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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Hörisch Hände

Eine Kulturgeschichte
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-446-27066-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Kulturgeschichte

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-446-27066-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Von Goethes Faust bis zum Handspiel – Nicht nur als Sinnesorgan und Werkzeug spielt die Hand eine zentrale Rolle, sondern auch in Geschichte und Literatur.

Sie greift und tastet, streichelt und schlägt, begrüßt und schließt Verträge: Kein Körperteil ist so vielseitig wie die Hand. In der Sprache finden wir unzählige Beispiele für ihre herausragende Rolle: Wir nehmen eine Sache in die Hand, etwas lässt sich nicht von der Hand weisen und ein Ziel wäre zum Greifen nahe, hätten wir nur nicht zwei linke Hände. Jede Epoche verbindet ihre eigenen Vorstellungen mit der Hand – und wenn wir Maschinen immer häufiger mit der Sprache steuern, sagt das viel über den Wandel, den wir durchleben. Jochen Hörisch führt uns die ganze Vielfalt der Hände vor, die uns in der Literatur und in der Geschichte der Ideen begegnen.

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PHÄNOMENOLOGIE DER HAND     ANTHROPOLOGIE DER HAND
  Hände sind, nach einer glücklichen Formulierung von Friedrich Schlegel, die »ersten und letzten Fühlhörner der Vernunft«.1 Im Kapitel Charakteristik der kleinen Wilhelmine seines 1799 erschienenen Romans Lucinde spielt Schlegel mit den Worten »erfassen«, »begreifen«, »durchdringen« und »zergliedern«, die kognitive Operationen bezeichnen und dabei geradezu überdeutlich auf Fähigkeiten der Hand verweisen,2 und dann heißt es: »Indessen ist es doch schon ein interessantes Schauspiel, wenn ein geistreiches Kind ein Ebenbild von sich erblickt, es mit Händen zu begreifen und sich durch diese ersten und letzten Fühlhörner der Vernunft zu orientieren strebt.« Die Wendung von Händen als »Fühlhörnern der Vernunft« zielt deutlich gegen Kants Kritik der reinen Vernunft, denn die unterscheidet ja gerade strikt zwischen den zwei Stämmen der Erkenntnis: der Sinnlichkeit beziehungsweise den Sinnesdaten, zu denen auch die taktilen Daten zählen, und dem Verstand, der Anschauungen begrifflich ordnet. Vernunft als das Vermögen, Verstandesoperationen zu synthetisieren und Bewusstsein von Bewusstsein, also Selbstbewusstsein zu prozedieren, ist vom taktilen Fühlen denkbar weit entfernt. Die Formel »ich fühle (Schmerz, Lust, Widerstand et cetera), also bin ich« ist die ebenso schlichte wie weitreichende Alternative zum cartesianischen »cogito ergo sum«. Gegen das reinliche Theoriedesign der cogito-Tradition knüpft Schlegel an die Geschichte der anticartesianischen Intuition an, dass der Körperteil, der greift, begreift und Orientierung gibt, eine enge Beziehung zur Vernunft unterhält, ja sogar die empirische Bedingung der Möglichkeit von Vernunft ist. In einer Sprache, die in der Goethezeit noch nicht zur Verfügung stand, lässt sich diese ebenso intime wie spannungsreiche Beziehung zwischen der Körperextremität, die da Hand heißt, und der Schaltzentrale des Menschen, dem Hirn, als Resultat ihrer Koevolution charakterisieren. Das 1861 gegründete und alsbald berühmteste Technologieinstitut der Welt, das MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston, gibt schon in seinem Siegel zu erkennen, dass es auf die Kooperation und Koevolution von Geist und Hand setzt. »Mens et manus« ist auf der Banderole unter dem Sockel zu lesen, auf dem »science and arts« ihr Rendezvous haben. Bemerkens- und