E-Book, Deutsch, 277 Seiten
Heinrichs Bis auf den Grund
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-934327-60-3
Verlag: BLATT-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 277 Seiten
ISBN: 978-3-934327-60-3
Verlag: BLATT-Verlag
Format: EPUB
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1
Anton Wieneke wusste nicht, wann er zuletzt so unglücklich gewesen war. Vielleicht, als seine Frau gestorben war. Vielleicht nach seinem Schlaganfall, der ihm die linke Seite lahmgelegt hatte. Vielleicht, als seine Pflegekraft Zofia nach Polen abgereist war. Was er aber wusste: Seit Krystina in sein Leben gepoltert war, war das Unglücklichsein Dauerzustand. „Smacznego!“ Mit einem ‚Mahlzeit‘ knallte ihm die neue Pflegekraft seinen Teller vor die Nase. Darauf der immer gleiche Sauerkrauteintopf mit Schweinefleisch und Speck. Bigos sollte das sein. Anton mochte Bigos. Eigentlich. Sein Sohn Thomas hatte es einmal sehr lecker gekocht. Doch seitdem die stämmige Polin bei ihm wohnte, gab es praktisch täglich Bigos und das schmeckte kein bisschen. Zugegeben, anfangs hatte sie noch andere Dinge gekocht. Aber die waren ähnlich fettig gewesen, so dass Antons Magen sie nicht gut vertrug. Krystina war enttäuscht gewesen, wenn Anton nicht aufgegessen hatte. Und dann beleidigt. Und irgendwann wütend. Zwischen ihnen hatte sich eine unselige Spirale entwickelt. Und eine von Krystinas Waffen war tägliches Bigos. „Bezczelnosc!“, murrte sie jetzt und wischte unwillig einen Krümel vom Tisch. Vielleicht war es besser, dass er nicht alles verstand. Sicher hatte Krystina auch Qualitäten. Die Fenster waren bei Zofia nie so sauber gewesen und die Küche war immer tipptopp. Nur legte Anton darauf nicht allzu viel Wert. Auch nicht darauf, dass sie ihm ständig den Mund abwischte wie einem kleinen Kind. Und dass sie einfach in sein Badezimmer stürmte, wenn er sein Geschäft verrichtete. Er würde ja abschließen, aber sie hatte den Schlüssel abgezogen, um das zu verhindern. Krystina konnte auch nett sein. Zum Beispiel wenn sie am Telefon mit ihrem Enkelsohn sprach. Dann ging ihre Stimme ganz hoch, sie war fröhlich und ganz aus dem Häuschen. Anton glaubte deshalb, dass Krystina einfach am falschen Ort war. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, sie nach Hause zu schicken. Aber bei einigen Dingen brauchte er Hilfe und wenn er Krystina hinauswarf, blieb nur noch das Heim. Inzwischen hatte Anton allen Widerstand aufgegeben; er wartete einfach, dass es vorbeiging. Zwei Tage noch, dann würde Zofia zurückkommen. Sicherheitshalber tastete Anton nach dem schnurlosen Telefon in seiner Tasche. Er hatte den Hörer immer dabei, damit er ihren Anruf bloß nicht verpasste. Heute oder morgen würde sie sich melden und sagen, ob alles nach Plan lief. „Jedz!“, sagte Krystina ungeduldig. Anton wusste, was da hieß: „Iss!“ Der Polin war es wichtig, die Küche so schnell wie möglich wieder in Ordnung zu bringen. Trotzig begann er mit der Gabel in seinem Essen zu stochern. Doch just, als er den ersten Bissen in den Mund schieben wollte, klingelte es in seiner Jacke. Krachend ließ er die Gabel fallen. Krystina warf ihm einen wütenden Blick zu, doch Anton ließ sich nicht beirren. Vor Aufregung konnte er den Hörer kaum greifen, aber dann hatte er ihn doch und ein Blick darauf ließ sein Herz hüpfen. 0048 – die Vorwahl von Polen! „Zofia“, keuchte er glücklich in den Hörer hinein. Ein Moment Stille. Dann eine männliche Stimme mit polnischem Akzent. „Hier ist Carenow, Ihren Pflege-Agentur. Spreche ich mit den Herrn Anton Wieneke?“ Mehr als ein heiseres „Ja“ brachte Anton nicht heraus. „Ah, guten Tag. Möchte ich Sie nur über einen kleinen Änderung informieren. Wird Ihre Pflegekraft Zofia Bartoszewski später anreisen. Eine Woche, vielleicht mehr.“ Es war Anton, als würde ihm der Kreislauf wegbrechen. „Wie kann das sein?“ „Muss Frau Bartoszewski eine Reise antreten. Wegen Familie.“ „Eine Reise? Was ist passiert?“ „Für Sie alles ist geregelt, keine Verschlechterung für Sie. Wird Frau Mazowickie länger bleiben bei Ihnen. Wenn Sie sie mir nur jetzt geben, dass wir alles besprechen.“ Anton sah hoch – direkt in Krystinas mürrische Augen. „Nein!