E-Book, Deutsch, 444 Seiten
Hengstschläger Digitaler Wandel und Ethik
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7110-5296-4
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 444 Seiten
ISBN: 978-3-7110-5296-4
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ob im privaten Umfeld, in der Arbeit oder im öffentlichen Leben – alles wird digital. Der technologische Fortschritt birgt enorme Chancen, aber auch große Risiken. Welche gesellschaftlichen Herausforderungen bringt dieser Fortschritt mit sich? Welche Rolle spielen ethische Überlegungen? Was ist zu beachten, damit die digitale Revolution dem Wohl der Menschen dient?
Experteninnen und Experten aus unterschiedlichsten Bereichen, darunter Informatik, Wirtschaft, Soziologie und Philosophie, stellen sich diesen Fragen und tragen zu einem längst notwendigen kritischen Diskurs bei.
Autoren/Hrsg.
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Demokratische
Herausforderungen
im Zeitalter des
digitalen Wandels
Stefan Strauß & Alexander Bogner 1. Einleitung
Es ist noch nicht lange her, da galt die Digitalisierung praktisch ausschließlich als großer Segen für die Demokratie. Der Arabische Frühling wurde als »Smartphone-Revolution« gefeiert, wobei das Internet so etwas wie eine digitale Echokammer des demokratischen Aufbruches zu sein schien. Im Wahlkampf 2012 hatte der technikaffine damalige US-Präsident Barack Obama seinen republikanischen Herausforderer im Rennen ums Weiße Haus souverän auf Distanz gehalten. »Big Data Will Save Politics«, titelte die MIT Technology Review Anfang 2013. Nur fünf Jahre später, im Herbst 2018, unter dem Eindruck des Cambridge-Analytica-Skandals, angesichts von Fake News und hemmungsloser Hasskommunikation im Netz, fragte dann dieselbe Zeitschrift auf ihrem Cover etwas ratlos: »Technology is threatening our democracy. How do we save it?« Dass sich im Zuge des digitalen Wandels massive »ethische Herausforderungen« ergeben, wie der Titel dieser Publikation suggeriert, ist heute nicht weiter umstritten. Ebenso deutlich sind die Herausforderungen, die sich im digitalen Zeitalter für Wirtschaft und Gesellschaft ergeben. In den Blick gerückt wird etwa die Entwicklung neuer Monopolstrukturen durch die immense Marktmacht der »Big Five« der US-Technologieunternehmen (Staab, 2019). Man verweist auf die bedrohliche Macht der Algorithmen, die auf intransparente Weise unsere Wahrnehmung der Welt und unsere politischen Sichtweisen steuern und beeinflussen (Pasquale, 2015). Thematisiert wird außerdem die Bedrohung bürgerlicher Freiheitsrechte durch einen perfektionierten »Überwachungskapitalismus« (Zuboff, 2018) beziehungsweise die Gefährdung personaler Autonomie durch digitale Identifikationstechnologien (Strauß, 2019). Letzterer Aspekt verweist auf das Spannungsverhältnis, das sich mittlerweile zwischen Digitalisierung und Demokratie entwickelt hat: Wenn Privatsphäre zu den demokratischen Grundpfeilern gehört, gerät mit deren Gefährdung auch die Demokratie in Gefahr. In diesem Beitrag gehen wir auf jene Herausforderungen näher ein, die sich im Zuge der digitalen Transformation für die demokratische Politik ergeben. Dabei beleuchten wir insbesondere die Bedeutung von Plattformöffentlichkeiten und sozialen Medien für die Vermittlung, Darstellung und Inszenierung von Politik. Anhand einiger prominenter Beispiele illustrieren wir, inwiefern die Digitalisierung des Politischen antidemokratische oder populistische Tendenzen unterstützt. Unsere zentrale These lautet, dass im Zuge der Digitalisierung heute vor allem zwei fundamentale Prinzipien der liberalen Demokratie unter Druck geraten: das institutionelle Prinzip der Vermittlung sowie das ideelle Prinzip eines reflektierten Relativismus. Was sich hinter diesen beiden Prinzipien verbirgt, zeigen wir im nächsten Abschnitt. 2. Eckpfeiler demokratischer Politik
Um Gefährdungspotenziale der Digitalisierung für demokratische Politik zu identifizieren, ist zunächst einmal eine genauere Bestimmung der zentralen Eckpfeiler liberaler Demokratien notwendig. Naheliegende Antworten lauten: Gewaltenteilung, allgemeines Wahlrecht, bürgerliche Freiheitsrechte. Das ist grundsätzlich richtig, aber für unseren Zusammenhang ist es entscheidend, auf die zentralen Technologien der Willensbildung in der Demokratie hinzuweisen. Notwendig ist dies, weil die Willensbildung nicht unmittelbar durch das Volk erfolgt, sondern über bestimmte Instanzen vermittelt wird, in erster Linie durch die Parteien und das Parlament, aber natürlich auch durch die Medien. Das heißt, die moderne Demokratie lässt sich technisch nicht als direkte Demokratie, sondern nur repräsentativ, das heißt in Form eines Parlamentarismus realisieren (auch wenn die parlamentarische Demokratie natürlich durch direktdemokratische Elemente ergänzt werden kann). Aber nicht nur technische Gründe sprechen für eine parlamentarische beziehungsweise