Heidenreich | Ich erinnere mich noch | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 146 Seiten

Heidenreich Ich erinnere mich noch

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8353-4978-0
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 146 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4978-0
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dorelas Affäre mit Antoine ist so unbeschwert wie das Studentendasein in Fribourg. Doch der plötzliche Tod des Onkels Durs gibt Rätsel auf: Seine Beschäftigung mit den Indianern war ihm offenbar zur Obsession geworden. Warum hat er sich zu Tode gestürzt? Und warum verschwindet Antoine plötzlich?

An einem nasskalten Septembermorgen macht sich Dorela in Graubünden auf den Weg zurück an ihren Studienort Fribourg. Plötzlich vernimmt sie ein Geräusch: Ruft da jemand nach Hilfe? Einige Tage später erfährt Dorela vom Tod ihres Onkels Durs. Dorela ist verliebt und möchte ihr Studentenleben mit Antoine genießen. Doch gemeinsam mit ihrer Mutter reist sie nach Berlin, wo ihr Onkel für die Schweizer Vertretung tätig war. Das Chaos in seiner Wohnung löst Entsetzen aus: Zahllose auf dem Boden verteilte Dokumente, Aufzeichnungen und Notizen lassen vermuten, dass sich Durs völlig in der Besiedlungsgeschichte Nordamerikas verloren hat. Hatte sich der Onkel womöglich in den Wunsch verstiegen, Indianer zu werden? Wonach hatte er gesucht? Und was hat es mit dem mysteriösen, im Keller gegrabenen Loch auf sich? Hinweise lassen Dorela vermuten, dass auch sie Teil dieser Geschichte ist. Ein Netz rätselhafter Bezüge verbindet die Geschichte ihres Onkels mir ihrem eigenen Leben, mit Antoine und den Orten, an die sie reist. In Südfrankreich, Paris, Venedig und New York fügen sich ihre Erinnerungen zu einem Bild.

Anhand detailreicher Beschreibungen der Ereignisse und Orte zieht Felix Heidenreich den Leser seines Debütromans wie durch einen Sog mit hinein in seine Geschichte.

