Hengsbach | Gottes Volk im Exil | Buch | 978-3-88095-216-4 | sack.de

Buch, Deutsch, 192 Seiten, PB, Format (B × H): 145 mm x 210 mm, Gewicht: 254 g

Hengsbach

Gottes Volk im Exil

Anstöße zur Kirchenreform
Erscheinungsjahr 2011
ISBN: 978-3-88095-216-4
Verlag: Publik-Forum

Anstöße zur Kirchenreform

Buch, Deutsch, 192 Seiten, PB, Format (B × H): 145 mm x 210 mm, Gewicht: 254 g

ISBN: 978-3-88095-216-4
Verlag: Publik-Forum


Friedhelm Hengsbach, Jesuit und einer der angesehensten Sozialethiker Deutschlands, beobachtet gesellschaftliche und kirchliche Entwicklungen seit Jahrzehnten – wach, kritisch und unbestechlich. In seinem neuen Buch legt er nun den Finger in die 'offenen Wunden' der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche.

Friedhelm Hengsbach zeigt auf, dass die Institutionen für viele Glaubende zu Räumen der Fremde geworden sind. Das Volk Gottes lebt im Exil, innerhalb und außerhalb der Kirchen. Doch dieses Leben im Exil schafft Raum für Veränderung – spirituell, theologisch und kirchlich. Ganz in diesem Sinne legt Hengsbach Bausteine für eine neue Architektur der Kirchen vor, für ihre Reform an Haupt und Gliedern.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Einleitung: Gottes Volk im Exil

Sechs offene Wunden
1. Körperschaftskirchen
2. Arbeitgeber-Kirchen
3. Bürger-Kirchen
4. Hochkirchen
5. Kultkirchen
6. Männerkirchen

Im Exil glauben
1. Glauben
2. Bezugspunkt des Glaubens
3. Exil

Reform an Haupt und Gliedern
1. Gegen die Lähmung in den Köpfen
2. Reform der Kirchenfinanzierung
3. Ausstieg aus dem Dritten Weg
4. Personales Angebot
5. Pastoral der Nähe
6. Liturgien des Lebens
7. Auf Augenhöhe

