E-Book, Deutsch, Band 2, 368 Seiten
Horst Sweet Home
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-31651-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Du bist nirgends sicher - Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 2, 368 Seiten
Reihe: Lopez, Rahn und Müller ermitteln
ISBN: 978-3-641-31651-8
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Deniz
Das war der schlimmste Moment. Deniz drückte das Gespräch weg. Gegen Morgen, auch wenn es sehr früh war, hatte er keine Probleme damit. Auch nachts nicht, selbst wenn er erst zwei oder drei Stunden geschlafen hatte. War auch dann nicht prickelnd, klar, aber erträglich. Wenn er jedoch unmittelbar nach dem Einschlafen alarmiert wurde, fühlte es sich in den ersten Minuten an, als habe er sich mit irgendeiner Droge abgeschossen. Er setzte sich auf die Bettkante und hoffte, die Trägheit unterliege der Schwerkraft und würde allmählich aus seinem Hirn sickern. Nach einer Minute stand er auf. Das Handy fiepte kurz, die Kollegin von der Leitstelle hatte ihm wie angekündigt den Leichenfundort als Standort geschickt, Laupendahler Landstraße. Irgendwo tief im Essener Süden an der Ruhr und eine ziemlich einsame Gegend, wenn er sich richtig erinnerte. Er überlegte, ob er Camilla Bescheid geben sollte, weil sich das Ganze schon jetzt danach angehört hatte, dass der Tote nicht freiwillig gegangen und die Staatsanwältin damit im Boot war. Ihr Kontakt verriet ihm, dass sie vor zwei Minuten noch online gewesen war, und er drückte den Button mit dem Hörer. »Guten Morgen, Frau Lopez. Noch nicht in Morpheus’ oder jemand anderes Armen?« »Wenn du jetzt anrufst und mit so einer Stimme Unsinn erzählst, heißt das nichts Gutes.« »Hast du was getrunken, was geraucht, oder kannst du noch fahren?« »Deniz … Komm, erzähl!« »Bin eben angerufen worden. Laupendahler Landstraße, unten an der Ruhr, ziemlich einsame Gegend, hat ein Radfahrer an einer Böschung eine Leiche gefunden, männlich. Sie haben sie noch nicht geborgen, aber auf den ersten Blick sind Stiche erkennbar.« »Und ich wollte grad ins Bett.« »Kein Problem, dann gute Nacht. Ich kann dich morgen früh bei ’nem Kaffee auf den Stand bringen.« »Geht’s noch? Ich komme. Wo dort?« »Ich schicke dir den Standort. Ist etwas abgelegen.« »Okay, bis gleich.« Er stand auf, legte die Hand auf die Wasserkanne vom Çay, die nur noch lauwarm war. Er bereitete sich eine Mischung zu, stellte das Glas in die Mikrowelle und ging ins Bad. Ein Streifenwagen hatte die Laupendahler Straße an einer Abzweigung gesperrt, an der man den Verkehr günstig ableiten konnte, was hier um diese Zeit aber kaum nötig war. Der Kollege stand draußen und rauchte, die Kollegin saß im Wagen. Man kannte sich von flüchtigen Begegnungen im Präsidium. »Von hier kannst du es nicht sehen, ist hinter der Kurve, sind noch ein paar hundert Meter«, sagte der Kollege, und sein Atem machte kleine weiße Wölkchen. Deniz befürchtete, sich für die falsche Jacke entschieden zu haben. »Ist die Staatsanwältin schon durch?« »Ne, nur der Sprinter von der KTU.« »Dann wird sie gleich kommen. Vom Rest der Mordkommission schon jemand?« »Solange wir hier stehen, nicht.« Kurzer Gruß, er fuhr weiter. Weil schon jemand einen Lichtmast aufgestellt hatte, leuchtete nach der nächsten Biegung weit hinten die Szenerie, und schon aus dieser Entfernung waren in der Kugel aus Licht vor allem die drei Gestalten in weißen Anzügen erkennbar, die nebeneinanderstanden und etwas im Graben neben der Straße betrachteten. Es erinnerte Deniz an die Darstellung in Weihnachtsfilmen, bei der in schwärzester Nacht nur die Szene im Stall beleuchtet war, in der die drei orientalischen Typen meist entrückt auf den Erlöser im Futtertrog fixiert waren. Das Objekt der Aufmerksamkeit war hier nicht ganz dasselbe, fiel ihm auf. Eine Minute später parkte er am Straßenrand, steckte die kleine Taschenlampe ein und nahm sein Diktiergerät. Das Klemmbrett konnte er immer noch holen. Erst als er ausgestiegen war, fiel ihm auf, dass die Feuerwehr fünfzig Meter weiter dabei war, im Halbdunkel auf der Straße ein Zelt mit Heizung aufzubauen. »Morgen«, sagte Mustafa von der KTU, und aus dem weißen Kragen seines Schutzanzugs lugte ein knallroter Schal. Sina und Matthias neben ihm grüßten ebenfalls kurz, Sina hatte sich die Kapuze des Anzugs übergezogen, das gab ihr etwas von einem weißen Plüschtier, nur die Ohren fehlten. »Wir waren noch nicht an der Leiche, weil wir keine Spuren zerstören wollen, bevor wir wissen, wie wir sie bergen sollen. Der Notarzt ist von oben rechts rangegangen, der hat auch die Kleidung so hinterlassen.