Parteiendemokratie. Schon die US-amerikanischen Gründerväter fürchteten die unmittelbare Willensbildung auf Grundlage ungefilterter Emotionen und votierten daher für unabhängige Parlamentarier und nicht vom Volk wählbare Richter. Der Sinn der vermittelnden Institutionen in der Demokratie (Parteien, Parteienvielfalt, Parlament, Medien) liegt somit darin, eine Distanz zwischen unmittelbarem Wollen, zwischen eruptiver Bewegung und politischer Entscheidung herzustellen. Das Mittel dafür besteht in der Öffnung von Räumen, in denen über den freien Austausch von Meinungen und Standpunkten so etwas wie eine Entschleunigung politischer Entscheidungsfindung bei gleichzeitiger Rationalisierung der Debatte ermöglicht werden soll. Schon John Stuart Mill hat in seiner berühmten Abhandlung über die Freiheit argumentiert, dass nur die offene Rezeption der frei geäußerten Widerrede den Anspruch auf besseres Wissen legitim macht (Mill, 1974, 29). Wer alternative Meinungen leichtfertig aus dem Feld schlägt, begibt sich der Möglichkeit, die eigene Position in offener, vorurteilsfreier Auseinandersetzung mit der Gegenseite besser zu begründen. Gleichzeitig aber wusste Mill natürlich, dass nicht jede Art von Dissens immer auch produktiv ist. Institutionelle Vorkehrungen, eine tendenziell ausufernde Meinungsvielfalt auch wirklich produktiv zu machen, bestehen in der liberalen Demokratie daher im Zwang, die eigene Meinung über den Umweg der Parteiorganisationen relevant machen zu müssen, beziehungsweise in der Festlegung von Sperrklauseln für die Wahl des nationalen Parlamentes. Auf diese Weise wird jede politische Initiative durch einen mehrstufigen Vermittlungsprozess geschickt. Die für die liberale Demokratie wesentlichen Vermittlungsorgane versinnbildlichen letztlich den fundamentalen »Erziehungsanspruch« jeder funktionierenden Demokratie: Im Rahmen der öffentlichen Meinungs- und politischen Entscheidungsbildung geht es darum, für die eigenen Überzeugungen einzustehen, ohne den politischen Gegner als Feind zu betrachten; es geht darum, die eigene Position durchaus als überlegen zu verstehen, ohne jedoch die prinzipielle Legitimität der Gegenposition anzuzweifeln. Mit anderen Worten: Die eigentlichen Werte der liberalen Demokratie sind die nirgendwo explizit festgeschriebenen Diskursnormen, nicht jedoch bestimmte politische Zielsetzungen (wie z. B. »Gerechtigkeit« im sozialistischen Modell). Ein schwieriges Problem entsteht aus der Erosion solcher Normen, wie man seit einiger Zeit am Beispiel der USA beobachten kann. Dort vereitelt die extreme politische Polarisierung mittlerweile fast jede vernünftige Kompromissfindung. Dementsprechend gilt »Partyism« (Sunstein, 2015) – ein voraussetzungsloser Hass auf Personen einzig aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit – fast schon als eine ebenso destruktive Ideologie wie der Rassismus oder Sexismus. Mit anderen Worten: Eine funktionierende Demokratie setzt die Fähigkeit zur Relativierung der eigenen Position voraus. Wer davon ausgeht, dass er (oder sie) eine privilegierte Sicht der Dinge hat, ohne einer offenen Debatte darüber zu bedürfen, der privilegiert in Wirklichkeit Dogmatismus, Autoritarismus und Intoleranz. Der Wille zum Dialog ergibt sich dabei ausschließlich auf Basis der Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Selbstinfragestellung und damit zur Selbstrelativierung. Nur unter der Voraussetzung dieser grundsätzlichen Offenheit lassen sich wesentliche Elemente der Demokratie – wechselnde Mehrheiten und geschützte Minderheiten – begründen. Diesen engen Zusammenhang zwischen liberaler Demokratie und weltanschaulichem Relativismus hat der österreichische Verfassungsrechtler und Soziologe Hans Kelsen schon in den 1920er-Jahren thematisiert: »Wer absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muss nicht nur die eigene, muss auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt.« (Kelsen, 2018, 132) Gäbe es so etwas wie die absolut überlegene Meinung (»Wahrheit«) oder anders gesagt: existierte ein allgemein geteilter Glaube an die konkurrenzlose Überlegenheit einer bestimmten politischen Maßnahme, dann wäre jede politische Debatte obsolet. Die für die liberale Demokratie wesentlichen Vermittlungsinstitutionen wären dann nur noch überflüssiger Zierrat, bestenfalls dazu geeignet, die Exekutive in ihrer Arbeit zu behindern. Das Prinzip der Vermittlung und die Ideologie des Relativismus sind also zentrale Voraussetzungen liberaler Demokratie. Beide dienen letztlich dem Ziel, über die Öffnung des Diskurses eine »vernünftige« Politik zu ermöglichen. Im nun folgenden Abschnitt geht es darum, auf welche Weise diese Grundlagen heute, im Zuge der Digitalisierung, unter Druck geraten. 3. Politische Implikationen digitaler Transformation
Schon in den 1990er-Jahren, den Anfängen von Internet und WWW, herrschte euphorische Grundstimmung ob einer Demokratisierungswelle durch die...