Literatur


Gottes Volk im Exil

2010 war ein schwarzes Jahr für die katholische Kirche in Deutschland. Die Zahl der Kirchenaustritte ist in diesem Jahr sprunghaft gestiegen. Zum ersten Mal seit sechzig Jahren kehrten mehr Katholiken ihrer Kirche den Rücken, als evangelische Christen ihre Kirche verließen. Die eruptive Aufkündigung der Mitgliedschaft ist ein untrügliches Alarmsignal dafür, dass der sexuelle Missbrauch und die gewalttätigen Übergriffe kirchlicher Amtsträger, die während des Jahres aufgedeckt wurden, die katholische Kirche weit heftiger durchgeschüttelt haben, als dies 1968 durch das päpstliche Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung oder 2006 durch das Diktat des Vatikans, aus der Beratung in Schwangerschaftskonflikten auszusteigen, je erreicht wurde.
Wut und Empörung hat auch diejenigen gepackt, die in der Kirche geblieben sind. Es mag ihnen noch jetzt kalt den Rücken hinunterlaufen, wenn sie sich jene Ereignisse konkret vorstellen, die über den verbrecherischen Umgang kirchlicher Funktionsträger mit Kindern und Jugendlichen bekannt geworden sind. Nicht weniger verwerflich waren auch die Versuche, die Vergehen unter dem Mantel einer quasi-familiären Club-Atmosphäre zu verbergen, sowie das Schweigen derjenigen an höherer Stelle, die von diesen skandalösen Vorfällen wussten, sie vertuscht und die Mitwisser dieser schändlichen Taten gedeckt haben. Die Reaktionskette der kirchlichen Oberen glich denjenigen von Parteien und Konzernen: Erst wird verschwiegen, vertuscht und geleugnet, dann eingeräumt und ausgeräumt. Ihnen war das gute Image der Institution wichtiger als das Leiden der Betroffenen. Zum Glück ist die Mauer des Schweigens durchbrochen worden. Verantwortliche Entscheidungsträger hatten endlich den Mut, die Opfer von einst aufzufordern, dass sie aufstehen, ihre Stimme erheben und Gerechtigkeit einfordern. Aber wie kirchenrechtlich in Zukunft rigoros mit solchen Vergehen umgegangen wird – bis zum Verbot der Amtsausübung und Amtsenthebung –, bleibt bisher noch offen.
Ist die Wut und Empörung inzwischen verraucht? Gehen die Katholiken bereits wieder zur kirchlichen Tagesordnung über? Ein mehrfaches Unbehagen ist geblieben. Die Vergebungsbitte der Bischöfe klingt unzureichend. Es wird bedauert, dass die Straftaten häufig verjährt und die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft eingestellt sind. Juristen ist das kirchliche Sprachspiel, das sich vorweg der Begriffe 'Täter' und 'Opfer' bediente, ziemlich fremd. Die zivilen Ermittlungen erwiesen sich oft als unzulänglich. Sie waren nämlich auf eine freiwillige Kooperation angewiesen. Eine vollständige Aufbereitung von Dokumenten scheiterte wiederholt daran, dass sich diese nur als Fragmente in den Archiven der Bistümer und Ordensgemeinschaften auffinden ließen. Die von der Öffentlichkeit erwartete Transparenz der internen schonungslosen Aufklärung wurde erst zugesichert, dann jedoch nur beschränkt eingelöst. Öffentliche Eingeständnisse schuldhaften Versagens, die aufrichtig klangen, waren äußerst selten zu hören. Der Dialog an runden und eckigen Tischen blieb konfrontativ. Nicht wenige Betroffene halten die finanzielle Entschädigung, die von den Bistümern und Ordensgemeinschaften zugesichert wurde, für enttäuschend. Sie fühlen sich behandelt wie Bettelnde, denen Almosen gewährt werden.
Sprunghafte Spitzen von Kirchenaustritten lassen sich nicht nur für die katholische, sondern auch für die evangelische Kirche nach 1968 und 1973, nach der deutschen Einigung und am Ende der 1990er-Jahre nachweisen. Sie sind allerdings überlagert von einem langfristig steigenden Trend des Abschieds von den Kirchen. Unmittelbar sind die Austritte meist ein Protest gegen das öffentliche Auftreten von Kirchenoberen oder deren Entscheidungen. Mittelbar gelten sie als ein Indikator dafür, dass die Resonanz der Kirchen in der Gesellschaft negativ getönt ist.
Wer die Äußerungen der Massenmedien allein für das Jahr 2010 zur Kenntnis nimmt, findet neben den erwähnten sexuellen Übergriffen und dem Missbrauch pädagogischer und religiöser Macht an Elitegymnasien katholischer Orden und an anderen Erziehungseinrichtungen zahlreiche Gründe einer schleichenden Distanz der Christen gegenüber ihren Kirchen. Nachrichten über kirchliche Angelegenheiten scheinen mehr und mehr in den Wirtschaftsteil der Zeitungen zu wandern: 'Kirchen in Finanznot' oder 'Den Bistümern geht das Geld aus'. Thilo Sarrazin entfesselte eine unterschwellige Identitätsangst unter Deutschen aus Sorge vor kultureller und religiöser Überfremdung. Heftige Empörung rief die Absicht des Papstes hervor, mit einer kirchlichen Randgruppe Frieden zu schließen, deren Anführer, ein Kardinal, den Holocaust bestreitet. Die Bemerkung der Bischöfin Käßmann, dass in Afghanistan nichts gut sei, löste eine aufgeregte Debatte über den Sinn des Afghanistan-Einsatzes aus. An der Nahtstelle von Religion und Politik wurde um den EU-Beitritt der Türkei und den angeblichen islamischen Terrorismus debattiert. Dieser muss als Beleg für die Auffassung herhalten, dass der Islam von Haus aus 'blutige Grenzen' hat. Immerhin hat auch das Christentum in seiner Geschichte blutige Spuren gezogen. Die Pogrome gegen Juden wurden von den darin Verwickelten als gottgewollt gerechtfertigt. Hass und Vernichtungswillen hat das Verhältnis zu anderen Religionen wiederholt bestimmt. Als Bundespräsident Christian Wulff in einer programmatischen Rede zum 20. Jahrestag der deutschen Vereinigung erklärte: 'Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland', haben katholische Bischöfe und Vertreter der sogenannten christlichen Parteien heftigen Einspruch erhoben. Sie beharrten auf dem christlich-jüdischen Erbe als der bestimmenden 'Leitkultur' der Bundesrepublik, obwohl dieses Erbe geschichtlich belastet ist, und verlangten von den Muslimen, dass sie der abendländischen Wertegemeinschaft beitreten.
Das derart für das Jahr 2010 punktuell skizzierte Erscheinungsbild der Kirchen in der medialen Öffentlichkeit und ihre negative Resonanz in der Gesellschaft zehren an der Glaubenspraxis nicht weniger Christen. Sie sehen darin ein verzerrtes Bild ihrer christlichen Überzeugung von der Nachfolge Jesu auf dem Weg der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung. Sie fremdeln gegenüber solchen Kirchen, die sich ihrer Meinung nach von der Person und Botschaft Jesu entfernt haben und sich folglich immer weniger als Kirchen Jesu Christi ausweisen können. Fremd werden ihnen die 'Körperschaften öffentlichen Rechts', die 'Arbeitgeberinnen-Kirchen', die 'Bürger-Kirchen', die 'Hochkirchen', die 'Kultkirchen' und die 'Männerkirchen'.
Im Folgenden sollen die offenen Wunden dieser Kirchenformen kritisch hinterfragt werden. Der Diagnose schließt sich eine spirituell-theologische Deutung an, die die Leitmotive des Volkes Gottes, des Exils und des kirchlichen Exils erläutert. Abschließend werden einige Bausteine einer Reformarchitektur der Kirchen an Haupt und Gliedern zusammengetragen.
Aus welchen Voreinstellungen und mit welchen Optionen ist diese Schrift verfasst worden? Welches kirchliche Milieu hat die Reflexion angestoßen?
Der inspirierende Ausgangspunkt waren die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965 (die in Deutschland gegenüber der Kirchenkonstitution desselben Konzils ein Schattendasein führte), der Essener Katholikentag 1968, die Würzburger Synode 1975, die Kölner Erklärung gegen das autoritäre Kirchenregime Papst Johannes Pauls II. (insbesondere die Verletzung des Kirchenrechts durch den kirchlichen Gesetzgeber 1989), das Gemeinsame Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland 1997 sowie das Memorandum der Theologen 2011. Aus diesen Quellen sind die Erwartungen jener Christen in beiden Kirchen geschöpft, die an der Nahtstelle zwischen kirchlicher Verankerung und gesellschaftlicher Präsenz berufliche und politische Verantwortung tragen, die sich in Pfarrgemeinden, kirchlichen Gremien, Verbänden, Initiativen und Gruppen sowie in zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Initiativen, in Parteien, Gewerkschaften und Unternehmen engagieren.



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