Holst | Im Schatten des Marktes | Buch | 978-3-593-39406-0 | sack.de

Buch, Deutsch, 267 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 344 g

Holst

Im Schatten des Marktes

Arbeit und Arbeitsbeziehungen in Callcentern
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-593-39406-0
Verlag: Campus

Arbeit und Arbeitsbeziehungen in Callcentern

Buch, Deutsch, 267 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 344 g

ISBN: 978-3-593-39406-0
Verlag: Campus


Die Callcenter-Branche hat einen schlechten Ruf: Der Verdienst ist häufig niedrig, selbst dort, wo die Interessen der Arbeitnehmer
durch Betriebsräte vertreten werden. Hajo Holst untersucht, wie die von den Auftraggebern geschürte Konkurrenz zwischen Dienstleistungsunternehmen und internen Callcentern sich in den kollektiven Arbeitsbeziehungen der gesamten Branche niederschlägt und die Qualität der Arbeit sowie die Partizipationschancen der Beschäftigten prägt.

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Inhalt

Vorwort 11
Einleitung 13

Teil I Grundlegungen

1. Methode, Fallauswahl und Forschungsansatz 23

2. Interaktive Dienstleistungsarbeit in Callcentern 30
2.1. Das Produkt - Telefonische Kunden-Kommunikations-Dienstleistungen 31
2.2. Die Arbeit - Interaktive Dienstleistungsarbeit in den Kundenschnittstellen 34
2.3. Die Position externer Callcenter - Fremdvergabe in hierarchisch gesteuerten Wertschöpfungsketten 36

3. Die Branche - Formierung eines neuen Wirtschaftszweigs 41
3.1. Die Etablierungsphase (1990 bis 1995) - Rationalisierung der Sachbearbeitung 44
3.2. Die Expansionsphase (1996 bis 2001) - Neue Betriebe und schnelles Marktwachstum 46
3.3. Die Konsolidierungsphase (seit 2003) - Übernahmen und Branchenkonstitution 49

Teil II Arbeitsbeziehungen in der tariflichen Arena

4. Überbetriebliche Arbeitsbeziehungen im dualen System 55

5. Gewerkschaften als strategische Organisationen 59

6. Die Etablierungsphase - Das System der Flächentarifverträge 68
6.1. Telekommunikation - Arbeitsorganisation als sozialpartnerschaftliche Gestaltungsaufgabe 70
6.2. Versandhandel - Gewerkschaftliches "Ausklammerungshandeln" 76
6.3. Bankgewerbe - Direktbanken als Nischenphänomen 83

7. Die Expansionsphase - Spaltung der Tarifvertragssysteme 87
7.1. Telekommunikation - Interessenvertretung in einem segmentierten Organisationsbereich 91
7.2. Versandhandel - Kontinuität des "Ausklammerungshandelns" 101
7.3. Bankgewerbe - "Entdeckung" der nicht tarifgebundenen Direktbanken als gewerkschaftliches Handlungsfeld 104

8. Die Konsolidierungsphase - Fragmentierung der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen 108
8.1. Telekommunikation - Defensiver Wettbewerbskorporatismus 112
8.2.Versandhandel - Passive Interessenvertretung (fast) ohne Mitglieder 121
8.3. Bankgewerbe - Resignative Interessenvertretung 126
8.4. Externe Callcenter - Interessenvertretung mit knappen Ressourcen 130

9. Fazit - Abwärtsnivellierung der Tarifstandards und der Interessenvertretungsansätze 135

Teil III Arbeit und Arbeitsbeziehungen in der betrieblichen Arena

10. Arbeit und betriebliche Arbeitsbeziehungen 147

11. Externe Callcenter als Produktionsmodelle 150

12. SatelliteCall - Flexible Kleinserienfertigung und paternalistische Arbeitsbeziehungen 163
12.1. Das Produktionsmodell flexibler Kleinserienproduktion 164
12.2. Die Spaltung der Belegschaft - Individuelle Leistungserfüllung als Integrationskriterium 168

13. SectorCall - Differenzierte Massenproduktion und autoritäre Arbeitsbeziehungen 178
13.1. Das Produktionsmodell differenzierter Massenproduktion 178
13.2. Extreme Arbeitsverdichtung und autoritäre Arbeitsbeziehungen im Standortwettbewerb 182

14. QualityCall - Diversifizierte Qualitätsproduktion und hierarchische Arbeitsbeziehungen 193
14.1. Das Produktionsmodell diversifizierter Qualitätsproduktion 194
14.2. Entsubjektivierung interaktiver Dienstleistungsarbeit und formalisierte Herrschaftsbeziehungen 198

