Henning | Theorien der Entfremdung zur Einführung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Reihe: zur Einführung

Henning Theorien der Entfremdung zur Einführung


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-96060-059-6
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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Reihe: zur Einführung

ISBN: 978-3-96060-059-6
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
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Was ist Entfremdung? Zeigt die Zunahme an Burnouts und Depressionserkrankungen an, dass die kritische Annahme, der Mensch habe sich in der Moderne von sich selbst entfremdet, heute mehr zutrifft denn je? Oder ist diese Diagnose, die Autoren wie Rousseau, Hegel und Marx gestellt haben, hoffnungslos veraltet, weil sie schon von problematischen Vorannahmen wie einem "wahren Wesen des Menschen" ausging? Nachdem es mit dem Ende der Systemkonkurrenz von Kapitalismus und Sozialismus eine Zeit lang still war um die Entfremdungstheorie, hat sie heute wieder Konjunktur. Der vorliegende Band diskutiert diese neueren Forschungen u.a. von Autoren wie Alain Ehrenberg und Hartmut Rosa vor dem Hintergrund einer Bestandsaufnahme der älteren Theorien von Rousseau über Marx und Simmel bis zu Herbert Marcuse.
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2.Außer-sich-Sein als Ausnahmezustand: Entfremdung bei Rousseau
»Radikale Vergesellschaftung heißt radikale Entfremdung.« (Adorno, GS 3, 81) Wenn im Folgenden von Entfremdung die Rede ist, dann meint das die spezifisch moderne Erfahrung, dass Menschen sich aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen selbst abhanden kommen können. Sie verlieren damit, wie man mit Hartmut Rosa sagen kann, die Fähigkeit zur »Resonanz« mit ihrer sozialen und natürlichen Umwelt sowie mit sich selbst. Eine lebendige Beziehung mit diesen Regionen muss zumindest noch erinnert werden, um vermisst werden zu können. Vielleicht deshalb tritt die radikalste Kritik an solchen Phänomen bereits zu Beginn der sozialen Umstellung von traditionellen zu modernen Gesellschaften auf den Plan. Den Beginn der Moderne setzen wir für unsere Zwecke um das Jahr 1750 an, denn in dieser Zeit lässt sich eine sozialtheoretische Reflexion vernehmen, die diese Art von Entfremdungserfahrung bereits mit Händen greifen lässt.15 Wir beginnen mit Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), dem neben David Hume und Immanuel Kant wohl wichtigsten europäischen Philosophen des 18. Jahrhunderts. Entfremdung im Zentrum des Werkes von Rousseau
Rousseaus Werk ist sehr vielfältig, aber es lässt sich gut entschlüsseln, wenn man die Entfremdung als das große Thema begreift, um das seine philosophischen Hauptwerke zentriert sind.16 Die ersten beiden Diskurse von 1750 und 1755 artikulieren die radikale und wirkungsmächtige These, dass sich die Menschen in den meisten zeitgenössischen europäischen Gesellschaften in Wirklichkeit selbst abhandengekommen sind – sie entäußern sich nicht nur in kulturellen Produkten, denn das ist schwer zu vermeiden, sondern sie sind in der Äußerlichkeit dieser Produkte gleichsam stecken geblieben. Daher sagt Rousseau bewusst, der moderne gesellschaftliche Mensch lebe immer »außer sich«: »Der Wilde lebt in sich selbst, der Mensch in der Gesellschaft ist immer außer sich und vermag nur in der Meinung der anderen zu leben. Die Empfindung seines eigenen Daseins entnimmt er sozusagen allein ihrem Urteil.« (Rousseau 1755, 123) Es ist zu einem kulturellen Zustand, zum Merkmal eines ganzen »Zeitalters« (Fichte) geworden, dass die eigenen Produkte nicht mehr sinnhaft angeeignet werden. Der Rückfluss ist gestört (Spelsberg 2012, 108, 123ff.). Daher geht es Rousseau in seinem Werk darum, ein Sich-wieder-Aneignen des Menschen möglich zu machen. Spätere Werke erproben daher verschiedene Rückwege aus der Entfremdung (Buck 1984): Der Gesellschaftsvertrag von 1762 dreht das große Rad und schlägt vor, die politischen und sozialen Verhältnisse auf eine Weise zu verändern, dass eine jede am Ende wieder mit sich selbst in Einklang sein kann. Die politischen Schriften entwerfen mit der kollektiven Selbstgesetzgebung und der öffentlichen Erziehung ein Bild von Gesellschaft, in der sich der Einzelne in seinen Institutionen wiedererkennen kann. Entfremdung meint also den Prozess eines Sich-fremd-Werdens aufgrund eines Lebens im Ungleichgewicht, im Widerspruch mit sich; und der Politik wird es zugetraut, für alle Menschen wieder die Möglichkeit einer Balance herzustellen. In anderen Schriften variiert Rousseau dieses Thema auf mikropolitische Weise. In Émile oder über die Erziehung (ebenfalls 1762 erschienen) entwirft Rousseau das Bild einer privaten Erziehung, die die Entstehung einer solchen Entfremdung, einer inneren Zerrissenheit, schon im Kleinen verhindert. In dem überaus erfolgreichen Liebesroman Julie oder die neue Heloise von 1761 bringt Rousseau das Thema in die Form einer Liebesbeziehung (wenn auch einer tragischen). Im Spätwerk der Träumereien eines einsamen Spaziergängers (1776–78) experimentiert er in einem noch kleineren Format: nämlich mit