Huber / Calabrese | Herausforderndes Verhalten in stationären Einrichtungen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 244 Seiten

Huber / Calabrese Herausforderndes Verhalten in stationären Einrichtungen

Konzeptionelle, methodische, organisationale und rechtliche Zugänge
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-039534-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Konzeptionelle, methodische, organisationale und rechtliche Zugänge

E-Book, Deutsch, 244 Seiten

ISBN: 978-3-17-039534-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In stationären Einrichtungen ist die Zahl der Klientinnen und Klienten, die herausforderndes Verhalten zeigen, sehr hoch. Das kann die Fachkräfte wie auch die Klientinnen und Klienten selbst auf eine harte Probe stellen. Das Buch reflektiert unterschiedliche fachliche Zugänge zu herausfordernden Verhaltensweisen im stationären Bereich theoretisch-konzeptionell, institutionell, methodisch und rechtlich. Dabei ist es interdisziplinär angelegt und setzt sozial- und sonderpädagogische, psychologische und rechtliche Ansätze zueinander in Beziehung. Der Schwerpunkt liegt auf dem methodischen Teil, der handlungsrelevantes Wissen für die Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe bietet.

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1 Hinführung und Einleitung
Sven Huber Geht es, soweit es eine sozial- und sonderpädagogische Perspektive betrifft, bei der Eröffnung von Zugängen zu den Adressat:innen in stationären Kontexten der Kinder-?, Jugend- und Behindertenhilfe primär um eine Fokussierung auf deren herausforderndes Verhalten? Der Titel dieses Bandes könnte zumindest so gelesen werden und entsprechend zu einem Missverständnis einladen. Missverständlich wäre es deshalb, da sozial- und sonderpädagogisch orientierte Zugänge zu den Adressat:innen gerade nicht über eine Zentralstellung des herausfordernden Verhaltens erfolgen, also den korrespondierenden Normbruch nicht zum Dreh- und Angelpunkt der fachlichen Reflexion und Intervention machen. Vielmehr geht es, wie Winkler (2001) es für die stationären Hilfen zur Erziehung konstitutiv festgehalten hat, um die Ermöglichung von Subjektivität, wobei die Arbeit am »Modus der Differenz« (Winkler, 2011, S. 48) und die ortsgebundene pädagogische Arbeit an der Eröffnung von neuen und anderen Lern-?, Entwicklungs- und Bildungsprozessen im Vordergrund steht. Dafür inszenieren die Einrichtungen und ihre Fachkräfte stellvertretende Lebensräume und Beziehungsangebote (Wigger, 2007), sie versuchen, Resonanzverhältnisse zwischen den Adressat:innen und ihren Bedürfnissen einerseits, und den Angeboten der Einrichtung andererseits zu etablieren. Es geht dabei um eine dynamische Suche nach wechselseitigen Passungsverhältnissen (vgl. Schwabe, 2021) mit dem Ziel, biografisch bedeutsam für die Adressat:innen zu werden und so die Voraussetzungen zu schaffen für das, was Thiersch, Grunwald & Köngeter (2012) einen gelingenderen Alltag genannt haben. In diesem Prozess wird das herausfordernde Verhalten weder als Wesensmerkmal der Adressat:innen noch als zentraler Fluchtpunkt der pädagogischen Arbeit konzipiert. Das herausfordernde Verhalten kennzeichnet in diesem Sinne nicht den ›Hauptstatus‹ einer Person. Das war allerdings, und dies ist noch nicht allzu lang her, lange Zeit anders und verbunden mit Repression, Disziplinierung, einer radikalen Defizitorientierung und der Beschädigung, zuweilen auch Zerstörung von Subjektivität. Auch wenn die Defizitorientierung und ihre Folgen heute noch längst nicht überwunden sind, so wird das herausfordernde Verhalten heute doch eher als »Nebenstatus« (Thiersch, 2015, S. 103) einer Person konzipiert und zumindest auch mit Kompetenzen in Verbindung gebracht. Es wird erkannt als subjektiv sinnvolles Bewältigungsverhalten (vgl. Böhnisch, 2010), als eine Überlebensstrategie, die sozioökonomisch, biografisch und institutionell geprägt ist und die sich in prekären Konstellationen aktualisiert. Auch wurde inzwischen deutlich, dass die Organisationen der Kinder-?, Jugend- und Behindertenhilfe ganz wesentlich zur Entwicklung der herausfordernden Verhaltensweisen und somit auch zur ›Produktion‹ jener Adressat:innen beitragen, die dann als besonders schwierig gelten. Für die Kinder- und Jugendhilfe geben bspw. Ader (2002) und Baumann (2016) auf empirischer Grundlage entsprechende Einblicke in zentrale Dimensionen des prekären (Nicht-)?Zusammenwirkens von Organisationen und