Buch, Deutsch, 329 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 214 mm, Gewicht: 423 g
Über das Verhältnis von Markt, Moral und Konsum
Buch, Deutsch, 329 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 214 mm, Gewicht: 423 g
ISBN: 978-3-593-39537-1
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre Allgemein Wirtschaftstheorie, Wirtschaftsphilosophie
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre Allgemein Verhaltensökonomik
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Wirtschaftssoziologie, Arbeitssoziologie, Organisationssoziologie
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Volkswirtschaftslehre Allgemein Makroökonomie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Umwelt-, Konsum- und Werbepsychologie
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort 7
Einleitung - Der Konsument zwischen Markt und Moral 9
I. Grundlagen der Konsumentenverantwortung
Das Prinzip der Konsumentenverantwortung - Grundlagen, Bedingungen und Umsetzungen verantwortlichen Konsums
Ludger Heidbrink und Imke Schmidt 25
Unternehmerische Verantwortung und die Rolle der Konsumenten
Michael S. Aßländer 57
Verbraucherrechte und Verbraucherverantwortung für nachhaltigen Konsum
Ulf Schrader 75
Verbraucherdemokratie: Ein Zwischenbericht zur Politik der Konsumgesellschaft
Jörn Lamla 93
II. Kontexte und Strategien verantwortlichen Konsums
Über die Verwechslung von Kauf und Konsum: Paradoxien der spätmodernen Konsumkultur
Hartmut Rosa 115
Konsumverhalten im Spannungsfeld konkurrierender Interessen und Ansprüche: Lebensstile als Moderatoren des Konsums
Silke Kleinhückelkotten 133
Konsumentenverantwortung durch Produkttransparenz? Über Geschmacksbildung und Konsumstiländerungen
Birger P. Priddat 157
Mentale und soziale Infrastrukturen - Voraussetzungen verantwortungsvollen Konsums im Kontext der Nachhaltigkeit
Michael Fischer und Bernd Sommer 183
Kooperative Unternehmen und verantwortungsvoller Konsum - Herausforderungen der modernen Organisations- und Wissensgesellschaft
Holger Backhaus-Maul, Peter Friedrich und Martin Kunze 203
III. Chancen und Grenzen der Konsumentenverantwortung
Kann der Konsumwandel gelingen? Chancen und Grenzen einer verhaltensökonomisch basierten sozialen Regulierung
Lucia A. Reisch und Kornelia Hagen 221
Soziale Milieus und Konsum: Die Moralisierung der Märkte und ihre Kritik
Marian Adolf und Nico Stehr 245
Der Eigensinn der Konsumenten ? Zur Frage der Verantwortung bei der Zurechnung von Konsumentenverantwortung
Kai-Uwe Hellmann 269
Adiós Konsumwohlstand: Vom Desaster der Nachhaltigkeitskommunikation und den Möglichkeiten der Suffizienz
Niko Paech 285
Jenseits des Konsums ?- Die Tätigkeitsgesellschaft als nachhaltige Perspektive
Reinhard Pfriem 305
Autorinnen und Autoren 325
In den vergangenen Jahren ist ein wachsendes Interesse von Verbrauchern an gesellschaftlich verantwortlichen Formen des Konsums zu verzeichnen. Die Nachfrage nach Produkten mit - zumindest vermeintlich - moralischem Mehrwert nimmt zu, während Unternehmen versuchen, dieser Entwicklung mit ihrer Marktpolitik Rechnung zu tragen, sodass das Angebot an scheinbar nachhaltigen Produkten und sozial verträglichen Dienstleistungen insgesamt wächst. Mit dieser Entwicklung stellt sich aber auch die Frage, inwieweit der Kauf von Elektromobilen oder Äpfeln aus der Region tatsächlich einen nachhaltigen Konsumakt darstellt und wie ernst es dem Verbraucher mit seinem Interesse für umweltfreundliche Autos oder fair gehandelten Kaffee in Wirklichkeit ist.
