E-Book, Deutsch, Band 4, 320 Seiten
Reihe: Ein Steiger-Krimi
Horst Bitterer Zorn
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-24404-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 4, 320 Seiten
Reihe: Ein Steiger-Krimi
ISBN: 978-3-641-24404-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2
Im Rückspiegel waren nur ihre Augen zu sehen. Es waren die Augen ihres Großvaters, und Nour musste keine Sekunde überlegen, woran das lag. Sie hatten dasselbe dunkle Braun, auch die geschwungene Linie der Wimpern war gleich, und beim Lachen verwandelten sie sich wie bei ihm in zwei Botschafter der Unbeschwertheit. Wenn sie aber gerade in diesem Moment darin so deutlich und klar den Blick ihres Vaters wiederfand, lag das an dem kleinen, ehrlichen Zorn, der in ihnen brannte. Auch wenn Najim seit vielen Jahren tot war, erkannte Nour diese Eigenschaft sofort und mühelos, weil es bis zu seinem Tod genug Gelegenheiten in ihrem Leben gegeben hatte, in denen sie ihm begegnet war. Damals hatte dieser Zorn sie immer in Angst versetzt, sobald seine ersten Anzeichen aufzogen, meist große Angst, die oft berechtigt gewesen war. An diesem Morgen auf dem Rückweg von der Koranschule musste sie lächeln und sich bemühen, dass Huriye dieses Lächeln nicht bemerkte. »Wir können ja schauen, ob wir andere bekommen. Vielleicht müssen es gar nicht diese sein.« Im Rückspiegel zeigte sich in den kleinen dunklen Schlitzen keine Reaktion. »Was hältst du davon.« Ein kurzes Schnaufen war die Antwort. Zwei rote Ampelphasen ließ sie ihrer Tochter Zeit, aber Huriye blieb stumm. »Du willst mir nicht sagen, was du davon hältst?« Wieder kein Wort. Ein paar Momente forderte der Verkehr auf der Münsterstraße Nours Aufmerksamkeit, weil ein röhrender schwarzer Daimler Slalom fuhr und sie schnitt, dann bot ihr der Blick nach hinten dasselbe Bild. »Andere Mütter sind viel netter zu ihren Kindern.« »So, sind sie das?« »Ja, Leylas Mutter hat ihr auch solche gekauft. Die ist viel, viel lieber als du.« Auch wenn sie der kindlichen Enttäuschung einiges zugutehalten konnte, traf sie dieser Satz mehr, als sie es wollte. »Mütter sind anders zu ihren Kindern, wenn sie sie lieb haben.« »Du meinst, sie erfüllen ihnen alle Wünsche?« »Jedenfalls manchmal.« Huriye machte eine kleine Pause. »Und wenn sie sich etwas sehr wünschen.« »Ich weiß, dass du es dir sehr wünschst.« »Nein, weißt du nicht. Weil du mich gar nicht lieb hast.« Für einen Moment war Nour nicht imstande, etwas zu sagen, so sehr berührte sie die Fähigkeit einer Siebenjährigen, sie zu verletzen, und die Bereitschaft, diese Fähigkeit zu nutzen. Der Verkehr stockte, und sie musste den Wagen abbremsen, bis er stand. Weiter vorn hörte sie Fahrzeuge hupen. »Und irgendwann gehe ich auch fort.« Jetzt blickte Nour über die Schulter. Huriye hatte die Arme vor der Brust verschränkt und ignorierte, dass ihre Mutter sich ihr zuwandte. »Du gehst fort?« Ihre Tochter sah weiter aus dem Seitenfenster. »Wohin willst du denn, wenn du fortgehst?« »Weiß ich nicht, weg.« Vor ihnen war immer noch hin und wieder Hupen zu hören, und in der Ferne ertönte ein Martinshorn, das schnell lauter wurde. Nour sah zuerst im Rückspiegel, wie der Streifenwagen auf dem Bürgersteig näher kam und dann an ihnen vorbeirollte. Kurze Zeit danach erstarb der Alarmton. »Kleine Kinder können aber nicht einfach weggehen. Wenn die Polizei oder andere Menschen sie finden, bringt man sie wieder zurück zu den Eltern.« »Ich bin aber kein kleines Kind mehr.« Jetzt sah Huriye sie für einen Moment an und beugte sich so weit nach vorn, wie der Sicherheitsgurt es zuließ. Langsam rollte der Verkehr wieder an, und Nour sah nach einer Weile im Vorbeigleiten, wie zwei Streifenwagen den schwarzen Mercedes eingekeilt hatten, zwei arabisch aussehende junge Männer aggressiv gestikulierend mit den Polizisten stritten und ein dritter mit dem Handy telefonierte. Einen der Männer hatte sie schon einmal mit ihrem Mann gesehen, kannte aber seinen Namen nicht. Sie versuchte, im Spiegel die Szene weiter zu verfolgen, was nicht gelang. »Und mich findet keiner.« »So, dich findet keiner.« »Nein.« »Wo willst du denn schlafen? Was willst du essen, wenn du fortgehst?« Wieder schwieg Huriye, jetzt aber offensichtlich, weil sie mit der Antwort beschäftigt war. »Ich finde schon was.« »Ja? Was denn? Los, sag es! Was willst du essen, wo willst du schlafen? Willst du dich irgendwo draußen auf eine Bank legen?« »Ich finde schon was!« Wieder lauter und mit kurzem Blickkontakt. »Ach, Mäuschen, du wirst schon bald dein warmes, schönes Bett vermissen, da bin ich sicher. Und Mamas Kuchen.