bedenkenswert ist allerdings, dass die beiden Figuren links und rechts von diesem Sockel einander den Rücken zuwenden. Die eine lässt auf einem Amboss den Hammer ruhen, den sie offenbar zuvor geschwungen hat; die andere liest entspannt in einem Buch. Beide gehören ersichtlich zusammen, wollen aber genau dies nicht recht zur Kenntnis nehmen; ihre Blicke schweifen voneinander weg, es gibt kein shakehands. Die Zusammengehörigkeit von mens und manus ist der (in diesem Siegel wahrgenommene!) blinde Fleck der Humantechnologie und der Anthropotechnik.     Siegel des Massachusetts Institute of Technology   Über die Einsicht in den komplexen Zusammenhang zwischen Hand und Hirn verfügt schon gut zwei Jahrtausende vor der Gründung des MIT und der Evolutionsbiologie, wie Darwin sie begründet hat, die vorsokratische Weisheit. »Der Mensch ist das klügste aller Wesen, weil er Hände hat«,3 formuliert pointiert Anaxagoras. Der spätantike Bischof und Kirchenvater Gregor von Nyssa verfügt über eine verwandte und komplex entfaltete These. In seinen Sermones de creatione hominis, die um 379 n.Chr. entstanden sind, heißt es: »Und doch hat die Natur vor allem um der Sprache willen unserem Körper Hände beigegeben. Hätte der Mensch keine Hände, so wäre sein Gesicht wie das der Vierfüßer geformt, damit er sich ernähren kann. (…) Wenn der Körper keine Hände besäße, wie sollte sich da in ihm eine artikulierte Stimme bilden? Die Konstitution der um den Mund gelegenen Partien entspräche dann nicht den Erfordernissen der Sprache. In diesem Fall müßte der Mensch blöken, Schreie ausstoßen, bellen, wiehern, wie die Rinder oder Esel schreien oder brüllen wie die wilden Tiere.«4 Ähnlich argumentiert mehr als ein Jahrtausend später Giordano Bruno in seinem religionskritischen, spöttisch-brillant formulierten, im Oxforder Exil entstandenen Traktat Cabala (1585). Darin stellt er folgendes Gedankenexperiment vor: »Was wäre, wenn man annähme, dass der Mensch über doppelt so viel Begabung (ingenium) verfügte, und dass ihm der intellectus agens noch viel heller leuchtete, als er ihm leuchtet, und dass mit all dem seine Hände in die Form der zwei Füße verwandelt werden, und im übrigen alles andere völlig normal belassen würde; sage mir, wo das Zusammenleben der Menschen gefahrlos (impune) sein könnte, wie sich Sippschaften und Familienverbände gründen könnten, die (…) dauerhafter als jene der Pferde, Hirsche, Schweine wären: ohne so von unzähligen (anderen) Tierarten gefressen zu werden und derart größerem und sicherem Untergang geweiht wären? Und wo wären folglich die Gründungen der Lehren, die Erfindung der Wissenschaften, die Bürgerversammlungen, die Gebäudekomplexe und vielerlei andere Dinge, die menschliche Größe und Vollkommenheit kennzeichnen, und den Menschen zum wahrhaft unüberwindlichen Sieger über die anderen (Tier-)Arten machen. All dies, wenn du es aufmerksam betrachtest, orientiert sich nicht vor allem am Diktat der Begabung, sondern an jenem der Hand, die das Organ der Organe ist.«5 Die Hand als Organ der Organe: In seinem 1964 erschienenen Standardwerk Hand und Wort (franz.: Le geste et la parole)6 hat der Paläoanthropologe André Leroi-Gourhan wiederholt auf die Geschichte dieses Theorems und insbesondere auf die frommen Sermones des Gregor von Nyssa hingewiesen, um sie sodann anthropologisch fortzuschreiben. Seine leitende These kommt schnell auf den Punkt und hat sich durchgesetzt: »Die Hand setzt die Sprache frei – und eben zu dieser Erkenntnis führt die Paläontologie.