Höller / Larcati | Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Höller / Larcati Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag

Die Geschichte von "Böhmen liegt am Meer"
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97467-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Geschichte von "Böhmen liegt am Meer"

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-492-97467-7
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ingeborg Bachmann hat von ihrem schönsten Gedicht »Böhmen liegt am Meer« gesagt, sie könne gar nicht glauben, dass sie es selbst geschrieben habe. Alles, was ihr Leben und Schreiben ausmacht, steht in diesem Gedicht. Die Entstehungsgeschichte gerade dieses Gedichts ist staunenswert und berührend: Ein Jahr nach der Trennung von Max Frisch und ihrem Zusammenbruch reiste die Dichterin im Jänner 1964 mit einem jungen Begleiter von Berlin nach Prag. Dieser Reise verdanken wir nicht nur »Böhmen liegt am Meer«, sondern einen bisher unbemerkt gebliebenen Gedichtzyklus. Hans Höller und Arturo Larcati, beide Herausgeber der Salzburger Bachmann Edition, leuchten die biografischen Hintergründe dieses Zyklus aus.
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Die Geschichte der Reise nach Prag
Am 16. Jänner 1964 reiste Ingeborg Bachmann gemeinsam mit dem jungen österreichischen Schriftsteller und Filmemacher Adolf Opel von Berlin nach Prag. Sie fuhren mit dem Zug, da sie die tags zuvor angetretene Reise mit dem Wagen wegen des starken Schneefalls abbrechen mussten. Sie blieben für eine Woche. Es war eine erst kurze Bekanntschaft, er hatte auf ihre Einladung hin die Schriftstellerin am Sonntag, 5. Jänner, um 16 Uhr in ihrer Wohnung in der Koenigsallee 35 in Berlin-Grunewald besucht. Adolf Opel hat dieses Treffen und die beiden gemeinsamen Pragreisen im Jänner und Februar 1964 und die im Frühjahr 1964 unternommene gemeinsame Ägyptenreise in einem Erinnerungsbuch dokumentiert.[7] Es gibt keinen Grund, an seinen Erinnerungen zu zweifeln, da der Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann erhalten ist, der seine Aufzeichnungen bestätigt. Liest man diese Briefe und denkt man an die Bedeutung dieser Reisen für das Leben und Werk der Schriftstellerin, wird man dem jungen Mann dankbar sein müssen, dass er sie zum Mitreisen einlud. Ingeborg Bachmann hat ihm mehrmals brieflich ihre Dankbarkeit bekundet, in der ersten Fassung von »Böhmen liegt am Meer«, die diesen Titel trägt, hat sie eine unvergängliche Würdigung seiner Person hinterlassen. Ohne ihn gäbe es die Gedichte der winterlichen Reise nach Prag nicht, es gäbe nicht »Böhmen liegt am Meer« und genauso wenig Das Buch Franza, auch wenn der Ägypten-Roman unvollendet blieb. Dass Franza im Roman ihren Bruder Martin bat, sie, die schwer Erkrankte, doch mitzunehmen auf eine Reise, deren Erlebnisse der realen Reise mit Adolf Opel folgen, zeigt die lebens- und werkgeschichtliche Bedeutung, die er für die Schriftstellerin hatte. Er war für sie als Reisebegleiter umso notwendiger, als sie an seiner Seite krank sein durfte, sich von ihm unterstützt fand und er damals für sie das Leben bedeutete. Drei Wochen nach der Rückkehr von der zweiten Reise nach Prag teilte sie ihm mit, dass sie »immer, wenn gar nichts mehr hilft«, daran denke: »daß Sie keineswegs meine Medizin, sondern mein Leben sind, in diesen Augenblicken sicherlich, und daß mir Ihretwegen noch etwas daran liegt, eines zu haben und bald immer mehr davon zu haben.