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II.
Es war fünfzehn Jahre später, im Herbst 1999, als Antoine Guérin plötzlich wieder in mein Leben trat, ganz unerwartet und wie durch eine Tapetentür hineinplatzend in ein Leben, das längst klare Formen angenommen hatte. Ich war mit einer Abschlussklasse auf Studienfahrt in Paris, keine leichte Aufgabe, auch wenn meine 15 Schülerinnen und zwei Schüler sich alles in allem vernünftig benahmen und nicht über die Stränge schlugen. Der Himmel strahlte blau über den hellen Häusern der Stadt. Wir hatten gerade die Kathedrale Notre-Dame besichtigt und waren über die Brücke zur Place Saint-Michel geschlendert, wo die Bouqinisten gelangweilt ihre Auslagen anboten. Ihr Anblick führte dazu, dass mich eine leichte Melancholie anwehte, denn die geöffneten Holzkisten wirkten wie bloße Requisiten einer für Touristen orchestrierten Inszenierung. Schon seit den achtziger Jahren konnte man in Paris das Gefühl bekommen, durch einen amerikanischen Theme Park zu laufen, in dem sich nur selten die Spuren einer untergegangenen Welt fanden wie verstreute Ruinen im Sand. Ich versuchte mit meiner Kollegin, die Schülerschar im Auge zu behalten, doch mein Blick wanderte immer wieder zu den Fenstern in den obersten Stockwerken der wunderschönen Häuser. Dort wohnen zu dürfen, morgens auf die Seine zu blicken, in einer Stadt voller Buchläden und Kinos, müsste herrlich sein. Oder würde ich mich irgendwann vor dem Theme Park ekeln? An der Place Saint-Michel wollten wir die Straße überqueren und warteten darauf, dass die Ampel grün würde, als ich in einer der großen Verkaufskisten des Buchladens Gibert Jeune eine alte Taschenbuchausgabe von Stendhal sah. Es war dieselbe Ausgabe, die ich mir im Studium gekauft hatte, und ohne nachzudenken, griff ich in die Kiste und schlug das Buch auf. Da sah ich, wer es besessen und als sein Eigentum gekennzeichnet hatte: Antoine Guérin, eindeutig seine Handschrift.   Ich war wie vom Blitz getroffen, schockiert über diesen Zufall, der uns beide nach so vielen Jahren wieder in Verbindung brachte. Ich ließ meine Schülergruppe warten und bezahlte die fünf Francs, die für die leicht vergilbte Ausgabe verlangt wurden. Mein Herz schlug schneller, denn der Zufall kam mir so unerträglich unwahrscheinlich vor, dass sich mir der Gedanke einbrannte, mit dieser Koinzidenz müsse es eine höhere Bewandtnis haben. Verwirrt folgte ich der Gruppe, die von meiner Kollegin durch die Rue Danton Richtung Odéon gewiesen wurde. Es war später Nachmittag und die Straßen füllten sich langsam mit den Studenten, die aus der medizinischen Fakultät in großen Gruppen hinausströmten. Ich musste mich zwingen, das Buch und Antoine zu vergessen, denn es galt, niemanden zu verlieren. An der Place de l’Odéon zählten wir noch einmal durch und gingen dann weiter Richtung Jardin du Luxembourg. Mein Blick fuhr wie in Trance über die Häuserfassaden, als wir auf der Place Saint-Sulpice standen, denn immer wieder musste ich an Antoine denken. Als wir im Jardin du Luxembourg an den Tennisplätzen vorbeikamen, versuchte ich mich zu erinnern, worum es in diesem Roman Stendhals, der nun in meiner Tasche steckte, eigentlich ging. Nur langsam setzten sich in meinem Bewusstsein die Teile zu einem Bild zusammen, und vor meinem inneren Auge erwachte die Romanfigur des Julien Sorel zu neuem Leben. Dieser Julien, so hatte man uns damals erklärt, versuchte zunächst innerhalb der katholischen Kirche und schließlich über das Militär einen Weg in die besseren Kreise zu finden, ja einen atemberaubenden sozialen Aufstieg hinzulegen, getrieben von nichts als zynischem Ehrgeiz. Einige in unserer Gruppe hatten sich mit belegten Baguettes versorgt und auf den für den Jardin du Luxembourg so typischen grünen Eisenstühlen gruppiert, während ich mich zu erinnern versuchte, was genau Antoine damals an Stendhal so gestört hatte. Die Schülerinnen – es waren fast alles Mädchen, die den Oberstufenkurs Französisch belegten – blickten kauend auf die Tennisspieler, die hier, mitten in einer Millionenmetropole, seelenruhig Sport trieben. Wie in einem Zoo betrachteten wir die hinter einem banalen Maschendrahtzaun mit ihren Schlägern auf die Bälle dreschenden Vertreter der Pariser Oberschicht. Ein älterer Mann hob gerade einen Ball, als würde er eine gelbe, exotische Frucht vom Boden pflücken, da trafen sich unsere Blicke. Für einen kurzen Moment dachte ich, es könne sich um Antoines Vater handeln, doch sein durchdringender Blick galt wohl nur unserem groben Verhalten, dem schamlosen Blick auf das Tennisspiel, das dort noch in weißer Kleidung gespielt wurde. Ich griff in meine Manteltasche und zog das Buch heraus; staunend strich ich mit dem Finger über die blaue Schrift. Durch wie viele Hände mochte dieses Buch gegangen sein? Hatte Antoine selbst es hier in Paris verkauft? Mir war, als spürte ich eine unterirdische Resonanz, als würden unsere beiden Leben erneut verknüpft durch dieses Buch. Da kam leichter Wind auf und wehte die braunen Blätter der Platanen über den Kies.   