E-Book, Deutsch, 396 Seiten
Hermsen / Schmid Studienbuch Angewandte Soziologie
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-17-039566-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 396 Seiten
ISBN: 978-3-17-039566-4
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
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1 Lebenslauf, Lebenslage und Sozialstruktur
1.1 Lebenslauf, Biographie und Karriere
1.1.1 Lebensläufe, Familien- und Erwerbsbiographie: Laura, ihr Bruder Max und ihre Großeltern
? Laura Schneider studiert im dritten Semester Soziale Arbeit. Zusammen mit ihrem Bruder Max, der gerade ein Medieninformatikstudium begonnen hat, war sie am Wochenende beim 75. Geburtstag ihrer Großmutter Renate. Wie immer bei solchen Anlässen wurde viel von früher erzählt, und Laura und Max haben sich während der Heimfahrt noch lange darüber unterhalten, wie sich ihr Leben vom Leben ihrer Großeltern unterscheidet. Renate Schneider wurde kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren und 1953 in der katholischen Volksschule eingeschult, von der sie später aufgrund guter Leistungen auf die Mädchenmittelschule wechselte. Nach der Mittleren Reife arbeitete sie als Büroangestellte in der Personalabteilung des neu eröffneten Bochumer Opelwerks. Dort lernte sie auch den Großvater von Laura und Max, Werner Schneider, kennen, der in der Lackiererei arbeitete. Bei der Heirat war sie 20, und als sie zwei Jahre später mit Lauras Vater schwanger war, kündigte sie bei Opel und wurde Hausfrau und Mutter. Bei der Geburtstagsfeier hatte sie erzählt, dass das damals bei allen jungen Paaren so war. In den 1970er Jahren verdiente Werner bei Opel genug, um alleine die Familie zu versorgen und aus der Mietwohnung in ein Reihenhaus umziehen zu können. Als die Kinder mit der Schule fertig waren, wollte Renate wieder arbeiten, aber für einen neuen Bürojob hatte sie zu lange pausiert. Von 1990 bis zur Rente arbeitete sie halbtags an der Kasse im Supermarkt. Werner wurde nach 44 Jahren Betriebszugehörigkeit mit 60 Jahren mit einer Abfindung in den Vorruhestand geschickt. Immerhin: Die Geburtstagsfeier hat bestimmt eine Menge Geld gekostet. Neben den Verwandten waren auch viele ehemalige Kollegen eingeladen, v.?a. von der Gewerkschaft, in die Werner Schneider schon als Auszubildender eingetreten war. Und regelmäßige Urlaube leisten sich die Großeltern auch – also scheint die Rente gar nicht so schlecht zu sein. Laura und Max haben die Erzählungen ihrer Großeltern mit ihrem bisherigen Leben verglichen: In dem Alter, in dem sie zu studieren angefangen haben, hatten die Großeltern bereits geheiratet, und zwei Jahre später war das erste Kind da. Laura plant, nach dem Bachelor noch ein Masterstudium anzuschließen und will auf jeden Fall für ein oder zwei Jahre ins Ausland gehen. Kinder will sie später vielleicht auch haben, aber sie kann sich nicht vorstellen, dafür dauerhaft auf einen Job zu verzichten. Max findet die Vorstellung, über 40 Jahre in der gleichen Firma zu arbeiten, nicht nur extrem langweilig, sondern auch heutzutage völlig unrealistisch! Aus seiner WG kennt er viele Geschichten von wechselnden Praktika und befristeten Verträgen. Dass man mehr als 50 Jahre Beiträge an eine Gewerkschaft zahlt, leuchtet ihm auch nicht ein. Allerdings wissen Max und Laura auch, dass sie auf jeden Fall länger als ihre Großeltern arbeiten müssen – und dass es dann noch eine Rente gibt, von der man leben kann, können sie sich kaum vorstellen. Am Ende hat sich Laura gefragt: Was hat sich eigentlich geändert – sind wir anders als unsere Großeltern oder haben sich die Strukturen geändert, in denen wir leben? Laura hat recht: Die Lebensläufe haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verändert. Blickt man noch länger zurück, so zeigt sich ein noch größerer Wandel. In vorindustriellen agrarischen Gesellschaften war nicht nur die durchschnittliche Lebenserwartung wesentlich kürzer als heute. Hinzu kam, dass der Tod in jedem Alter drohte. Die Säuglingssterblichkeit war hoch, und auch wer die frühe Kindheit überlebt hatte, war stets der Gefahr von Krankheiten, Missernten und Hungersnöten, Krieg und anderen Katastrophen ausgesetzt. Wie lange das Leben dauerte und wie das Leben verlief, war zu einem großen Anteil von Zufällen und äußeren Ereignissen abhängig. Zu welchem Stand man gehörte, war durch die Geburt festgelegt und kaum durch eigenes Handeln veränderbar. Kinder mussten früh bei der Arbeit auf dem Feld mithelfen, und Wissensvermittlung, Bildung und die Weitergabe beruflicher Kenntnisse erfolgte