E-Book, Deutsch, 116 Seiten
Herrmann / Bieker / Engel Intuition und Improvisation in der Praxis der Sozialen Arbeit
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-17-042172-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 116 Seiten
ISBN: 978-3-17-042172-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Einführung
»Ich finde, dass das (situative Handeln, F. H.) eine wichtige Seite von professionellem Handeln bezeichnet, die man wenig reflektiert und die auch geringschätzt wird. Wenn du an einer Hochschule ausgebildet bist, geht's ja darum, dass du auf Basis von Theorien, auf empirischer Basis bezogen handelst. (...) Aber diese andere Seite, das weiß eigentlich jeder, spielt eine ganz große Rolle. Denn du hast so viele Situationen oder auch Entscheidungen im Alltag, da kannst du nicht alles durchdenken im Sinne: ›Da hast du mal was gelesen ...‹ Du musst dann handeln, irgendwie. Wobei die Wissenschaft und empirische Erkenntnisse sicher schon eine Rolle spielen. Diese Improvisation oder diese Intuition, die wird schon irgendwo geleitet. Und wahrscheinlich hätte ich vor 20 Jahren intuitiv manches anders gemacht, wie ich's heute mache. Das hat auch etwas mit praktischen Erfahrungen zu tun« (Ausschnitt aus einem Interview mit Herrn D, einer erfahrenen Führungskraft). Soziale Arbeit ist eine »praxisorientierte Profession und wissenschaftliche Disziplin«, die »gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung von Menschen« fördert (DBSH 2016, 2). Sie nutzt dazu Theorien und Modelle aus ihrer eigenen Disziplin sowie anderen Human- und Sozialwissenschaften. Die Praktiker*innen sollen ihre Aufgaben reflexiv, fachlich und normativ begründet sowie methodisch bearbeiten – d.?h. »zielorientiert, kontextbezogen, kriteriengeleitet sowie strukturiert und gleichzeitig offen« (von Spiegel 2013, 252). Allerdings ist nur ein Teil der Tätigkeit von Fachkräften plan- und methodisierbar: Soziale Arbeit ist eine professionelle Tätigkeit mit Menschen, die sich häufig in Krisen und belasteten Lebenssituationen befinden. Diese Menschen haben einen eigenen Willen und eigene Vorstellungen über ihre Lebensziele und das, was gut für sie ist. Hilfe- und Unterstützungsprozesse in der Sozialen Arbeit funktionieren nur, wenn eine Kooperation zwischen Fachkräften und Adressat*innen zustande kommt. Adressat*innen sind immer auch ›Ko-Produzent*innen‹ im Hilfeprozess: Bestimmte Bildungsziele bzw. Verhaltensänderungen sind nur zu erreichen, wenn Adressat*innen das selbst wollen, wenn sie einen Sinn darin sehen, sich auf den Weg zu machen. Eine plan- und methodisierbare ›Technologie‹ von Interventionen mit verlässlichen Ziel-Mittel-Verbindungen ist in der Sozialen Arbeit – anders als in technischen Berufen – nicht möglich. Professionelles Handeln muss Vertrauen und Beziehungen zwischen konkreten Menschen unter häufig schwierigen Bedingungen im Hier und Jetzt schaffen. Dazu brauchen Fachkräfte neben fachlichem Wissen und Können auch Flexibilität, Offenheit, Empathie, Intuition und die Fähigkeit zur Improvisation. Professionelles Handeln ist deshalb beides: Das intuitive Gespür für die aktuelle Situation und die Menschen darin, d.?h. für das, was hier im Moment sinnvoll und möglich ist, sowie das theoretische Wissen und praktische Können, situativ die nächsten Schritte zu finden und den weiteren Prozess zu gestalten. Diese Dualität von geplanter, methodischer Strukturierung und situativer Offenheit im Handeln von Fachkräften findet sich in vielen Professionalitätskonzepten, z.?B. in · Hans Thierschs Modell der »strukturierten Offenheit« bei der Gestaltung professionellen Handelns. Es braucht in der Praxis verlässliche Verfahren, die eine Orientierung in unübersichtlichen Situationen bieten. Diese müssen aber auch immer bezogen sein »auf die Eigenlogik der Alltagserfahrungen und Kompetenzen der Adressat_innen und die Offenheit individueller und situativer Konstellationen« (Grunwald & Thiersch 2016, 50?f.). · Burkhard Müllers multiperspektivischem, ›offenen Typus‹ von Professionalität, der versucht, »die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel zwischen unterschiedlichen Arten von Wissen als professionelle Haltung auszubilden« (Müller 2009, 192), und im Handeln zieloffen ist (d.?h. Ziele gemeinsam mit Adressat*innen aushandelt). · Bernd Dewes und Hans-Uwe Ottos Konzept reflexiver Professionalität, die sich im situativen Fallbezug materialisiert (Dewe & Otto 2017, ? Kap. 1.1). · Maja Heiners Modell von Handlungskompetenz, in dem neben der methodischen Strukturierung des Handelns die »Fähigkeit zur kontextspezifischen Variation, zum Erkennen der Besonderheiten des Einzelfalles« (Heiner 2010, 70) eine zentrale Rolle spielt. Zur Umsetzung der methodisierbaren Aspekte des Handelns von Fachkräften gibt es eine Fülle von Vorschlägen und Veröffentlichungen (z.?B. von Spiegel 2013, Heiner 2010, Müller 2009). Der situativ-spontane Aspekt professionellen Wahrnehmens und Handelns wird dagegen in der Fachliteratur kaum thematisiert. In diesem Sinne ist dieses Buch auch ein grundlegender Beitrag zu einem in der Literatur zwar häufig benannten, aber nur wenig explizierten Kernelement professionellen Handelns, das hier genauer untersucht und gewürdigt werden soll. Vor diesem Hintergrund wird in den folgenden Kapiteln sukzessive ein theoretisches Modell situativen Handelns entwickelt und begründet. Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit basiert nach meinem Verständnis auf zwei unterschiedlichen Handlungsmodi, die in Praxissituationen von Fachkräften in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen kombiniert werden (wobei die Erwartbarkeit, was in der jeweiligen Situation geschehen könnte, eine wichtige Rolle bei dieser Kombination spielt): · dem geplanten, methodisch strukturierten Handeln, das vor allem auf deklarativem und explizitem Wissen (in Form von Begriffen, Konzepten, Regeln, Theorien) beruht. Dieser Typ von Wissen wird vor allem in Hochschulen gelehrt. · dem situativ-spontanen Handeln, das vor allem auf Erfahrungswissen (Wissen aus konkret erlebten Situationen, Körperwissen in Form von sensomotorischen Abläufen und Empfindungen, Handlungsroutinen etc.) basiert. Diese Art von Wissen ist vor allem implizites Wissen, bei dem eine Person etwas kompetent tun kann, ohne genau sagen zu können, warum sie dieses tut und wie es funktioniert. Bei Nachfragen zu dieser Art von Handeln kommen bei Praktiker*innen Aussagen wie ›Ich habe es irgendwie gewusst‹, ›im Gefühl gehabt‹ oder ›intuitiv so gemacht‹. Das liegt daran, dass solche Arten von Wissen spontan und dynamisch funktionieren und deshalb auch schwer zu versprachlichen sind, während Begriffe, Konzepte, Theorien etc. eher ›statisch‹ sind und deutlich besser in sprachlicher Form erfasst werden können. Zentrale Elemente situativen Wahrnehmens und Handelns sind Formen von · Intuition (als spontane, subjektive Wahrnehmungen von Körpersignalen, Emotionen, Handlungsimpulsen, aber auch von wiederkehrenden strukturellen Mustern in komplexen Situationen) und · Improvisation (als spontane, nicht geplante Kombinationen von Handlungselementen und -mustern, die stark auf Erfahrungswissen beruhen). Was hier in konkreten Situationen bei Praktiker*innen passiert, kann mit der Theorie reflexiver Wissensverarbeitung von Donald Schön erklärt werden (? Kap. 5). Wie sich Erfahrungswissen und Können sukzessive im Verlauf der beruflichen Sozialisation aufbauen, formulieren Stuart und Hubert Dreyfus mit ihrem fünfstufigen Modell beruflicher Kompetenzentwicklung (? Kap. 6). Hier spielen sowohl individuelle als auch kollektive Lernprozesse in Teams und Organisationen eine Rolle. Berufliche Entwicklung hat auch mit der Herausbildung einer spezifischen Form impliziten Wissens zu tun, der Intuition: Diese ist nach dem Verständnis der Brüder Dreyfus eine Form von Verstehen, die sich mühelos einstellt, wenn eine aktuelle Situation vergangenen Ereignissen ähnelt. Bei der Entwicklung von Professionalität kommt es aber nicht nur auf einen Zuwachs an Erfahrungswissen an, sondern auch, dass Fachkräfte deklaratives Wissen aus ihrem fachlichen Kontext (relevante Theorien, methodische Strategien, Ergebnisse empirischer Forschung) in ihre Arbeit einbeziehen und mit ihrem Erfahrungswissen kombinieren. Das Buch startet in Kapitel 1 mit einigen Grundlagen zum Thema Professionalität in der Sozialen Arbeit (? Kap. 1). Kapitel 2 führt kurz in die Begriffe Intuition und Improvisation als Werkzeuge zur Erfassung situativen Handelns ein und zeigt an einem Beispiel, wie diese Wahrnehmungs- und Handlungsformen auch ineinandergreifen können (? Kap. 2). Kapitel 3 widmet sich ausführlich dem Phänomen der Intuition in Wissenschaft und Praxis. Dazu werden Erklärungsmodelle aus unterschiedlichen Wissenschaften vorgestellt, Formen von Intuition unterschieden sowie erläutert, wie...