E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Hennig Mutti steigt aus
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-548-92084-9
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-548-92084-9
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
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Kapitel 1
»Wer einmal Rosinen gegessen hat, dem schmecken keine Trauben mehr.« Edgar pflegte dies immer zu sagen, um Maria in Gesellschaft gleichaltriger Frauen ein Kompliment zu machen, obgleich ihr natürlich klar war, dass er sich damit nur selbst in ein gutes Licht rücken wollte. Ein Mann, der so etwas sagt, erweckt den Eindruck, dass er bei jüngeren Frauen noch ganz gute Karten hat. Als Maria ihn eines Abends auf dem Bäckerball in der Nürnberger Meistersingerhalle – für beide ein alljährliches Highlight – offen darauf ansprach, lächelte er nur. Ein hinreißendes Lächeln, dem Maria selbst über Edgars Tod hinaus treu geblieben war. »Ich liebe nur dich, und das war schon immer so.« Nicht mehr und nicht weniger hatte dieses Lächeln zu sagen. Einfach entwaffnend. »Eine wohlschmeckende Rosine«, konstatierte Maria mit bittersüßem Blick, als sie an diesem Morgen ihr Antlitz im Spiegel sah und überlegte, ob sie trotz Edgars Abneigung gegen Kosmetika etwas Make-up auflegen sollte. »Das Zeug verklebt die natürliche Schönheit einer Frau.« Oft genug hatte ihr verstorbener Mann Werbung für Gesichtscremes in dieser Weise kommentiert. Maria musste schmunzeln. Ob sie wirklich von innen strahlte, wie er immer behauptet hatte, ein Strahlen der Zufriedenheit, das Menschen schön macht, ein Strahlen, um das man jeden beneidet? Das unbarmherzige Licht ihres Spiegelschrankes sprach allerdings eine andere Sprache. Als sie sich näher betrachtete und ihr lockiges brünettes Haar, das wie jeden Morgen kaum zu bändigen war, zurechtzupfte, bereute sie den lebenslangen Verzicht auf diverse Cremes und Öle nun doch. Sie trat einen Schritt vor und tastete ihre Problemstellen mit kritischem Blick ab. Kleine Fältchen um die Augen und eine von den Sorgen eines harten Berufslebens gezeichnete Stirn ergaben das Porträt einer Frau, die ihre beste Zeit hinter sich gelassen hatte. Die vielen Jahre in der Bäckerei, jeden Tag um halb fünf aus den Federn und bis sechs Uhr abends am Tresen stehen. Maria begann spontan, ihre Gesichtshaut bis zu den Ohren nach hinten zu liften. Ein straffes, aber skurril verzogenes Gesicht und unnatürlich breite Lippen machten sie im Nu zu einer zwar faltenfreien, aber urkomischen Karikatur ihrer selbst. Genug, um sich aus der zäh an ihrer Seele klebenden Melancholie zu befreien. Maria setzte sogleich ein zufriedenes Lächeln auf. Das Lächeln einer Verkäuferin, entlarvte sie sich selbst. Sie hatte es zeit ihres Lebens hinter dem Tresen bestens einstudiert. »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« Es wurde allerhöchste Zeit, neu anzufangen und das unsichtbare Trauergewand, das längst zu einer zweiten Haut geworden war, endlich abzustreifen. Leichter gesagt als getan, wenn einen einfach alles an Edgar erinnerte. Sein alter Nassrasierer, ein antik anmutendes Artefakt in einer Porzellanschale, die er von seinem Vater geerbt hatte, stand immer noch an seinem Platz, einer kleinen Anrichte neben dem Waschbecken, auf der Edgar immer seine Sachen abgelegt hatte. Dauermelancholie war ein äußerst beunruhigender Umstand. Da drängte sich die Frage nach Therapiebedürftigkeit auf. War es etwa normal, wenn man sich Monate nach dem Tod des Gatten immer noch nicht von seinen Sachen trennen konnte? Sicher, sie konnte sich auch einreden, dass er in diesen Dingen weiterlebte. Kein Wunder, denn Edgars Eigengeruch, der wie ein erlesenes Parfum ihre Sinne benebelt und ihr das Gefühl gegeben hatte, noch einen letzten Hauch von ihm bei sich zu haben, ließ sich nicht leugnen. »Wirf das alte Zeug doch endlich weg.« Wenn der eigene Sohn so etwas sagt, tut das verdammt weh. Es war respektlos, auch gegenüber dem Vater, der Robert über alles geliebt hatte, zumindest so lange, bis ihm klargeworden war, dass Robert die Bäckerei nicht übernehmen würde. Maria fuhr etwas wehmütig ein letztes Mal über das weiche Haar des Rasierpinsels und legte das Utensil aus vergangenen Tagen schließlich zur Seite. Es war allerhöchste Zeit, in die Gänge zu kommen. Der Flieger würde nicht auf sie warten. »Hilfst du mir mit dem Kleid?« Robert, selbst noch in Unterhosen und Socken, hatte nicht die Absicht, sich von Marion aus der Ruhe bringen zu lassen. Er kramte stoisch weiter in einer Schublade. Vielleicht würde sie dann ja kapieren, dass es tierisch nervte, alle fünf Minuten für sie strammstehen zu müssen. Drei Hemden lagen bereits auf dem Boden, was den legeren Ikea-Stil des kunterbunten Billig-Wohnen-mit-Schick-Schlafzimmers noch unterstrich. »Kommst du jetzt?