E-Book, Deutsch, Band 1, 272 Seiten
Reihe: Münsterland-Krimis
Holtkötter Das Geheimnis von Vennhues
12001. Auflage 2012
ISBN: 978-3-492-95670-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Münsterland-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 1, 272 Seiten
Reihe: Münsterland-Krimis
ISBN: 978-3-492-95670-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
Erst nachdem die Dunkelheit über das Grenzgebiet hereingebrochen und außer den schwachen Lichtern hinter den Fenstern entlegener Höfe nichts mehr zu erkennen war, warf er seinen Seesack über die Schulter und machte sich auf den Weg. Auf deutscher Seite, nur wenige Kilometer vom Grenzpfahl entfernt, war das Ziel seiner Reise: die kleine Ortschaft Vennhues, die er vor langer Zeit einmal seine Heimat genannt hatte. Er wählte den Weg durch die Birkenwälder, der ihn am Ort vorbeiführte. In Vennhues fielen Fremde auf, ganz gleich, wie unauffällig sie sich benahmen. Irgendwo würde ein Hund bellen und kurz darauf ein Vorhang beiseite gezogen werden. Oder ein Bauer spähte die Straße hinunter, nachdem er einen letzten Gang durch seine Stallungen gemacht hatte. Gleich hinter der Grenze gab es ein Traktoren-Werk, damals ein kleiner Familienbetrieb, neben dessen maroden Hallen die Kinder Schnecken und Frösche gesammelt hatten. Heute erstreckte sich das Werk über eine endlose Kette kastenförmiger Gebäude, umgeben von einem riesigen, mit Flutlicht ausgestrahlten Areal, auf dem die neuen Traktoren standen. Nichts erinnerte mehr an früher. Als er an dem hohen Werkszaun entlanglief, suchte er vergeblich nach einem vertrauten Bild und fragte sich plötzlich, ob er vielleicht den falschen Übergang genommen und weit entfernt von Vennhues deutschen Boden betreten hatte. Endlich tauchte das Dorf vor ihm auf. Verändert, fremd, und trotzdem raubte ihm der Anblick den Atem. Helle Bilder stiegen auf und schlugen über ihm zusammen. Vennhues war gewachsen. Im schwachen Mondlicht erstreckte sich ein Neubaugebiet neben dem Dorfkern. Die Alleebäume waren gefällt, und der ehemals gewundene Weg war zu einer geraden Schnellstraße geworden, die sich in die angrenzenden Felder fraß. Doch manches war geblieben: der barocke Turm der Klosterkirche und die schiefen Giebel der Dorfbauernhöfe. Die Anordnung dieser Häuser ergab im Mondlicht den gleichen Schattenriss wie vor über zwanzig Jahren, als er an derselben Stelle gestanden und das letzte Mal zurückgeblickt hatte. Eilig wandte er sich ab und ging weiter. Er hatte gelernt, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Wer unsentimental ist und den Überblick behält, dachte er, dem kann so leicht nichts zustoßen. Sein kühler Kopf hatte ihm im Laufe der Jahre so manchen Dienst geleistet, und gerade in den kommenden Tagen würde er ihn dringender brauchen denn je. Ein herannahendes Auto durchschnitt die nächtliche Stille an der Schnellstraße. Die Scheinwerfer konnten ihn jedoch nicht erfassen, da er bereits querfeldein über den Acker gegangen war. Die Scheiben waren heruntergekurbelt, und Jugendliche johlten in die Nacht hinaus. Kurz darauf war das Auto verschwunden. Es dauerte nun nicht mehr lange, bis der Hof seines Vaters hinter einer Böschung auftauchte. Der Hof von Werner Bodenstein. Wieder warf ihm die Erinnerung tausend helle Bilder in den Kopf, doch dieses Mal schob er