“, sagte er tonlos in den Hörer hinein. „Ist Frau Mazowickie nicht da?“ „Schon, aber – “, Anton suchte krampfhaft nach Worten. „Rufen Sie bitte heute Abend noch einmal an. Ich will – ich muss – erst etwas klären.“ Dann drückte er mehrere Tasten auf einmal, damit das Gespräch ganz sicher weg war. „Mein Sohn“, murmelte er nach einer Schrecksekunde. Im selben Moment fiel ihm ein, dass er den natürlich nicht siezte. Egal, Anton nahm seine Gabel. Krystina verstand sowieso nichts. „Pragnienie jest gorsze niz tesknota za domem“, das war einer der Sprüche seiner Mutter gewesen. „Durst ist schlimmer als Heimweh.“ Er wusste nicht allzu viel über Heimweh. Er hatte einfach nur schrecklichen Durst. Offenbar war er nicht allein. Es war ein Klappern zu hören. Im nächsten Moment wusste er, woher das Geräusch kam. Von seinen Zähnen, die aufeinanderschlugen wie Kastagnetten. Seine Lider waren schwer, als er die Augen öffnete. Eine weiße Wand. Holz. Eine Leiste. Er lag auf einem Sofa, von den Holzdielen am Boden strömte starker Wachsgeruch aus. Und dann kam die Erinnerung. Er hatte sich in dieses Ferienhaus geschleppt. Der Schlüssel hatte tatsächlich hinter der Regentonne gelegen. So hatte es ihm der Besitzer vor Monaten in der Hotelbar erzählt. Hier angekommen, hatten ihn offenbar die Kräfte verlassen. Er hatte auf dem Sofa gelegen und endlos geschlafen. Wie lange? Zehn Stunden, zwölf, zwanzig …? Alles an ihm schmerzte, seine Glieder waren steif, als hätte er draußen in der Kälte gelegen. Und dann dieser Durst! Das Fieber musste ihn ausgetrocknet haben. Resigniert schloss er die Augen, doch sofort flogen Bilder ihn an, Bilder und Fragen. Er riss die Augen auf, klammerte sich an das, was er sah. Eine Wand. Einen Fußboden. Eine Leiste. Mühsam setzte er sich auf, orientierte sich. Küche und Wohnzimmer waren ein einziger offener Raum – dahinten eine Küchenzeile, ein Spülbecken, ein Wasserhahn! Als er aufstand, wurde er von Schwindel erfasst. Er klammerte sich an einen Sessel, ruhte kurz aus, tastete sich dann Richtung Spülbecken vor. Dort betätigte er den Wasserhahn und trank. Trank, trank, trank. Nur um plötzlich zu spüren, wie es warm wurde zwischen seinen Beinen. Psiakrew, er nässte sich ein wie ein Kind! Den Bootstrailer entdeckte er, als die Tränen weniger wurden. Man konnte ihn durchs Küchenfenster sehen, er stand draußen im Nieselregen neben einem Schuppen. Der Trailer war nicht groß, darauf ein Schlauchboot mit Außenborder, wie sie es in Polen gehabt hatten. Das Boot war notdürftig mit einer Plane abgedeckt; sofort wollte er hingehen und nachsehen, ob es fahrtüchtig war. Doch als diesmal der Schwindel kam, hielt es ihn kaum auf den Beinen. Er taumelte zum Sofa, ließ sich dort fallen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste erst Kraft tanken, schlafen, das Fieber loswerden. Als er die Augen schloss, war er am See, am Zbiornik Sosnówka. Es war warm, sie saßen am Ufer, er spielte auf der Gitarre „Gdy bym mial gitare“. Vielleicht nannten die Leute so etwas Heimweh. „Herr Anton!“ In Zofia stieg Freude auf, als sie sah, wer da anrief, aber auch ein bisschen Sorge. Der alte Mann hatte sich während ihres Heimaturlaubs kein einziges Mal gemeldet, nun zeigte ihr Handy gleich mehrere Anrufe an. „Zofia“, seine Stimme klang dünn, so kannte sie ihn nicht, „ich wollte mich melden, weil –“ Zofia hatte Probleme, Herrn Anton zu verstehen. Weil er zittrig sprach und weil sie vier Wochen kaum Deutsch gehört hatte. „Die Agentur hat hier angerufen und mir gesagt –" O kurde! Sie hatten versprochen, sich nicht bei Herrn Anton zu melden! „– dass Sie später zurückkommen. Was ist denn passiert?“ Zofia schluckte, der alte Mann war ja ganz aus der Fassung. „Das tut mir sehr leid“, testete Zofia ihre ersten Worte auf Deutsch. „Wollte ich nicht, dass Sie alles erfahren von der Agentur. Wollte ich selber anrufen sehr bald.“ „Nicht schlimm“, hörte sie den alten Mann sagen, aber in Wirklichkeit klang er, als wäre doch alles sehr schlimm. „Es ist so“, Zofia versuchte sich zu konzentrieren. „Machen wir uns große Sorgen um Kajas Bruder. Er arbeitet auf eine deutsche Insel, aber seit Tagen wir können ihn nicht...