E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Hochmann Economists4Future
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86774-654-0
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Verantwortung übernehmen für eine bessere Welt
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-86774-654-0
Verlag: Murmann Publishers
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hunderttausende Schülerinnen und Schüler beharren auf eine konsequente Klimapolitik. Eltern, Lehrer*innen, Unternehmer*innen und viele weitere Menschen solidarisieren sich mit ihnen, darunter über 26.000 scientists4future aus diversen Disziplinen. Nur die etablierten Wirtschaftswissenschaften schweigen. Das ist kein Zufall, denn ihr Denkstil hat wesentlich zu den Krisen der Gegenwart beigetragen: Denn eins haben Klimakrise, Finanz- und Wirtschaftskrise ebenso wie die Corona-Pandemie gemein: Sie entlarven die Fragilität unserer Wirtschaft und zeigen, wie abhängig wir uns als Gesellschaft von ihr gemacht haben. Alte, scheinbar bewährte Lösungen greifen nicht mehr, Lieferengpässe reißen ganze Zweige in den Abgrund, das gesellschaftliche Zusammenleben gerät aus den Fugen. Zeit für die Wirtschaftswissenschaften, die Gebetsmühle aus Effizienz und Eigennutz zu zerschlagen und neue Visionen für eine bessere Welt aufzuzeigen.
In "economists4future" mischt sich eine Gruppe von Weiterdenker*innen in die jetzt notwendige Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft ein – und verändert damit selbstverständlich geglaubte Spielregeln einer wichtigen Wissenschaft.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Silja Graupe
BIODIVERSITÄT
DES ERKENNENS
Visionäre Zukunftsgestaltung braucht reflexive Freiheit
Weltweit gehen junge Menschen auf die Straße. Angesichts von Klimakrise, Ungerechtigkeit und Zerstörung der ökologischen Grundlagen allen Lebens fordern sie die Gestaltung einer neuen, einer anderen und hoffentlich auch besseren Zukunft. Wie aber können sie in der Gegenwart ein Verständnis des Vergangenen und des Gegenwärtigen mit einer Imagination des zukünftig Möglichen vereinen? Wie können Menschen allgemein realistisch und utopisch zugleich agieren? Economists4future nehmen die Herausforderung an, sich diesen Fragen im Bereich des Ökonomischen zu stellen – offen und ohne den Zwang einzig richtiger oder feststehender Antworten. Auch ich möchte in diesem Beitrag keine Antworten vorgeben, sondern in grundsätzlicherer Absicht zuallererst neue, nämlich imaginative Spielräume des Möglichen eröffnen. DIE AUFGABEN EINER NEUEN REFLEXIVEN BILDUNG
Diese Herausforderung ist keine des abstrakten Elfenbeinturms theoretischer Forschung. Sie ist eine der Bildung. Wie lassen sich Wege finden, um Zukunft gemeinsam mit jungen Menschen gestalten zu lernen? Ich bin, ebenso wie etwa das Netzwerk Plurale Ökonomik, der Überzeugung, dass es hierfür einer neuen Methoden- und Theorievielfalt bedarf. Mehr noch: Modelle und Theorien beruhen immer schon auf bestimmten Vorstellungen darüber, wie Menschen im Allgemeinen und speziell Wissenschaftler*innen die Welt sowie die eigene Stellung, die sie in ihr einnehmen, erkennen können. Elinor Ostrom spricht diesbezüglich von der fundamentalen Ebene der Frameworks, auf der Prozesse des Erkennens hochgradig spezifisch, zumeist aber unbewusst dirigiert werden. Genau auf dieser Ebene bin ich der Auffassung, dass wir gerade in der Ökonomie dringend eine diversere Erkenntnisvielfalt