sie nüchtern zur Seite. Wenn er nicht willkommen war, würde er es hinnehmen. In diesem Fall würde er sich einfach umdrehen und über die Grenze zurück nach Enschede gehen. Er kannte ein Gasthaus, das ihn so spät noch aufnehmen würde, und morgen früh wäre alles wieder vergessen. Sein Vater war vorbereitet. Er hatte seine Ankunft auf einer Postkarte angekündigt, die vor zwei Tagen in Vennhues angekommen sein musste. Werner Bodenstein hatte also genügend Zeit gehabt, sich zu überlegen, wie er seinen verlorenen Sohn Peter empfangen wollte. Die Fenster der großen Diele waren erleuchtet. Peter Bodenstein verließ den Acker und klopfte sich den schweren Lehm von den Füßen. Dann lief er über den Hof auf das Wohnhaus zu. Einen Moment lang überlegte er, ob er über die Tenne und durch die Waschküche ins Haus gehen sollte, so wie er es früher stets getan hatte. Doch dann entschloss er sich, an der Haustür zu läuten. Er war nun ein Gast und wollte sich auch so verhalten. Es dauerte, bis der Riegel betätigt wurde und die Eichentür sich quietschend öffnete. Sein Vater stand vor ihm. Ganz plötzlich. Vertraut, als wäre kein einziger Tag vergangen. Mit seiner gewaltigen Statur füllte er den Türrahmen aus, und sein ruhiger Blick traf seine Augen. Da wusste er, dass er willkommen war. Der Blick seines Vaters reichte aus, um ihm jeden Zweifel zu nehmen. Werner Bodenstein blieb in der offenen Tür stehen. Er war wie erstarrt, lediglich seine Hand rieb beinahe unmerklich über den Türknauf. »Mein Junge.« Mehr sagte er nicht. Er ging nicht auf ihn zu, umarmte ihn nicht. Doch Berührungen hatte es schon damals zwischen ihnen nicht gegeben. Sie waren auch nicht notwendig, denn Peter Bodenstein wusste auch so, wie sehr sich sein Vater freute. »Komm herein, Peter. Hier drinnen ist es warm.« Mit einem Ruck nahm er den Seesack von der Schulter und folgte seinem Vater in die Diele des Bauernhauses. Alt ist er geworden, ging es ihm durch den Kopf. Ziemlich alt sogar. Das kräftige Haar war schlohweiß, die Haut schien grau und voller Flecken. Auch seine Bewegungen waren langsamer geworden. Er musste sich am Türrahmen abstützen, und dann an der Kommode neben dem Eingang. Trotzdem wirkte er auch mit seinen vierundsiebzig Jahren noch immer unumstößlich. Wie eine alte Eiche, die nicht so leicht zu fällen ist. Im Kamin auf der Diele prasselte das Herdfeuer. Zwei Lehnsessel und ein Schaukelstuhl standen im Halbkreis davor, und auf einem Tischchen dampfte ein Kessel mit Glühwein. Die Hitze des Feuers schlug ihm entgegen, und seine ausgekühlten Wangen flammten auf. Er sank in einen der Lehnsessel, und es dauerte nicht lange, da begann die Anspannung der letzten Tage von ihm abzufallen. Einige Dinge gibt es, dachte er, die ändern sich auch in hundert Jahren nicht. Die Hitze des Feuers und ein weicher Sessel im Rücken waren ihm mehr wert als alle Massagen dieser Welt. Sein Vater ließ sich in den Schaukelstuhl sinken und schenkte ihm ein Glas Glühwein ein. »Trink das, mein Junge. Du musst dich erst einmal aufwärmen.« Er reichte ihm das Glas und lächelte. »Ich habe auf dich gewartet.« Dann räusperte er sich, als hätte er mit dieser Bemerkung bereits zu viel von sich preisgegeben. »Zumindest hast du hierher gefunden«, fügte er hinzu. »Du hättest dich verlaufen können auf dem Weg. Es hat sich viel verändert. Du wirst es kaum wiedererkannt haben, unser Dorf.