Als wir am nächsten Morgen in aller Frühe am Gare de l’Est im TGV Platz nahmen, blickte ich hinüber zu meinem Koffer, in dem Stendhal wie ein geheimer Schatz verstaut war. Die Durchsage, die unsere Zwischenstationen auf dem Weg nach Basel ankündigte, erfolgte in einem strengen Französisch und endete mit der merkwürdigen Formulierung nous sommes à votre disposition. Dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung und nahm, als wir die tristen Vororte durchfuhren, in denen die Häuserwände über und über mit Satellitenschüsseln gepflastert waren, langsam an Fahrt auf. Irgendwann kamen wir nur noch an kleineren, beengt wirkenden Häusern vorbei, die am Rande der Metropole immer weniger wurden, bis wir schließlich die agglomération verlassen hatten und auf grüne Ebenen blickten. Die ganze Fahrt über musste ich an Antoine denken, an unsere Reise in den Süden. Hatte Lourmarin ihm überhaupt nichts bedeutet? Warum nur hatte er mich, uns alle, in Fribourg verlassen, ohne sich auch nur zu verabschieden? Wo war er jetzt? Ich spielte mit dem Gedanken, mich auf die Suche nach Antoine zu machen, als langsam das Sonnenlicht über den weiten Feldern der Champagne heller wurde. Damals verkehrten die Züge noch nicht so schnell, sodass man tatsächlich durch Troies, Belfort, Mulhouse fuhr. Im Ersten Weltkrieg waren diese Felder die Orte der größten Zerstörung, eines unfassbaren massenhaften Tötens. Hier war der deutsche Angriff ins Stocken geraten, und die Soldaten hatten, zunächst improvisiert und dann immer systematischer, begonnen, Gräben auszuheben. Von all dem war nichts mehr zu sehen, mein Blick flog frei über morgendliche Wiesen und Felder, die bis zum Horizont reichten. Mir als Schweizerin war dieses Europa des Krieges und der Zerstörung immer fremd und fern erschienen, ganz so, als wären die Deutschen von einem Wahn befallen worden, den man als Schweizerin nur mit Entsetzen beobachten konnte. Ich erinnerte mich, dass uns im Geschichtsunterricht eine kollektive Beklemmung durchfuhr, als wir von den Verbrechen hörten, die beinahe überall um uns herum, außerhalb der eidgenössischen Grenzen, »da draußen« begangen worden waren. Zu vielen Ortsnamen fielen mir nur die Schandtaten ein, die dort verübt worden waren, die niedergebrannte Bibliothek von Löwen, die Zerstörung der Kathedrale von Reims, der Luftangriff auf das baskische Guernica, das Massaker von Oradour-sur-Glane, die Ermordung von Zivilisten auf Kefalonia, die Belagerung Leningrads. Viele weitere schreckliche Taten waren damit noch nicht genannt. Der ganze Kontinent war überzogen mit diesen Orten, von West nach Ost, von Nord nach Süd. War es dieses Europa, dieses »Reich«, dem Antoine hatte entfliehen wollen? Damals, in Lourmarin, so wurde mir klar, war etwas geschehen, nach dem ich mich zurücksehnte. Ich war mir sicher, eine tiefe Verbindung zu spüren, eine Nähe, die sich schwer in Worte fassen ließ. Dass die Idee der Seelenverwandtschaft eine Erfindung der Romantik ist, zeitgebunden, eine bloße Einbildung, hatte man uns im Studium zur Genüge erklärt. Die Phrase love is a bourgeois construct war sogar eine Art running gag geworden, der immer dann scherzhaft ausgesprochen wurde, wenn sich irgendwelche Romanzen anbahnten. Und doch hatte ich damals in Lourmarin ein Gefühl von Seelenverwandtschaft empfunden, dachte ich, als ich verträumt aus dem Fenster des TGV blickte. War es ein Zufall, dass wir nun durch Stendhal wieder in Verbindung traten?   Mit ihm, Stendhal, hatte es angefangen, damals im Schwimmbad in Fribourg. Immer noch konnte ich die Zeit in Fribourg nicht loslassen. Nach Antoines Verschwinden hatte sich meine Krise verschärft, damals, im Herbst 1985. Ich konnte sein Verhalten nicht begreifen, und es dauerte Wochen, ja Monate, bis der Schmerz langsam nachließ. Mein Studium schloss ich so schnell wie möglich ab, quälte mich durch die letzten Referate und Hausarbeiten, meldete mich zur Prüfung an und überstand auch diese mehr schlecht als recht. Als mein Vater mich am Ende des Sommersemesters mit unserem alten Subaru Forester abholte, hatte ich bereits viele Ordner und Studienaufzeichnungen entsorgt. Nur der Ordner, den ich für Dr. Duvals Seminar angelegt hatte, wanderte in die Umzugskisten mit all den Kopien über das Friaulische und Ladinische. Während mein Blick über die weiten Felder Lothringens schweifte, erinnerte ich mich an...


Heidenreich, Felix
Felix Heidenreich ist Philosoph und Politikwissenschaftler und lehrt an der Universität Stuttgart. Zudem ist er wissenschaftlicher Koordinator am Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart. Heidenreich publizierte zur politischen Theorie, zur Kulturtheorie und Kulturpolitik.



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