brauchen. Es bedarf neuer Formen des »Erkennens des Erkennens« – und dies nicht nur in einem passiven Singular, sondern im aktiven Plural. Denn wir leben in hochgradig komplexen Zeiten, in vielfältigsten Lebensräumen. Um diese zu gestalten, brauchen wir mehrere Weisen des Erkennens gleichzeitig und zudem die Fähigkeit, uns ebenso frei wie situationsadäquat zwischen ihnen entscheiden zu können. Es bedarf einer bewusst gestaltbaren Biodiversität des Erkennens, statt eines einzigen Erkenntnisparadigmas, das per definitionem stets stillschweigend vorausgesetzt ist. Diese aber wird es ohne gesteigerte Fähigkeiten zur (Selbst-)Reflexion nicht geben können: Junge Menschen müssen lernen dürfen, welche alternativen Prozesse des Erkennens ihnen offenstehen, wie sie sich für sie entscheiden und wie sie sie aktiv gestalten können. Sie sollten das Erkennen selbst erkennen und gestalten können. DER ZUSTAND EINER TROSTLOSEN ÖKONOMISCHEN BILDUNG
In der weltweiten ökonomischen Standardlehre ist es um eine solche Diversität denkbar schlecht bestellt. Denn hier herrscht – weitgehend unbemerkt – ein Erkenntnisparadigma vor, das sich von der Metapher des Eisbergs – zu sehen in der Abbildung gegenüber – leiten lässt: Wie sich bei einem Eisberg, der auf dem Meer schwimmt, mehr als 80 Prozent seiner Masse unterhalb der Wasseroberfläche befindet, so soll der Verhaltensökonomik nach der allergrößte Teil menschlichen Erkennens unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen – und damit der Reflexion entzogen bleiben. Statt einer bewussten und aktiv gestaltenden Diversität des Erkennens soll es jenseits rationalen Denkens nur eine erstarrte und in der Dunkelheit des Unbewussten verharrende Ansammlung unzugänglicher kognitiver Strukturen geben. 1 Eisbergmetapher / Verhaltensökonomik Was damit gemeint ist, beschreibt etwa der Psychologe und Verhaltensökonom Daniel Kahneman im Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken: Bewusst soll nur das rationale Erkennen ablaufen, wie es der Homo oeconomicus symbolisiert. Gemeint ist damit ein kühl berechnendes Zweck-Mittel-Denken. Dessen Funktionsweise lässt sich am ehesten mit der eines Computers vergleichen, dessen Regeln nach der Logik der Mathematik, genauer gesagt nach den Gesetzmäßigkeiten des Optimierungskalküls programmiert sind. Eine (Selbst-)Reflexion dieses Programms kann es nicht geben; die rational Erkennenden haben schlicht nicht die Wahl, wenn es darum geht auszuleuchten, nach welchen Regeln sie ihre Entscheidungen treffen. Kahneman geht wie andere Verhaltensökonom*innen davon aus, dass sich das rationale Erkennen nur mühevoll und langsam vollziehen kann. Zum Lohn wird es dafür vom strahlenden Licht der abstrakten Vernunft beschienen. Kein Wunder also, dass die weltweit herrschende ökonomische Standardlehre gerade diesen Bereich des Erkennens fokussiert. Ganz gleich, was Studierende zu berechnen haben, es gilt in jedem Falle, dass sie rechnen müssen: Als Erkenntnissubjekte haben sie sich auf frappierende Weise ihrem Erkenntnisobjekt – dem Homo oeconomicus – anzugleichen. Unterhalb der Schwelle bewusst kalkulierender Wahrnehmung liegt der Eisbergmetapher zufolge ausschließlich das dunkle Reich der Irrationalität. Hier, so Kahneman, treffen Menschen ihre Entscheidungen zwar blitzschnell und mühelos, zugleich aber nicht zu ihrem Besten – zumindest sofern kalkulatorische Maßstäbe angelegt werden. George Akerlof und Robert Shiller, ebenfalls