15. Fazit - Der hohe Preis der Marktungewissheit 211

16. Schluss - Marktzentrierte Kontrolle von Arbeit und Arbeitsbeziehungen 220

Abkürzungsverzeichnis 241
Literatur 242


Einleitung

Callcenter und die von ihnen erbrachten Dienste genießen seit einigen Jahren große öffentliche Aufmerksamkeit. Nachdem die Branche lange Zeit als "Jobmotor" gefeiert wurde, hat sich die Berichterstattung in den Medien zuletzt stärker auf die negativen Seiten des Callcenter-Booms konzentriert. Im Fokus der journalistischen Kritik standen dabei die Interessen der Verbraucher in ihrer Rolle als - zum Teil unfreiwillige - Kunden: Von der Zeit wurden Callcenter als "Beratungshöllen" bezeichnet (von Becker 2006), vom Stern als "Plage der Nation" (Steinhoff 2005) und der Spiegel kritisierte die "kriminellen Machenschaften" vieler Akteure (Brandt et al. 2008). Überlange Verweildauern in Warteschleifen, lückenhafte oder falsche Informationen in Beratungsgesprächen und offener Gesetzesbruch beim Handel mit Adressen stehen in deutlichem Kontrast zu dem "Serviceversprechen", das Callcentern von Unternehmen, Verbänden und Beratern zugeschrieben wird. Soziologisch setzt die aus der Verbraucherperspektive formulierte Kritik an einem Grunddilemma profitorientierter Dienstleistungsproduktion an: Zwischen betriebswirtschaftlicher Effizienz und Servicequalität besteht ein unauflöslicher Widerspruch. Die kritisierten Praktiken der Callcenter verdeutlichen, dass Servicequalität und Kundenfreundlichkeit immer wieder Gefahr laufen, zugunsten kurzfristiger Profitinteressen geopfert zu werden. So berechtigt die journalistische Kritik an der Arbeit der Callcenter und die aus den Problemen abgeleitete Forderung nach einer stärkeren politischen Regulierung der Branche auch sein mögen: Ein zentraler Aspekt wird dabei ausgeblendet - und zwar die Arbeit in Callcentern. Verbraucher haben es bei ihren Telefonkontakten nicht mit abstrakten Organisationen zu tun, sondern mit der Arbeit von konkreten Menschen. Ein in den Augen des Kunden gelungenes Beratungsgespräch ist genauso das Produkt lebendiger Arbeit wie ein unerwünschter Anruf zu nachtschlafender Zeit oder ein Verkaufsgespräch, in dem relevante Informationen vorenthalten werden. Eine ernsthafte soziologische Auseinandersetzung mit den von und in Callcentern produzierten Dienstleistungen muss somit an einer Analyse der von den Arbeitenden in den Kundenschnittstellen geleisteten Arbeit ansetzen - und damit an den betrieblichen Steuerungspraktiken und an den sozialen Beziehungen, in die die Dienstleistungsarbeit eingebettet ist.
Einen ersten Ausgangspunkt und schlaglichtartigen Einblick in die Arbeit und die Arbeitsbeziehungen in Callcentern liefert eine von Günter Wallraff vorgelegte Sozialreportage. Zwar liegt auch bei Wallraff der Fokus der Kritik auf den Auswirkungen der Arbeit der Callcenter auf die Verbraucher, aber im Nebeneffekt zeichnet er ein eindrucksvolles Bild der betrieblichen Steuerung der Arbeit und der Austauschbeziehungen zwischen Management und Beschäftigten. In einem Interview fasst der Autor die Ergebnisse seiner Sozialreportage folgendermaßen zusammen:

"Die Callcenter-Agenten sind die neuen Arbeitssklaven. Die Abschlüsse sind auf Tafeln vermerkt und wenn der Agent sieht, dass er nicht mehr nachkommt, weil er zu anständig telefoniert, dann legt er natürlich einen Zahn zu. Das Infame ist, dass er letztendlich das volle juristische Risiko trägt, falls es zu einer Klage kommt. Denn die Firmen lassen sich von ihren Mitarbeitern häufig unterschreiben, dass diese sich an Recht und Gesetz halten. Aber wenn sie das tun, machen sie keine Abschlüsse. Es ist ein sich selbst regulierendes Kontrollsystem." (Wallraff 2007)