« Jetzt konnte Nour nicht verhindern, dass ihre Tochter das Lächeln wahrnahm. »Du lachst mich aus.« »Ich lache dich nicht aus.« »Doch, du lachst über mich, weil du mir nicht glaubst. Aber du wirst es schon sehen. Und dann bist du traurig, weil ich weg bin.« Wieder konnte Nour das Lächeln nicht vermeiden, auch wenn sie wusste, dass Huriye es sah. »Alte Hure.« Diese Worte kamen ganz leise, fast unsicher, und Nour war klar, dass das Kind nicht ihre wahre Bedeutung kannte, sie aufgeschnappt hatte, vielleicht in einer Situation, in der sie genau diesen Sinn hatten, zu verletzen oder zu provozieren, aber sie spürte, wie etwas in ihr anschwoll, das dieses Verständnis wegspülte. »Ich will nicht, dass du so mit mir sprichst.« »Bist du aber, eine Hure, weil du über mich lachst.« Nour lenkte den Wagen in die nächste Parkbucht, hielt an und drehte sich nach hinten. »Ich will nicht, dass du so mit mir sprichst!« »Und immer schreist du.« »Ich schreie nicht.« »Doch, du schreist.« »Nein, ich schreie nicht.« Der Satz hatte ihren Mund kaum verlassen, als ihr klar wurde, dass sie doch geschrien hatte. »Das sagt man nicht zu seiner Mutter, hast du mich verstanden? Das sagt man zu niemandem. Du entschuldigst dich sofort dafür!« Auch das kam viel lauter, als sie es wollte. »Entschuldige du dich doch.« »Du entschuldigst dich sofort!« »Tue ich nicht. Dann bist du eben keine Hure, dann bist du blöd.« »Nein, ich bin auch nicht blöd. Du entschuldigst dich dafür, sofort. Sonst …« Huriye beugte sich wieder nach vorn, und für einen kurzen Moment hatte Nour den Gedanken, dass Zorn selbst einem wunderschönen Kindergesicht etwas Bedrohliches verlieh. »… sonst gehst du zu Fuß nach Hause.« »Gut, dann gehe ich eben.« Huriye löste den Sicherheitsgurt und öffnete die Tür. »Jetzt ist Schluss. Hör mit diesem Blödsinn auf. Du entschuldigst dich sofort.« »Ich entschuldige mich nicht. Du entschuldigst dich ja auch nicht.« Ein paar Atemzüge lang sahen sie sich an, ohne dass ein Wort fiel. »Gut, dann steig aus.« Sekunden vergingen, dann stieg Huriye aus und schlug die Wagentür heftig zu. Ohne sich umzusehen, ging sie mit schnellen, kleinen Schritten die zwanzig Meter bis zur nächsten Hausecke und verschwand dahinter. Schon als sie den Satz sagte, wusste Nour, dass er ein Fehler war, dass sie solch ein Spiel nicht durchhalten würde, noch nie in ihrem Leben hatte sie das gekonnt. Trotzdem hielt sie etwas für ein paar Augenblicke zurück, ihrem Kind zu folgen. Sie kannte ihre Tochter und wusste, dass sie nicht nur den Zorn ihres Großvaters geerbt hatte, sondern auch dessen Willen, solches bis zum Ende auszufechten. Dennoch hatte sie die leise Hoffnung, dass die kleine Gestalt gleich wieder auftauchen würde, dass zumindest ihr Kopf erschiene, um nachzusehen, wo sie bliebe. Aber nichts geschah. Mit einer ersten Welle von Furcht öffnete sie hektisch die Wagentür, hörte zuerst den Schrei und nahm dann den Stoß an der Schulter wahr. Der Radfahrer schlingerte, versuchte, einen Sturz zu vermeiden, und kippte dann doch um. »Äy, geht’s noch? Wie sieht’s denn mal mit Aufpassen aus?« »Tut mir leid, ich …« Nour sah den jungen Mann an, der auf dem Asphalt saß, mit einer behänden Bewegung aufstand und sein Rad aufhob. »Tut mir furchtbar leid. Ist Ihnen was passiert?« Der Radfahrer untersuchte seine Hose und sah auch bei seinem Rad nach dem Rechten. »Tut mir leid, ich wollte … meine kleine Tochter ist … also, sie ist ausgestiegen.« Erst jetzt blickte Nour wieder zur Hausecke, aber von Huriye war nichts zu sehen. Der Gestürzte betastete den Lenker und ein paar andere Stellen an seinem Rad. »Scheint alles in Ordnung zu sein.« Er sagte es wieder leiser und nur noch mit Resten eines Vorwurfs. »Ich muss grad …«, sie zeigte konfus Richtung Hausecke. »Ich muss grad nach meiner Tochter sehen. Wenn Ihnen was passiert ist, dann … warten Sie einen Moment, geht das?« Als er keine Reaktion zeigte, die dagegensprach, und weiter das Rad befingerte, lief sie so schnell es ging zur Hausecke und hoffte mit leiser Panik, dass sie sofort die schmale Gestalt entdecken würde, dass Huriye sich vielleicht mit diesem kleinen Sieg begnügt hatte, doch ausgestiegen zu sein, und jetzt dort irgendwo wartete. »Schon okay«, hörte sie den jungen Mann rufen und sah mit einem flüchtigen Blick zurück, dass er auf sein Rad stieg und losfuhr. Als sie wenige Meter von der Ecke entfernt war, erschien ein alter Mann mit einem fetten, kleinen Hund, dem sie ausweichen musste, und dann endlich öffnete sich für sie der Blick in die Straße. Aber es war keine Huriye zu sehen. Sie...