sich selbst, als einsamer Spaziergänger auf einer Insel, der versucht, sich in der Verlorenheit an die Natur, und zugleich im Schreiben darüber, selbst in eine Balance zu bringen. Diese »Balance« stellt einen verbindenden Grundgedanken dar: Möglichkeiten und Wünsche des Menschen, aber auch sein Denken und sein Fühlen sollen nicht auseinandertreten. Ziel ist es in allen diesen Werken, das permanente Außer-sich-Bleiben zu verhindern und das Glück »der inneren Einheit, des Einverstandenseins mit sich«, aber auch mit den anderen zu erreichen.17 An dieser Stelle lässt sich ein Einwand erheben. Man könnte fragen: Ist die Rede von einer Balance angesichts der beiden Extreme, die Rousseau vertritt, nicht fehl am Platze? Das eine Extrem ist der Mensch im Naturzustand aus dem zweiten Diskurs, der so vorsozial gedacht ist, dass er noch nicht einmal sprechen kann (Rousseau 1755, 75 und 89). In einer solch dumpfen Eintönigkeit könnte nichts in Balance mit etwas anderem stehen. Das andere Extrem ist der völlig sozialisierte Mensch aus dem Gesellschaftsvertrag, der eine vollständige »Entäußerung« an den Staat zu erbringen hat (aliénation totale, 1762a, 280, Buch I.6). Der Einwand besagt, dass es in keinem dieser Szenarien eine Möglichkeit für eine Balance gibt, da beide monistisch angelegt sind – es gibt auf der einen Seite gar keine Sozialität (»Der wilde Mensch lebt verstreut unter den Tieren«, 1755, 65), auf der anderen Seite hingegen nur noch ein »gemeinsames Ich« (1762a, 280), von dem der Einzelne nur ein Glied ist. Nicht einmal zwischen diesen beiden Zuständen kann es eine Balance geben, da sie einander ausschließen (völlige Gesellschaftslosigkeit hier, totale Vergesellschaftung dort). Ist das ein triftiger Einwand? Schauen wir uns, um das zu beantworten, einzelne Texte näher an. In den frühen Diskursen von 1750 und 1755 wird sich Kultur erstmals selbst zum Problem. Das geschieht nicht durch Erfahrungen kultureller Differenz, die es schon vorher gab (artikuliert etwa in Werken über die Indianer von Las Casas im 16. Jahrhundert oder in Montesquieus Persischen Briefen von 1721), sondern durch den einschneidenden Gedanken einer Kontingenz von Kultur überhaupt. Darin steckt bereits eine Antwort auf den Einwurf: Die Idee eines noch nicht sozialisierten Natur-Menschen braucht Rousseau als methodischen Abstoßungspunkt, um das Rad der Kritik an seiner Zeit in Schwung zu bringen. Weder wird damit behauptet, dass es einen solchen Zustand jemals gegeben habe, noch wird gar gesagt, dass er erstrebenswert sei und es zu ihm zurückzukehren gelte. Schon der erste Diskurs über die Wissenschaften und Künste (1750) artikuliert diesen methodischen Gedanken einer kritischen Komparatistik: »Man kann nicht über die Sitten nachdenken, ohne dass man sich zugleich der Einfalt der ältesten Zeiten erinnerte. Es ist ein schönes Bild, allein von den Händen der Natur geschmückt, zu dem der Blick unaufhörlich zurückkehrt und welches man mit Bedauern verlässt.« (Rousseau 1750, 26) Mit den glücklichen Zeiten, die hier als Vergleichsmaßstab dienen, ist allerdings keine graue und vorsoziale Urzeit gemeint, wie der Einwand voraussetzt, sondern vielmehr eine frühe Stufe der Zivilisierung (die den Naturzustand bereits verlassen hat), in der »unsere Sitten bäuerisch, aber natürlich« waren (1750, 13). Im zweiten Diskurs über den Ursprung der Ungleichheit wird noch klarer, dass die herbeigesehnte Zeit gar keine vor-zivilisierte Urzeit ist, sondern vielmehr ein glücklicher und darum stabiler Zwischenzustand zwischen dem fiktiven Naturzustand und der Gegenwart: »[S]o musste dennoch diese Zeit, da sich ihre Fähigkeiten entwickelten, die glücklichste und die dauerhafteste Epoche sein, weil sie zwischen der Sorglosigkeit des ursprünglichen Zustandes und der ungestümen Betriebsamkeit unserer Eigenliebe die wahre Mitte hält. Je mehr man über diese Sache nachdenkt, desto mehr wird man finden, dass dieser Zustand, den Umwälzungen am wenigsten unterworfen, für den Menschen am besten war.« (Rousseau 1755, 100) Die Kritik hat die Form einer U-Kurve: Der methodisch gesetzte Anfangszustand, in dem der Mensch »einem stumpfsinnigen und beschränkten Tier« ähnelt (Rousseau 1762a, 284), ist für Rousseau genauso wenig erstrebenswert wie die Lage einer entfremdeten Gegenwart. Das goldene Zeitalter liegt dazwischen, weil sich in ihm – nach dem Leitgedanken der Balance – die richtige Mitte zwischen dem Bei-sich-Sein und dem Außer-sich-Sein in den eigenen Erfindungen eingestellt hat. (Die richtige Mitte strebte schon Aristoteles mit seiner Mesotes-Lehre an.) Davon ausgehend lässt sich leicht nachvollziehen, was für Rousseau das Problem der neueren Zeit ist. Doch wie kam es dazu? Der Gedanke des ersten Diskurses ist es, dass die Wiederaneignung des in Form der Wissenschaften und Künste zum Ausdruck Gebrachten auf ganzer Linie misslungen ist: »Wie schön wäre es, wenn das äußerlich gesetzte Wesen jederzeit das Bild der...


Christoph Henning ist Privatdozent für Philosophie an der Universität St. Gallen und Junior Fellow am Max Weber Kolleg der Universität Erfurt.



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