«[8] Nach der ersten Prag-Reise hatte sie ihm am 12. Februar 1964 geschrieben: »[. . .] es kommt mir zum erstenmal vor, daß ich die Vergangenheit überwinden kann, denn wenn Prag auch ein Wunder war, so wirken doch Wunder nicht immer gleich.«[9] Mehrmals hat Ingeborg Bachmann den Franza-Roman als »Reise durch eine Krankheit« bezeichnet, in keinem anderen Buch hat sie so viel von der physischen Gewalt ihrer Suchtkrankheit – einer schweren Medikamentenabhängigkeit – preisgegeben, aber letztlich sind fast alle Prosawerke der Sechzigerjahre, der erste Todesarten-Roman, das Wüstenbuch, Ein Ort für Zufälle, Das Buch Franza, Das Buch Goldmann und auch Malina, der einzige fertiggestellte und zu Lebzeiten erschienene Roman, Bücher über die Wirkungen von lebensbestimmenden Schocks und von nicht zu überwindenden psychischen Verletzungen. Die textgenetisch entscheidende zweite Fassung, die schon die spätere Gestalt des Gedichts erkennen lässt und zum ersten Mal den Titel »Böhmen liegt am Meer« trägt, dokumentiert für immer den Dank an den »einzigen«, der sie »nach Böhmen begleitet hat«. Die Autorin zitiert mit »To the only begetter« die berühmte Widmung der Shakespeare-Sonette an den unbekannten jungen Mann, der sie ›gezeugt‹ hat, so dass Shakespeare als literarischer Begleiter der Dichterin an die Seite tritt. Er spielt in dem im Shakespeare-Jahr 1964 begonnenen Gedicht eine besondere literarische Rolle. Der Titel »Böhmen liegt am Meer« verdankt sich der »Scene III. Bohemia. A desert country near the Sea«, in The Winter’s Tale. Bachmann nimmt noch andere Verweise auf Shakespeare-Komödien in das Gedicht auf: »Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren« spielt auf Verlorne Liebesmüh (Love’s Labour’s Lost) an, und die »Illyrer, Veroneser / und Venezianer alle« rufen die Personnagen und die Schauplätze anderer Shakespeare-Stücke in Erinnerung. In Shakespeares Wintermärchen heißt eine Zentralgestalt Perdita, die Verlorene. »Die Verlorene« und »verloren« gehören zu den beziehungsreichsten Wörtern im Werk Bachmanns insgesamt, nicht zuletzt auch in »Böhmen liegt am Meer«. »Verlorne«, das war die Namen-Chiffre, die Paul Celan im Gedicht »Weiß und leicht« für sie verwendete, was er ihr im Brief vom 16. Oktober 1957 mitteilte. »Als ich ›Weiß und Leicht‹ schrieb – es dauerte Tage und Tage –, kam dann, ganz zuletzt, das Wort ›Verlorne‹ herein. Ich wußte sofort, daß Du es warst, ich versuchte mich zu wehren – aber Du mußtest bleiben, um der Wahrheit willen.«[10] In einem anderen Gedicht aus diesen Tagen, als sie einander nach einer langen Trennung wiedergefunden hatten, steht die schöne paradoxe Wendung für ihrer beider Daheimsein im Fremden: »Verbannt und Verloren / waren daheim.«[11] Möglich, dass Ingeborg Bachmanns scheinbar unbedachte Zustimmung, noch im Jänner 1964 nach Prag mitzureisen, auch mit einer unerledigten Verpflichtung zu tun hatte, die sie vierzehn Tage vor dem Treffen mit Adolf Opel eingegangen war. Richard Buckle, der Direktor von »The Shakespeare Exhibition 1964«, hatte sie in einem Schreiben vom 11. November 1963 eingeladen, zum 400. Geburtstag des englischen Dramatikers einige Gedichte zu schreiben. »My intention is«, schrieb er ihr, »to invite yourself, two or three English poets, George Seferis« – der griechische Dichter, der 1963 den Nobelpreis erhalten hatte –, »possibly Yevtuschenko, a Frenchman, and so on.«[12] Ingeborg Bachmann reagierte in ihrem Antwortbrief vom 21. Dezember 1963 sehr erfreut auf diese für sie ehrende Einladung: »I am very pleased to be invited with these few other poets to contribute to your Catalogue.