« Robert verdrehte demonstrativ die Augen, wie immer, wenn seine Frau ihm auf den Zeiger ging, und schlüpfte eilig in das nächstbeste Hemd, das sich in einem desolat zerknitterten Zustand befand. »Hast du die Hemden nicht gebügelt?«, fragte er. »Keine Zeit.« Marion, eine nicht mehr ganz fabrikneue, wenngleich äußerst attraktive Barbie-Puppe, tänzelte mit Unschuldslächeln herein und stellte sich demonstrativ mit dem Rücken zu ihm. »Ich war gestern mit Steffi und Sabine beim Einkaufen. Das weißt du doch.« Richtig. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Die Einkaufstrips mit Steffi waren in letzter Zeit ja zur Routine geworden. Er musste es wohl verdrängt haben. Wer erinnert sich schon gern daran, wie viel Geld die Ehefrau im wöchentlichen Kaufrausch vernichtet? Robert fummelte am Reißverschluss ihres Kleides herum. »Und du weißt, dass ich nicht bügeln kann.« »Da sind doch noch genug gebügelte Hemden«, erwiderte sie trotzig. »Kurzärmlige!« Robert zog konsequenterweise den Reißverschluss ihres Kleides mit so viel Schwung nach oben, dass Marion leicht vom Boden abhob. »Schlechte Laune?« Sie war anscheinend nicht aus der Ruhe zu bringen. Robert resignierte. Seine Restenergie reichte gerade noch für ein schwaches Kopfschütteln. »Ich möchte nur wissen, wer ihr den Floh ins Ohr gesetzt hat.« Marion war wohl immer noch fassungslos darüber, dass seine Mutter, die so gut wie nie in Urlaub fuhr, schon gar nicht allein, eine Flugreise nach Gran Canaria gebucht hatte. »Ihr wird die Decke auf den Kopf fallen.« »Mir fällt sie auch bald auf den Kopf.« »Wir waren doch erst im Urlaub«, widersprach er. »Das ist drei Monate her ... und der ganze Stress in der Agentur«, säuselte sie. »Halbtags? Stress?« Wie konnte ausgerechnet Marion es wagen, dieses Wort überhaupt in den Mund zu nehmen? »Ein halber Tag in einer Werbeagentur strengt mehr an als ... « Marion suchte nach Argumenten, während sie das Kleid vor einem Garderobenspiegel in die rechte Form zupfte. Sie würde keine finden, jedenfalls keine plausiblen. »Klar. Du hast auf alle Fälle mehr Stress als ich«, kam er ihr zuvor. Robert stellte zufrieden fest, dass sein vorwurfsvoller Tonfall sie traf. In Sachen Stress hatte er in den letzten Wochen auf seinen beruflichen Streifzügen durch ganz Bayern wahrlich genug erlebt. Das war sein wunder Punkt, und Marion wusste immer, wann sie zu weit ging. Sofort wanderte ihre Hand versöhnlich in seinen Nacken. »Du Armer. Jeden Tag unterwegs«, schnurrte sie. Robert sah nur noch ihre katzengleichen Smaragdaugen, ihr entwaffnendes Lächeln und spürte ihre Hand, die sich schlangengleich an seinem Rücken entlangräkelte. »Lass uns heute Abend schön essen gehen, ja?« »Wird aber spät. Ich muss noch ins Allgäu«, antwortete er ausweichend. »Ins Allgäu?«, fragte sie. »Ein neues Internetreisebüro. Stell dir vor, die haben überhaupt noch keine Buchhaltungssoftware.« »Das schaffst du schon. Ich muss los.« So viel Anteilnahme konnte einem wirklich Mut machen. Marion löste sich abrupt von ihm und schnappte sich eine schicke kurze Jacke, die vor ihr auf einem Korbsessel lag. »Und vergiss nicht, deine Mutter nach der Hypothek zu fragen.« Dies war eines der Dinge, die ihm bleischwer im Magen lagen. »Die braucht das Haus doch eh nicht. Aber wir brauchen das Geld!«, fügte sie hinzu und zog die Jacke an. Drei prall gefüllte Mülltüten warteten darauf, in der Tonne vor Marias Einfamilienhaus entsorgt zu werden. Wenn nur der Deckel nicht wieder klemmen würde. Der tägliche Kampf mit den Tücken des Objekts. »Na, schon im Reisefieber?«, tönte es wie aus dem Nichts. Maria bemerkte erst jetzt ihre Nachbarin, deren Kopf über die Hecke ragte, die die beiden Grundstücke optisch trennte. »Hilde. Ich wollt eh zu dir. Der Hausschlüssel.« »Wie lange bleibst du denn?«, wollte die Nachbarin wissen. »Weiß ich noch nicht.« Hilde in ihrem flauschigen Hausanzug aus Flanell, einem unsäglich schlabberigen Billigteil, das sie vermutlich aus der hintersten Ecke eines Schlussverkaufwühltisches hervorgezogen hatte, nahm einen von Marias Schlüsseln in Empfang. »Hast du schon von der Gruber gehört?« »Die Gruber? Was soll denn mit der sein?« »Autounfall. War nichts mehr zu machen.« »Das ist ja tragisch. Gehst du zur Beerdigung?« Eigentlich war es Maria völlig egal, wer zu Angelika Grubers Beerdigung gehen würde, aber über was außer dem Wetter könnte sie sich mit Hilde um der guten Nachbarschaft willen sonst unterhalten? Immerhin würde die Frau sich in ihrer Abwesenheit um ihre Pflanzen kümmern, was ein Gespräch auf alle Fälle rechtfertigte. Hilde zuckte mit den Schultern. »Ob überhaupt jemand hingeht?« Im Nu wurden wieder Erinnerungen an die dicke Gruber wach, eine impertinente Frau, die am Ende ihrer Straße in einer kleinen Boutique arbeitete und ihr nimmermüde altbackene Kleidung in Grau- und Beigetönen andrehen wollte. »So eine Ironie«, sinnierte Maria vor sich hin. »Wie...