Der Konsum in einer hoch industrialisierten und global vernetzten Marktgesellschaft ist eine äußerst voraussetzungsreiche und folgenreiche Tätigkeit. Tagtäglich werden in Supermärkten, an Tankstellen, in Büros und im Internet Millionen Konsumentscheidungen gefällt, die weltweite Auswirkungen auf Arbeitsbedingungen, den Verbrauch von Ressourcen und das Angebot von Waren haben. Konsumenten haben einen bedeutenden und häufig unterschätzten Einfluss auf die Dynamik von Marktprozessen, weshalb sie aus Sicht der neoklassischen Ökonomik als die "wirklichen ›Herren‹ im marktwirtschaftlichen System" (von Mises 2008: 43f.) gelten. Gleichwohl bestehen eine große Unklarheit und Uneinigkeit darüber, welche speziellen Motive den Konsumakten zugrunde liegen und welche besonderen sozialen und ökologischen Folgen die konsumtorischen Einzelentscheidungen in ihrem ungeregelten Zusammenwirken erzeugen.
Diese Unklarheit und Uneinigkeit bestehen nicht nur auf Seiten der Konsumforschung und insbesondere der Konsumentenethik, sondern auch bei den Verbrauchern selbst. So zeigen Umfragen und empirische Untersuchungen in regelmäßigen Abständen, dass zwar über die Hälfte der Verbraucher von sich behauptet, an sozialen und ökologischen Standards von Gütern und Dienstleistungen interessiert zu sein (vgl. Borgstedt u.a. 2010), letztlich aber nur etwa 10 Prozent ihre Einstellungen in die Praxis umsetzen (vgl. UBA 2009). Die Kluft zwischen Einstellungen und Handeln - der sogenannte Mind Behaviour Gap - legt nicht nur eine gehörige Skepsis gegenüber einer expandierenden Nachhaltigkeitsrhetorik im Konsumbereich nahe, die bisweilen den Eindruck entstehen lässt, durch den Verzehr von Bio-Produkten und den Umstieg auf Öko-Strom lasse sich der Planet Erde kurieren (vgl. Hartmann 2010). Die scheinbare Kluft zwischen Einstellungen und Handeln führt auch zu der Frage, welchen Einfluss der Verbraucher auf Marktprozesse und ihre politischen Kontexte tatsächlich ausüben kann und worin die spezifischen Voraussetzungen für verantwortliche Praktiken des Konsums bestehen.
Konsumkritik und das fehlende Vertrauen gegenüber
dem Verbraucher
Die unklare und widersprüchliche Rolle, die der Konsument zwischen moralischer Selbsteinschätzung und marktorientierten Verhaltensweisen einnimmt, spiegelt sich in einer langen Tradition der Konsumkritik wider. In dieser Tradition, die sich quer durch linke und rechte Positionen der politischen Ökonomie, Kulturphilosophie und Gesellschaftstheorie hindurchzieht, finden sich vor allem drei Haupteinwände gegen die Konsumgesellschaft und die moralisch-politische Rolle des Konsumenten wieder (vgl. auch König 2008: 270ff.).
Danach hat - zum ersten - der industrielle Massenkonsum zu einer zivilisatorischen Degeneration des Menschen geführt, der durch seine Abhängigkeit von materiellen Formen der Bedürfnisbefriedigung die ökonomische Anspruchs- und Wachstumsspirale immer höher treibt (Konsumkritik als Kultur- und Wachstumskritik). Durch die Herrschaft des Marktkapitalismus - so der zweite Einwand - ist der Konsument zu einem Opfer intriganter Marketingstrategien und zum Spielball unternehmerischer Machtinteressen geworden, wodurch jede Form politischer Autonomie und zivilgesellschaftlicher Partizipation im Keim erstickt wird (Konsumkritik als Herrschafts- und Machtkritik). Schließlich - so der dritte Einwand - sorgt der ungehemmte Wohlstandskonsum für eine Externalisierung von sozialen und ökologischen Kosten in Gestalt von ungleichen Einkommensverteilungen und einer fortschreitenden Umweltzerstörung, die zu illegitimen Benachteiligungen in Entwicklungsländern und ungerechtfertigten Belastungen zukünftiger Generationen führen (Konsumkritik als Sozial- und Umweltkritik).
