setzte ich mich an einen Baum und versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Das Scharren war noch immer da, leise und beständig. Vermutlich jemand, der in der Erde grub. Ich ließ mich weich werden. Schmelzen. Als ich gelöst und geschmeidig war, kam ich langsam hoch. Vor mir lag eine Senke. Ich bahnte mir einen Weg durch das Unterholz. Lautlos. Ich hatte mich immer gut im Wald zurechtgefunden. Schon als Kind. Ich wusste nicht, warum, aber in irgendetwas war ja jeder gut. Dann sah ich einen Lichtschimmer, blieb stehen und lauschte. Das Scharren hatte aufgehört. Es wurde nicht mehr gegraben. Außer dem Zirpen der Grillen war nichts zu hören. Plötzlich raschelte es in dem Gestrüpp zu meiner Linken. Ein Grunzen, dann ein Schrei. Der Schrei einer Frau. Sarah.