«7 Menschen unterscheiden sich von anderen Tieren mit vier Extremitäten durch ihren aufrechten Gang, durch ihr im Vergleich etwa zu Wölfen, Schafen, Pferden »kurzes Gesicht« und vor allem durch die bei der Fortbewegung freien Hände. »Die Freiheit der Hand führt fast notwendig zu einer technischen Aktivität, die von der des Affen unterschieden ist; ihre Freiheit bei der Fortbewegung verlangt im Verein mit dem kurzen Gesicht und dem Fehlen offensiver Reißzähne die Verwendung künstlicher Organe, von Werkzeugen also. Aufrechter Gang, kurzes Gesicht, Hände, die bei der Fortbewegung frei bleiben, und der Besitz beweglicher Werkzeuge, dies sind in der Tat die fundamentalen Merkmale der Menschheit.«8 Freie, eben auch bei Fortbewegung freie Hände sind die Bedingung der Möglichkeit der spezifisch menschlichen Hirnleistungen. Wer Menschen in aristotelischer Tradition oder in idealistischer Fokussierung vor allem als zoon logon echon oder als Wesen begreift, die im Selbstbewusstsein ihr Zentrum haben, vergisst die exzentrische Extremität der beiden Hände, die dieses selbstbewusste Zentrum erst freisetzen. »Das Verhältnis von Gesicht und Hand ist in der Entwicklung des Gehirns ebenso eng wie zuvor: das der Hand zugeordnete Werkzeug und die dem Gesicht zugehörige Sprache bilden nur verschiedene Pole der gleichen Einheit.«9 Leroi-Gourhan verzichtet seltsamerweise darauf, sein Theorem schrifttheoretisch auszubauen. Mit der Entwicklung von Zeichensystemen, die von Händen freigesetzt und aufgezeichnet werden, zumal mit der Entwicklung von Handschriften können Menschen die elementare Erfahrung »Ich höre mich sprechen« (also lebe ich) durch die des »Ich sehe mich schreiben« beziehungsweise »Ich sehe, was ich oder andere geschrieben haben« ergänzen – ein Akt der Selbstdistanzierung und der Gewinnung von komplexer Zeitlichkeit (»Diese meine Zeichen bleiben, auch wenn ich mich nicht mehr sprechen höre«). Dass die Erlernung und Einübung einer Handschrift erheblich zur Ausbildung illuminierter Selbstverhältnisse beiträgt, ist im Zeitalter der Tastaturen und des Tippens stets erneut eine Erinnerung wert.10 Seltsam ist es allerdings auch, feststellen zu müssen, dass nicht nur die mit Berührungsangst gegenüber anthropologischen Argumenten ausgestattete Vernunftphilosophie, sondern auch die Anthropologie selbst weitgehend der Handvergessenheit anheimgefallen ist. Um nur zwei Belege anzuführen: Weder im 1973 erschienenen Band Kulturanthropologie11 noch im 2009 erschienenen Handbuch Anthropologie12, das ja immerhin ein Hand-Kompositum im Titel trägt, finden sich Artikel unter dem Stichwort »Hand«; der Begriff ist im letztgenannten Werk nicht einmal im Sachregister angeführt. Auch in der traditionellen Anthropologie ab Herder kommen Analysen menschlicher Handfertigkeiten nur implizit vor. Aber sie sind gewissermaßen nicht vermeidbar; die Geistaffinität der menschlichen Hand läuft als Hintergrundtheorem mit, wenn Herder seine Analysen der prekären Nöte und Fähigkeiten des Menschen entfaltet. »Die Sinne selbst (inklusive Tastsinn, J.H.) sind geistvoll strukturiert«,13 formuliert im Anschluss an Helmuth Plessner der Anthropologe Günter Dux. Damit greift er ein Motiv auf, das schon Herder in seiner 1772 erschienenen Abhandlung über den Ursprung der Sprache vorgetragen hat und das der Anthropologe Arnold Gehlen im 20. Jahrhundert ins Zentrum seiner...


Hörisch, Jochen
Jochen Hörisch, Jahrgang 1951, war Professor für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim. Er ist Mitglied mehrerer Akademien und lebt in der Nähe von Mannheim. Im Carl Hanser Verlag erschien zuletzt: Tauschen, sprechen, begehren. Eine Kritik der unreinen Vernunft (EA, 2011).



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