« Der Mann lag mit dem Kopf nach unten zwischen Sträuchern, die es schwierig machten, in seine Nähe zu gelangen. Deniz drückte auf den Knopf seiner Taschenlampe und machte einen Schritt nach vorn, Mustafa hielt ihn am Arm zurück. »Da vorne ist wahrscheinlich Blut«, er zeigte auf den Beginn der Grasnarbe neben dem Asphalt. »Kann sein, dass er an Ort und Stelle getötet und nicht nur abgelegt worden ist. Und wir haben im Seitenstreifen eine Reifenspur, die frisch aussieht. Dort hinten kann man nach unten gehen und zumindest etwas näher rankommen, da wird kein Täter gewesen sein.« Mit ausgestrecktem Arm wies er auf eine Stelle zehn Meter neben dem Toten. Aus den Augenwinkeln bemerkte Deniz, dass zwei weitere Autos ankamen und die Scheinwerfer ausmachten, er hörte Camillas Stimme und die von Timo aus der MK-Bereitschaft. An der Stelle, die Mustafa gezeigt hatte, war eine kleine Lücke im Gestrüpp, durch die Deniz nach unten stieg und versuchte, etwas näher Richtung Leiche zu kommen. Etwa einen Meter davor verwehrte ihm ein dorniger Strauch jede weitere Annäherung. Im Lichtkegel der Taschenlampe erkannte er unter dem vom Arzt hochgeschobenen Hoodie deutlich drei Stiche; das Gesicht des Mannes, der vielleicht Ende dreißig sein mochte, war in seine Richtung gewandt und hatte mit den halb geöffneten Augen und den etwas verkrampften Lippen den unverkennbaren Ausdruck des Todes. Deniz fror und wusste nicht, ob es bei diesen Temperaturen an der falschen Jacke lag oder am Anblick der freien Bauchdecke unter der hochgeschobenen Kleidung des Toten. Er ging zurück und begrüßte Camilla und Timo, die sich beide von Mustafa erklären ließen, was bisher bekannt war. Gefunden hatte den Toten ein angetrunkener Radfahrer, der auf dem späten Heimweg von einer Feier ausgerechnet an der Stelle pinkeln wollte und den Toten im ersten Moment im Licht seiner Fahrradlampe für Müll gehalten hatte. Camilla hatte einen wadenlangen lila Steppmantel an, trug eine weiße Pudelmütze, die sie mit dem optischen Erbe ihres kubanischen Großvaters aussehen ließ, als würde sie jeden Augenblick anfangen, eine Popballade zu singen. Beide grüßten Deniz kurz und widmeten sich dann wieder Mustafas Worten. Einer der Feuerwehrmänner trat aus dem Halbdunkel und sagte, dass das Zelt aufgebaut und in spätestens fünf Minuten erträglich warm sei, und bekam dafür viel gemurmelte Zustimmung und Dank. Nach einer guten halben Stunde hatten sie die Leiche so spurenschonend wie möglich nach oben gezogen, und der Mann lag rücklings auf einer Folie auf dem kalten Asphalt. Außer ein paar Zetteln, die auf den ersten Blick kaum etwas hergaben, hatte Sina nichts in seinen äußeren und zugänglichen Taschen gefunden, schon gar keinen Ausweis. Wäre ja auch zu schön gewesen, dachte Deniz und hörte, wie eine Autotür zuschlug und aus dem Dunkel Frau Dr. Köslin-Richter, die Gerichtsmedizinerin, erschien. »Guten Morgen«, sagte sie mit einem Rundumlächeln, dem man ansah, dass sie schon geschlafen hatte. Ohne weiteres Wort ging sie zur Leiche, blieb aber in deutlichem Abstand stehen, weil Mustafa, der vor dem Toten kniete, die Hand hob. »Ich würde ihn wegen der DNA gern erst abkleben«, sagte er, »das machen wir aber besser im Obduktionsraum. So lange sollten wir sehr vorsichtig sein, damit die Leiche nicht kontaminiert wird.« »Natürlich, aber ich würde hier gern schon die Körpertemperatur messen, jetzt, bei der Auffindesituation.« »Das kriegen wir hin. Wollen Sie sich dafür einen Anzug anziehen, oder sollen wir das machen.« »Dafür lohnt sich das Gewurschtel mit den Klamotten nicht.« Sie gab Mustafa das Thermometer, von dem ein Draht mit einem Fühler herabhing. Gemeinsam mit Sina und Matthias drehten sie den Toten auf den Bauch, zogen ihm Hose und Unterhose ein Stück herunter und platzierten den Metallfühler rektal. »Reicht das so?« Er blickte die Ärztin an, die kurz nickte und sich wieder zu den anderen stellte. Einen Augenblick herrschte Schweigen, fiel Deniz auf, und er blickte in die Runde. Alle, die dort standen, hatten in ihrem Leben so viele Leichen geborgen oder abtransportiert, untersucht oder aufgeschnitten, dass es trotz allem eine Alltäglichkeit für sie geworden war. Aber vielleicht, dachte er, ließen sie sich von der grausamen Unwürdigkeit eines solchen Augenblicks doch noch berühren, wenn einem Menschen, der in eiskalter Nacht auf offener Straße mit entblößtem Arsch auf einer Plane lag, ein Metallfühler in den Enddarm geschoben wurde. »Wenn Sie sich wärmen wollen, Frau Doktor, die Feuerwehr hat ein Zelt aufgebaut, da ist es zumindest wärmer als hier.« »Mal sehen, gleich vielleicht«, die Gerichtsmedizinerin lächelte dankbar. »Ich sehe ihn mir nachher auf dem Tisch noch etwas genauer an«, an Deniz gewandt, »aber obduzieren kann ich ihn erst morgen, später Vormittag, weil ich vorher noch etwas anderes habe, was sich nicht verschieben lässt. Die Todesursache scheint ja auf den ersten Blick klar zu sein.« »Schon okay«, sagte Deniz. »Wir versuchen noch, was über...