In diesem trotz seiner journalistischen Herkunft analytisch gehaltvollen Befund laufen mehrere einflussreiche soziologische Zeitdiagnosen zusammen, die allesamt, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven, einen erheblichen Bedeutungszuwachs des Markts für die Verteilung von Erwerbs- und Lebenschancen sowie für die Qualität der Arbeit im gegenwärtigen Kapitalismus konstatieren (allgemein: Dörre 2009, Dörre/Röttger 2003, Sennett 2006, Sauer 2005): die Re-Kommodifizierung der Arbeitskraft, die zunehmende Marktsteuerung der Arbeit und die Auflösung von Unternehmensgrenzen. Der Ausdruck "Arbeitssklaven" verweist auf die gestiegene Abhängigkeit der Subjekte vom Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Der Rückbau sozialstaatlicher und tarifpolitischer institutioneller Schutzmechanismen und die Deregulierung des Arbeitsmarkts haben eine Re-Kommodifizierung der Arbeitskraft mit sich gebracht. Darüber hinaus reduzieren Trends wie die Erosion der Mitbestimmung und der verschärfte internationale Standortwettbewerb die Partizipationschancen der Arbeitskräfte im Betrieb (Castel 2000, Haipeter/Banyuls 2007, Vogel 2009). Die Tafeln, auf denen im Callcenter für alle einsehbar die "Abschlüsse" verzeichnet werden, sind ein charakteristischer Ausdruck des Wandels der Steuerungsformen von Arbeit. Immer häufiger wird die Arbeit der Beschäftigten nicht mehr durch hierarchische Anweisungen gesteuert, stattdessen wird den Arbeitskräften die Ergebnisverantwortung übertragen und ihre Arbeitsleistung anhand eines internen Wettbewerbs oder des externen Marktergebnisses bewertet. Welche Mittel die Beschäftigten zum Erreichen der vorgegebenen Ziele einsetzen, bleibt ihnen dabei mehr oder weniger selbst überlassen (Dörre et al. 1993, Kratzer 2003, Marrs 2008, Moldaschl/ Sauer 2000). Und die Tatsache, dass den Beschäftigten nicht nur die moralische, sondern qua Vertrag auch die juristische Verantwortung für ihre eigene Arbeit zugeschrieben wird, zeugt von einer Neujustierung von Organisationsstrukturen, die auch als Öffnung der (Außen-)Grenzen zum Markt beschrieben wird. Marktprinzipien werden internalisiert, Betriebs- und Unternehmensgrenzen durchlässig, und starre Firmenbürokratien durch flexible Netzwerkstrukturen ersetzt (Sauer 2005, Kratzer 2003, Brinkmann 2003, Windeler 2001).
Ließen sich die Ergebnisse der Wallraffschen Sozialreportage verallgemeinern, dann hätten wir es bei den Callcentern mit einem Prototyp der Arbeit und der Arbeitsbeziehungen im flexiblen und marktgetriebenen zeitgenössischen Kapitalismus zu tun (ähnlich: D'Alessio/Oberbeck 1999, Kock 2002). Arbeitende, die häufig nicht einmal über einen formalen Arbeitsvertrag verfügen, verrichten in Betrieben, in denen keine transparenten und verlässlichen Mitbestimmungsstrukturen existieren, Dienstleistungsarbeit, die nahezu ausschließlich nach dem Marktergebnis bewertet wird. Angesichts der beschränkten empirischen Basis von zwei Betrieben und der politisch motivierten Herangehensweise des Autors stellt sich jedoch die Frage: Wie verallgemeinerbar sind seine Diagnosen? Welchen Einfluss hat der Markt tatsächlich auf die Arbeit und die Arbeitsbeziehungen in Callcentern? Ein Blick in die arbeits- und industriesoziologische Forschung hilft hier nur wenig weiter. Die Arbeitsbeziehungen stellen faktisch einen weißen Fleck der deutschen Callcenter-Forschung dar (Ausnahme: Kock 2002, Kutzner/Kock 2003). Über die betrieblichen Austauschprozesse zwischen Management und Betriebsrat liegen keine vergleichenden Studien vor, und auch die Tarifauseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern wurden nur kursorisch und in einem Teilbereich der Branche behandelt (Doellgast/Greer 2007). Dagegen ist die von den Arbeitenden in den Kundenschnittstellen geleistete Dienstleistungsarbeit zum Gegenstand verschiedener arbeitssoziologischer Analysen geworden (Holtgrewe 2002, Kleemann/Matuschek 2003b, Matuschek et al. 2007). Allerdings richtete sich das Erkenntnisziel dieser vom Anerkennungs- bzw. Subjektivierungsdiskurs inspirierten Studien vorwiegend auf den grundlegenden Charakter der Callcenter-Arbeit. Im Unterschied zur angelsächsischen, organisationssoziologisch beeinflussten Forschung wurden die betrieblichen Steuerungspraktiken dabei allenfalls am Rande thematisiert. Systematische Analysen der Steuerung der Arbeit und der realen Handlungsmöglichkeiten der Beschäftigten im Arbeitsvollzug sind bis heute rar gesät (Holtgrewe 2003: 61, Ausnahme: Matuschek et al. 2007).