Diese konsumkritischen Einwände haben zur Konsequenz, dass bis heute dem Verbraucher bei der Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen und der politischen Einflussnahme auf Marktprozesse wenig zugetraut wird. So wie schon 1955 der Soziologe Arnold Gehlen in der "folgenlosen Erlebnisanreicherung" (1978: 6) den unpolitischen Charakter des Konsums ausmachte und der Philosoph Jürgen Habermas 1962 das scheinbar politische Interesse der Konsumenten auf "das falsche Bewußtsein" zurückführte, "daß sie als räsonnierende Privatleute verantwortlich an öffentlicher Meinung mitwirken" (1990: 291), herrscht bis in die Gegenwart die Ansicht vor, dass der Alltagskonsum keine messbare Wirkung auf den nachhaltigen Umbau der Industriegesellschaft ausübt, wenn nicht sogar kontraproduktive Effekte hervorruft.
Entsprechend hat auch das bekannte Diktum von Helmut Schelsky über die "politische Ohnmacht des Verbrauchers" (1974) in den jüngsten Diskussionen um die Privatisierung des nachhaltigen Konsums eine Renaissance erlebt. Ähnlich wie Schelsky die Schwierigkeiten darin ausgemacht hatte, dass Konsumenten im Unterschied zu Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden eine organisierte Vertretung fehlt, weswegen sie auf dem "Gruppenmarkt der politischen Interessen und Macht" (1978: 79) unterrepräsentiert seien, wird heute dem Verbraucher vorgeworfen, sich mit dem gelegentlichen Kauf von sozial oder ökologisch verträglichen Produkten zufrieden zu geben, anstatt "die politische Dimension individuellen Handelns" in den Vordergrund zu stellen und durch "bürgerschaftliches Engagement" dazu beizutragen, dass "nachhaltigkeitsfeindliche Rahmenbedingungen oder Anreizstrukturen" (Grunwald 2010: 181) geändert werden.
Verbraucher, so ließe sich die aktuelle Kritik am strategischen Konsum zusammenfassen, überschätzen nicht nur die positiven Wirkungen ihrer Bemühungen um einen nachhaltigen Lebensstil, sondern unterschätzen auch die Notwendigkeit weitreichender politischer Veränderungen, die diese Bemühungen begleiten und lenken müssen. Das Problem besteht nach Ansicht der Kritiker darin, dass bei rein privaten nachhaltigen Konsumakten die staatlichen Rahmenordnungen und globalen Marktstrukturen unangetastet bleiben, die für eine unveränderte Wachstumspolitik, einen fortgesetzten Verbrauch endlicher Ressourcen und damit eine ungebremste Belastung der Umwelt sowie die Fortschreibung ungleicher Wohlstandsverhältnisse sorgen (vgl. Geden 2009).
Stellt der nachhaltige Konsum somit nur einen symbolischen Akt der Lebensstiländerung dar, der in erster Linie der persönlichen Gewissensberuhigung dient, wodurch an die Stelle des moralischen Konsums ein mehr oder weniger wirkungsloser Konsum der Moral tritt (vgl. Ullrich 2007)? Wird die destruktive Dynamik des Massenkonsums womöglich noch dadurch verstärkt, dass sich die Käufer nachhaltiger Produkte mit dem Fairtrade- oder Öko-Label zufrieden geben, ohne sich um die politischen Ursachen von Menschenrechtsverletzungen in den Herstellungsländern oder die Hintergründe des Zertifikathandels an der europäischen Strombörse zu kümmern? Ist eine "Politik mit dem Einkaufswagen" (Baringhorst u.a. 2007) überhaupt möglich, wenn die Mehrzahl der Verbraucher weiterhin einer infantilen und hedonistischen Bedürfnisbefriedigung frönt (so Barber 2007: 86ff.) und auf den Anlage- und Einkaufsmärkten weiterhin nach möglichst hohen Renditen und niedrigen Preisen strebt (vgl. Reich 2008: 119ff.)?