innerhalb des Familienverbundes. Eheschließung, Familiengründung und der Erwerb von Besitz war für große Teile der Bevölkerung gar nicht möglich. Wer zu alt oder zu krank zum Arbeiten war, war wiederum auf die Unterstützung anderer Familienmitglieder angewiesen. Insgesamt waren Lebensläufe in vorindustriellen Gesellschaften dadurch gekennzeichnet, »dass das Einzelleben für weite Teile der Gesellschaft eingebettet war in das an die Scholle gebundene Familienschicksal« (Mayer 1998, 448). Zwar gab es auch in vorindustriellen Gesellschaften Darstellungen des Lebenszyklus von der Geburt bis zum Tod, aber Lebensphasen wie Kindheit, Erwachsenenleben und Alter waren weniger klar strukturiert, weniger voneinander abgegrenzt und die Übergänge zwischen den Lebensphasen variierten je nach individuellem Schicksal. Diese Lebensphasen, in die wir heute wie selbstverständlich Lebensläufe aufteilen, entwickelten sich erst im Übergang zur Industriegesellschaft. Verbesserte hygienische Verhältnisse, Steigerungen der Nahrungsmittelproduktion und Verbesserungen in der medizinischen Versorgung führten zu einem Anstieg der Lebenserwartung und damit auch zu einer größeren Vorhersehbarkeit in Bezug auf den weiteren Lebensverlauf. Die tatsächliche Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht verstärkten die Ausdifferenzierung einer eigenständigen Lebensphase Kindheit auch über das Bürgertum hinaus. Neue industrielle Berufsbilder erforderten verlängerte Schulzeiten und neue Formen der beruflichen Ausbildung, die wesentlich zur Entstehung der Lebensphase Jugend beitrugen. In der Industriegesellschaft wurde dann für männliche Erwachsene entlohnte Erwerbstätigkeit (inklusive Phasen erzwungener Arbeitslosigkeit) zum dominierenden Strukturelement ihres Lebenslaufs. Frauen waren mindestens bis zur Eheschließung auf dem Arbeitsmarkt aktiv, an die sich rasch die Geburten und eine längere Phase der Versorgung und Betreuung der Kinder anschloss. Parallel dazu entstand der moderne Wohlfahrtsstaat, der mit Krankenversicherung (ab 1883), Unfallversicherung (ab 1884), Invaliditäts- und Altersversicherung (ab 1889), Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (ab 1922), staatlicher öffentlicher Fürsorge (ab 1924) und schließlich der Arbeitslosenversicherung (ab 1927) bei immer mehr Risiken im Lebenslauf finanzielle Unterstützung und staatliche Regulierungen vorsah. Die Altersversicherung wurde anfangs erst ab dem 70. Lebensjahr (das die wenigsten Versicherten damals erlebten) und nur als »Sicherheitszuschuss zum Lebensunterhalt« gezahlt. Doch mit einem immer weitere Bevölkerungsgruppen umfassenden Altersversicherungssystem begann die Ausdifferenzierung der Lebensphase »Ruhestand«, die gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass man nicht mehr erwerbstätig sein musste. Hinter diesen Umbrüchen wird ein dreigeteilter Lebenslauf (vgl. Kohli 1985) erkennbar, der aus einer Qualifizierungs- und Ausbildungsphase (Kindheit und Jugend), einer Erwerbsphase (Erwachsenenalter) und dem Ruhestand (Alter) besteht. Während die Qualifizierungsphase wesentlich vom Bildungssystem dominiert wird, steht in der mittleren Lebensphase der Arbeitsmarkt mit allen damit verbundenen sozialpolitischen Regulierungen und Organisationen im Mittelpunkt. Im Ruhestand sind die Alterssicherungssysteme der zentrale Referenzpunkt. Männer und Frauen verknüpfen in der Industriegesellschaft Familiengründung und Kinderbetreuung sehr unterschiedlich mit der Erwerbsphase, wodurch sich geschlechtsspezifische Lebensläufe herausbilden. Während Männern die Rolle des Familienernährers zugewiesen und damit die Bedeutung der Erwerbsarbeit verstärkt wird, wird von Frauen erwartet, für die Familienarbeit wie die Versorgung und Betreuung der Kinder (und später der eigenen Eltern) die Erwerbsbiographie zu unterbrechen und eigene Karriereambitionen zurückzustellen (vgl. Krüger 1995). Für Kohli (1985; 2003) wird in modernen Gesellschaften der Lebenslauf selbst zur Institution. Einerseits wird der Lebenslauf immer stärker normiert und standardisiert. Andererseits wirkt dieser normierte und standardisierte Lebenslauf immer stärker normierend auf die Individuen ein, sich an dieser vorgegebenen Struktur zu orientieren. In der Industriegesellschaft wird die Regulierung der Abfolge der einzelnen Sequenzen im Lebensverlauf – von der Geburt im Krankenhaus über die Betreuung in der Kindertagesstätte, der Einschulung, dem Übergang in Berufsausbildung oder Studium, dem Eintritt in den Arbeitsmarkt, Phasen der Erwerbslosigkeit, den Austritt aus dem Arbeitsmarkt...