«[13] Vielleicht hatte sie, als sie ihre Zusage schrieb, bereits an das Wintermärchen als Bezugspunkt ihrer Shakespeare-Referenz in dem versprochenen Beitrag gedacht. Die unvermittelt auftauchende Anspielung auf »Böhmen liegt am Meer« und das Wintermärchen in Bachmanns »Todesarten«-Fragment »«, das die Herausgeber des »Todesarten-Projekts« auf 1962/1963 datieren, ist wahrscheinlich zeitlich später anzusetzen, denn die Beschäftigung mit dem Wintermärchen dürfte auf diese Einladung zurückgehen. Dort erzählt Eugen, die männliche Zentralgestalt im Roman, warum man ihn in der Schule »Florizel« nannte: »Das ist so gekommen, wir haben Wintermärchen gelesen, Sie kennen < > / Der Mann sagte: Böhmen liegt am Meer. /Eugen sagte: Ja, Böhmen liegt am Meer, und damit ist auch schon alles gesagt.«[14] Ingeborg Bachmann wird zum Zeitpunkt der Einladung zur Pragreise Anfang 1964 auch bereits Paul Celans Gedicht »Windmühlen« gekannt haben, das in seinem im Oktober 1963 erschienenen Lyrikband Die Niemandsrose (1963) enthalten ist. Celan hatte ihr das bevorstehende Erscheinen des Gedichtbands in seinem Brief vom 21. September 1963 angekündigt, und es ist unwahrscheinlich, dass sie jenes Gedicht nicht gelesen hat, in welchem Shakespeares Wintermärchen vorkommt und der Gedanke einer Reise nach Prag zum Grab von Franz Kafka: wie heißt es, dein Land hinterm Berg, hinterm Jahr? Ich weiß, wie es heißt. Wie das Wintermärchen, so heißt es, es heißt wie das Sommermärchen, das Dreijahreland deiner Mutter, das war es, das ists, es wandert überallhin, wie die Sprache, wirf sie weg, wirf sie weg, dann hast du sie wieder, wie ihn, den Kieselstein aus der Mährischen Senke, den dein Gedanke nach Prag trug, aufs Grab, auf die Gräber, ins Leben, [. . .].[15] Als Adolf Opel bei dem Treffen mit der Autorin am 5. Jänner 1964 von seiner bevorstehenden Pragreise erzählte und sie, für ihn unerwartet, sofort bereit war mitzukommen, können alle diese literarischen Reminiszenzen mitgespielt haben. Aus Ingeborg Bachmanns Briefen an Adolf Opel spricht aber noch ein anderer Wunsch, der ihre rasche Zustimmung zu der Reise noch triftiger begründet: endlich aus der nun schon mehr als ein Jahr sich hinziehenden Krankheit herauszukommen und die »Liebesmüh«, anders als im dritten Vers des ›Böhmen-Gedichts‹, nicht »in alle Zeit verloren« zu geben. Und noch etwas anderes dürfte sie aus Berlin nach Prag gelockt haben: eine Stadt des alten Österreich, das ihr von Berlin aus nur umso anziehender erscheinen musste. Der erste Todesarten-Roman, an dem sie seit 1962 schrieb und aus dem dann 1964 Das Buch Goldmann hervorging, war ein...


Larcati, Arturo
Arturo Larcati ist Professor an der Universität Verona. Er arbeitet an der Salzburger Bachmann Edition mit.

Höller, Hans
Der Herausgeber Hans Höller, geboren 1947, lehrt als Professor für Germanistik an der Universität Salzburg und hat u.a. Ingeborg Bachmanns »Letzte Gedichte« herausgegeben sowie zahlreiche Monographien über sie veröffentlicht. Seit 2014 arbeitet er am Salzburger Literaturarchiv als federführender Gesamtherausgeber an der Ingeborg-Bachmann-Werkausgabe.

Hans Höller, geboren 1947, lehrte als Professor für Germanistik an der Universität Salzburg. Er gilt als einer der herausragenden Kenner des Bachmann'schen Werks und ist Mitherausgeber der großen Gesamtausgabe, deren erster Band im November 2016 erscheinen wird. Neben zahlreichen Monographien und wissenschaftlichen Arbeiten gab er bei Piper "Briefe einer Freundschaft. Ingeborg Bachmann und Hans-Werner Henze" heraus.



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