« Peter Bodenstein nahm einen Schluck von dem Glühwein. Er fühlte sich, als wäre er nie weggewesen. »Es hat sich wirklich viel getan, das habe ich bemerkt.« Er lächelte. »Was haben zum Beispiel Isforts mit ihrem Haus gemacht? Ich bin gerade dort vorbeigekommen. Das ist ja der schiere Prunk.« Sein Vater sah ihn amüsiert an. »Der älteste Sohn ist an der Börse zu Geld gekommen. Für einen Neubau hat es nicht gereicht. Also haben sie so viel Pomp und Gloria über ihr kleines Haus geschüttet, dass alle sofort sehen müssen, dass sie nun wer sind. Allein die Schnitzereien am Giebel haben ein kleines Vermögen gekostet.« »Das Häuschen muss doch ersticken unter all dem Zeug.« »Das kannst du laut sagen«, sagte sein Vater. »Doch Karl Isfort stolziert nun bei jeder Gelegenheit vor der Fassade auf und ab, und dann sieht er aus, als würde er platzen vor Stolz.« Mit leichtem Spott schüttelte er den Kopf. »Aber es sei ihm gegönnt. Hast du denn das Dorf schon gesehen?« »Nein, ich bin von Holland hierhergekommen. Heute Nachmittag habe ich den Zug von Den Haag nach Enschede genommen, und dann bin ich mit dem Bus weitergefahren. Von Vennhues habe ich noch nicht allzu viel gesehen.« »Wir werden es uns morgen in Ruhe anschauen«, sagte der Vater. »Du wirst es nicht wiedererkennen. Ich kenne kaum noch die Hälfte der Leute persönlich, die heute hier wohnen. Vennhues ist zu einer Schlafstadt geworden, und die Menschen arbeiten in Münster und in Enschede. Hier bauen sie sich ihr Häuschen und wollen ihre Ruhe. Im Ort ist es inzwischen so anonym wie in einer Stadt. Die neue Bundesstraße hast du bestimmt schon gesehen. Damit ist man nun ganz schnell überall, und man muss nicht mehr im Dorf leben und hier arbeiten.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Von den Vennhuesern sind ohnehin nur noch die Alten da. Du solltest mal am Sonntag in die Kirche gehen. Lauter halbleere Reihen. Es ist wirklich eine Schande.« Einem Impuls folgend wollte Peter nach seinen Geschwistern fragen, doch dann überlegte er es sich anders. Margret war damals nach Freiburg gegangen, um dort als Lehrerin zu arbeiten. Seine Brüder hatte es noch weiter fortgezogen. Sie waren in die Vereinigten Staaten gegangen, und von ihnen hatte er seit Ewigkeiten nichts mehr gehört. Keines der Geschwister war in Vennhues geblieben. Es war, als läge ein Fluch auf der Familie, der sie alle fortgetrieben hatte. »Wenn wir morgen in das Dorf gehen«, sagte sein Vater, »dann zeige ich dir das Grab deiner Mutter. Du willst es sicherlich einmal besuchen.« Werner Bodenstein hatte diesen Satz ganz leicht dahingesagt, und doch schnürte es Peter die Kehle zu. Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Am Tag ihrer Beerdigung war er am anderen Ende der Welt gewesen. Er hatte bei stiller See auf dem Freideck der Brochnow gesessen und sich mit Whiskey volllaufen lassen. Sie saßen damals für einige Tage im Südpazifik fest, weil sie einen Taifun im Norden abwarten mussten. Es hatte nichts zu tun gegeben, und so hatte er in der Sonne gesessen und sein Schicksal verflucht für alles, was geschehen war. Er hatte es sich nicht verziehen, fortgeblieben zu sein. Doch damals war er noch nicht bereit gewesen. Da war es ihm noch unmöglich vorgekommen, nach Vennhues zurückzukehren. Sein Vater bemerkte...