Verhaltensökonomen, sprechen gar von »Affen auf den Schultern«, die den Menschen einflüstern, was sie zu tun hätten – stets ohne bemerkt zu werden und zumeist gegen deren wohl kalkulierte Interessen. Diese im Dunkeln liegende Masse unbewusster Weisen des Erkennens soll vornehmlich aus stillschweigend verinnerlichten Gewohnheiten bestehen, gespeist etwa durch das nahezu reflexhafte Verarbeiten von Sprache, das seinerseits quasiautomatisch durch ebenfalls unbewusste Vorlieben, Emotionen und weltanschauliche Überzeugungen getriggert sein soll. ELITENGESTEUERT STATT BILDUNGSFÄHIG
Da das Unbewusste als prinzipiell der Reflexion unzugänglich gilt, scheint in seinem Bereich keinerlei aufklärerische Bildung möglich. Ein neues Verständnis sprachlich gefasster Konzepte ebenso wie Reaktionen darauf können etwa, so formulieren es Gregory Mankiw und Mark Taylor als Autoren eines der wichtigsten ökonomischen Standardlehrbücher weltweit, lediglich in einer Art »epistemischem Hürdenlauf« antrainiert werden, der von Studierenden freilich unbewusst zu absolvieren ist. Auch etwa das Change Management spricht davon, Denk- und Verhaltensänderungen bei anderen Menschen dadurch zu bewirken, dass der vermeintliche Eisberg des Unbewussten durch unterschwellige Methoden gelenkt und dadurch aufgetaut, verflüssigt und dann bewegt wird, bevor er in den neuen – gewünschten – Strukturen und Mustern wieder eingefroren wird. Wie dies in der ökonomischen Standardlehre funktioniert, habe ich an anderer Stelle gezeigt. Abseits solcher Bemühungen erscheint gerade der Verhaltensökonomik eine Bildung der allermeisten Menschen schlicht als sinnloses Unterfangen – nicht nur zu langwierig und zu aufwendig, sondern aufgrund der vermeintlichen Herrschaft des Unbewussten auch systematisch unmöglich. Vielmehr imaginiert sie eine Elite, welche die »Affen auf den Schultern« anderer Menschen in Form von Reiz-Reaktionen (die Verhaltensökonomik spricht von »nudges«) unbemerkt in die »richtige« Richtung dressiert – wobei über die »Richtigkeit« auch nur sie selbst entscheiden können soll. Cass Sunstein und Richard Thaler sprechen offen von einem »libertären Paternalismus«, in dem sogenannte »Entscheidungsarchitekt*innen« den Rahmen für das Verhalten der Masse setzen sollen. Woher die Kreativität und die Moral jener Elite kommen sollen, um all die »Affen auf den Schultern« zu dressieren, bleibt dabei geheimnisvoll. In den Standardlehrbüchern jedenfalls findet sich dazu nichts. EIN GRUNDLEGENDER METAPHERNWECHSEL
Meines Erachtens ist die Standardökonomik hier in eine Sackgasse geraten. Denn ihre erkenntnisleitende Metapher des Eisbergs ist schlicht irreführend. Stattdessen schlage ich vor, menschliches Erkennen und Entscheiden nicht mehr wie einen massiven, erstarrten Block zu beschreiben, der sich kategorisch nur in einen sichtbaren, bewussten und einen unsichtbaren, unbewussten Teil zweiteilen lässt. Menschliche Erkenntnis mag tatsächlich manchmal starr sein, aber ihre grundsätzliche Natur ist dies nicht: Wir Menschen sind dazu in der Lage, unser Erkennen von innen heraus und damit freiwillig immer wieder zu verflüssigen, um es in steten Wechselbeziehungen zu unseren Erfahrungen des konkreten Lebens und seinen Anforderungen aktiv umzugestalten. Richtig ist, dass es uns zumeist vorkommt, als vollzögen sich solche dynamischen und kreativen Prozesse wie unterhalb des rationalen Erkennens. Doch sie sind deswegen nicht unbewusst und damit...