Dass insbesondere die Arbeitsbeziehungen, aber auch die betriebliche Steuerung der Arbeit in Callcentern bislang kaum zum Gegenstand arbeits- und industriesoziologischer Studien geworden sind, hat mindestens zwei Ursachen. Erstens sind Callcenter in Deutschland noch ein vergleichsweise junges Phänomen. Die ersten Betriebe wurden Anfang der 1990er Jahre etabliert, noch 1995 arbeiteten weniger als 50.000 Menschen in Callcentern. Erst um die Jahrtausendwende entwickelten sie sich zu einem auch beschäftigungsmäßig bedeutsamen Wirtschaftszweig: Innerhalb weniger Jahre wuchs das Beschäftigungsvolumen auf über 300.000 Arbeitskräfte (DDV 2005, 2006). Und obwohl sich das Beschäftigungswachstum in den letzten Jahren deutlich abgeschwächt hat, stieg der Arbeitskräftebestand in Callcentern bis 2010 auf 500.000 Beschäftigte an (CCF 2010). Zweitens - und wesentlich wichtiger - war es angesichts der Vielfalt an Organisationsformen, in denen Callcenter auftreten, noch Anfang des neuen Jahrtausends sowohl unter Praktikern als auch in der Forschung umstritten, ob es überhaupt sinnvoll sei, von einer Branche im klassischen Sinne zu sprechen (Holtgrewe/Kerst 2002a). Mit Blick auf die Qualität der Arbeit und die Mitbestimmungsmöglichkeiten wurden die Unterschiede zwischen internen Callcentern und Dienstleistungsunternehmen herausgestellt (Holtgrewe/
Kerst 2002a, Kleemann/Matuschek 2003b). Während interne Callcenter aufgrund ihrer formaljuristischen Einbindung in das Mutterunternehmen zumindest in der Vergangenheit häufig in den Geltungsbereich eines Tarifvertrags fielen, gehören die externen Callcenter bzw. Dienstleistungsunternehmen bis heute zur weiterhin wachsenden "tariffreien Zone".
Die Vielfalt an Organisationsformen wurde von den Branchenverbänden auch in Anschlag gebracht, um der virulenten medialen Kritik an der Praxis von Callcentern und den Forderungen nach einer stärkeren politischen Regulierung den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Botschaft der Interessenvertreter war eindeutig: Die absolute Mehrheit der über 5.000 Callcenter in Deutschland arbeite seriös, bei den Betrieben der zitierten Sozialreportage handele es sich um vereinzelte "schwarze Schafe", die keineswegs repräsentativ für die Praktiken der Callcenter seien (Stockmann 2007, Juraschek 2007) - und damit möglicherweise auch nicht für die in dieser Branche geleisteten Arbeit. Hier setzt die vorliegende Studie an: Durch eine empirische Untersuchung der Arbeit und der Arbeitsbeziehungen in Callcentern soll eine Lücke der arbeits- und industriesoziologischen Forschung geschlossen werden. Im Zentrum der Untersuchung steht der bereits angesprochene, mutmaßlich besonders stark ausgeprägte Einfluss des Markts. Jenseits der Beschreibung idealtypischer Governance-Formen (Lütz 2003, Williamson 1975) oder der Formulierung abstrakter Paradigmen wie der "Vermarktlichung" (Sauer 2005) und der "Marktgrenzenverschiebung" (Brinkmann 2003) existiert in der Forschung weiterhin ein Mangel an empirischen Analysen der konkreten Wirk- und Transfermechanismen, durch die die realen Marktverhältnisse auf die Aushandlungsprozesse zwischen Kapital und Arbeit und die Arbeit der Beschäftigten in den Betrieben einwirken (Ausnahmen: Dörre 2002, Marrs 2008).
Denn grundsätzlich gilt: Nicht der Markt als abstrakte institutionelle Form nimmt Einfluss auf die Arbeit und die Arbeitsbeziehungen, sondern die real existierenden und damit nur situativ erfassbaren Marktverhältnisse. Damit stellt sich zum einen die Frage, wie die raum- und zeitspezifischen Konkurrenzbeziehungen auf Märkten auf die Aushandlungsprozesse zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern wirken. Durch den Fokus auf die äußere Form der Aushandlungsprozesse hat die institutionalistisch inspirierte Forschung zu den industriellen Beziehungen allerdings weder den Inhalten der Aushandlungsprozesse noch dem Einfluss der konkreten Marktverhältnisse in der Vergangenheit eine prominente Rolle eingeräumt. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stand die Frage von Kontinuität und Wandel institutioneller Strukturen. Zum anderen muss untersucht werden, wie der konkret existierende Marktdruck in den Betrieben organisatorisch kanalisiert, transformiert und intern verarbeitet wird. Auch in der arbeitssoziologischen Forschung hat der Fokus auf die abstrakte Form der Steuerung der Arbeit mitunter den Blick auf die Auswirkungen des Markts auf die Steuerungsinhalte und damit auch auf die Qualität der Arbeit verstellt. Die zentrale Fragestellung dieser Studie lautet folgerichtig: Welchen Einfluss haben die Marktverhältnisse auf die Arbeit und die Arbeitsbeziehungen in Callcentern?
Damit weicht die gewählte Perspektive explizit von Forschungsarbeiten aus dem Bereich der industriellen Beziehungen ab, die sich ausschließlich auf die Form der organisierten Aushandlungsprozesse zwischen Kapital und Arbeit konzentrieren und die dabei die materiellen Inhalte der Aushandlungen - nämlich die Regulierung der Arbeit - aus dem Blick verlieren. Über Arbeitsbeziehungen kann letztlich nur sinnvoll gesprochen werden, wenn auch ihr Gegenstand "Arbeit" in den Blick genommen wird, da es den Akteuren in den Aushandlungsprozessen in der Regel primär um die Verfolgung konkreter arbeitsbezogener Interessen geht. Das institutionelle Terrain, auf dem die Aushandlungsprozesse zwischen Kapital und Arbeit stattfinden, wird von den beiden zentralen Arenen des dualen Systems der Interessenvertretung geprägt: der tariflichen und der betrieblichen Arena. Eine Arena repräsentiert
"sowohl ein komplexes Institutionensystem, das festlegt, welche Formen, Interessen und Akteure zugelassen sind, als auch ein abgegrenztes Konfliktfeld, das den Akteuren für die Lösung spezifizierter Probleme Handlungsmöglichkeiten - mit definierten Grenzen - einräumt." (Müller-Jentsch 1997: 80)
Damit öffnet das Konzept der Arena die Analyse der Arbeitsbeziehungen auch für die materiellen Inhalte der Aushandlungsprozesse.
Gleichwohl ist der Stellenwert der beiden Arenen jedoch weder für die organisierten Aushandlungsprozesse zwischen Arbeit und Kapital noch für die Qualität der Arbeit in den Betrieben auf Dauer festgezurrt. An zwei generellen Entwicklungstrends wird deutlich, dass die Arenen des dualen Systems der Interessenvertretung nur eine relative - und damit jeweils historisch zu bestimmende - Autonomie aufweisen (zum Begriff der relativen Autonomie: Bourdieu 1998: 16ff., 2001: 48f.). Einerseits verschiebt sich durch die Erosion des Flächentarifvertrags und die Verbetrieblichung der Tarifpolitik schon seit Jahren die Balance zwischen den beiden Arenen (Müller-Jentsch 2007: 112ff., Bispinck/Schulten 2003). Zum Teil durch die von den Arbeitgebern forcierte Dezentralisierung des Tarifgefüges, zum Teil aber auch aufgrund der "betriebsnahen" Tarifpolitik von Gewerkschaften wächst das Gewicht der betrieblichen Aushandlungen. Andererseits deuten verschiedene Befunde darauf hin, dass die organisierten Aushandlungsprozesse insgesamt - und damit beide institutionalisierten Arenen des dualen Systems der Interessenvertretung - sukzessive an Bedeutung für die Qualität der Arbeit vieler Beschäftigter verlieren (Dörre 2010). Nicht nur das Wachsen einer betriebsratsfreien Zone, auch die Tendenz der Verengung der Tarifpolitik auf den Tausch von Zugeständnissen beim Lohn und der Arbeitszeit gegen befristete Beschäftigungsgarantien (Rehder 2006, Seifert/Massa-Wirth 2004) ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass immer mehr arbeitsbezogene Konflikte gar nicht erst den Weg in eine der beiden institutionalisierten Arenen des dualen Systems der Interessenvertretung finden. Offensichtlich verlieren die dekommodifizierend wirkenden Strukturen der Mitbestimmung und die kollektiven Regelungen der organisierten Arbeitsbeziehungen zunehmend an Prägekraft für die Organisation und Verfasstheit von Arbeit.


Holst, Hajo
Hajo Holst ist wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Universität Jena.

Hajo Holst ist wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie der Universität Jena.



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