Adressat:innen. Das herausfordernde Verhalten der Adressat:innen in den Einrichtungen der Kinder-?, Jugend- und Behindertenhilfe lässt sich u.?a. als Verweigerungshaltung gegenüber dem Setting und den Beziehungsangeboten fassen und artikuliert sich u.?a. im Entweichen, der Verweigerung gegenüber Regeln des Zusammenlebens, Aggression, Gewalt etc. (vgl. Dulle & Mann, 2008, S. 50). Herausfordernd ist dieses Verhalten für alle Beteiligten, auch für die Adressat:innen selbst, da es häufig mit einem hohen Leidensdruck verbunden ist. Die Einrichtungen suchen nun nach Zugängen zu den Adressat:innen, und diese Suche ist stark vorgeprägt durch das organisationale Selbstverständnis der Einrichtungen. Schallberger (2011) hat dies auf empirischer Grundlage eindrucksvoll für die Schweiz gezeigt. Für die stationäre Kinder- und Jugendhilfe identifiziert er fünf Typen organisationaler Selbstverständnisse und die ihnen korrespondierenden Zugänge zu den sogenannten normalbegabten verhaltensauffälligen Jugendlichen und deren herausfordernden Verhaltensweisen. Diese sollen im Folgenden knapp skizziert werden (vgl. ebd.). · Das Heim als christliche Ersatzfamilie: In den entsprechenden Heimen wird das herausfordernde Verhalten v.?a. als Ausdruck der moralischen und sittlichen Zerrüttung der Herkunftsfamilie verstanden, entsprechend wollen die Heime Schutzorte vor sittlicher Verwahrlosung sein indem sie den Kindern und Jugendlichen den Weg zu Gott und zum Glauben aufzeigen. · Das Heim als Ort virtuoser Beziehungsgestaltung: Diese Heime verstehen sich selbst nicht als Schutzorte, sondern als Orte der Förderung von Autonomie und Mündigkeit. Das herausfordernde Verhalten wird v.?a. situativ und als Hilferuf bzw. Überlebensstrategie verstanden. Der Alltag soll pädagogisch nicht zu stark strukturiert und überfrachtet, Spielräume für Eigenaktivität sollen geöffnet werden. · Das Heim als Um- und Nacherziehungseinrichtung: Hier steht das herausfordernde Verhalten und insbesondere die Verhaltenskorrektur im Fokus. Das Verhalten wird u.?a. gedeutet als Ausdruck bisher nicht erfolgter Verhaltenskonditionierung. Die Herkunftsfamilie hat Regeln nicht klar genug definiert und durchgesetzt, außerdem fehlte eine machtvolle Vaterfigur. Entsprechend setzen diese Einrichtungen auf Fachkräfte als Ersatzväter, auf Autorität, Disziplinierung, Konditionierung und Sanktionen. · Das Heim als Internatsschule: Diese Einrichtungen setzen stark auf Vergemeinschaftungsprozesse in und durch Gruppen, wobei sich die Identifikation mit der Gruppe positiv auf das Sozialverhalten der Kinder und Jugendlichen auswirken soll. Die Fachkräfte sehen sich dabei als Coaches, die diesen Prozess moderieren. Herausforderndes Verhalten wird hier v.?a. als entwicklungstypisch betrachtet, entdramatisiert und normalisiert. · Das Heim als klinische (Aus-)?Bildungsstätte: Neben den sozialpädagogischen dominieren in diesen Einrichtungen psychologische und therapeutische Angebote. Nicht Besserung und Anpassung stehen im Fokus. Das herausfordernde Verhalten wird hier als Symptom für einen krisenhaften Entwicklungsverlauf verstanden, entsprechend geht es primär um Entwicklungsförderung und die Suche nach (lustvollen) Alternativen zum bisherigen Verhalten. Schrapper (2002) hat drei methodische Grundvorstellungen (sozial-)?pädagogischer Zugänge zu herausfordernd agierenden Adressat:innen identifiziert, die sich auf die hier skizzierten Typen von organisationalen Selbstverständnissen beziehen lassen. Er spricht 1. von »Grenzen setzen, die Einhaltung üben und Überschreitung sanktionieren« (ebd., S. 18?f.), was am ehesten dem Selbstverständnis als Um- und Nacherziehungseinrichtung entspricht, 2. von »Schwierigkeiten als Krankheit erkennen, behandeln und heilen« (ebd., S. 19), was am ehesten dem Selbstverständnis als klinische (Aus-)?Bildungsstätte entspricht, und 3. von »Alternative (Selbst-)?Bildungsprozesse ermöglichen« (ebd., S. 19?f.), was am ehesten dem Selbstverständnis als Ort virtuoser Beziehungsgestaltung und als Internatsschule entspricht. Das Selbstverständnis vom Heim als christlicher Ersatzfamilie lässt sich diesen (modernen) methodischen Grundvorstellungen nicht so eindeutig zuordnen, es werden allerdings Erinnerungen an eine konfessionell gebundene Rettungspädagogik wach. Insgesamt wird deutlich: traditionsreiche und gegenüber Veränderungen äußerst resistente organisationale Selbstverständnisse korrespondieren mit spezifischen methodischen Grundvorstellungen (sozial-)?pädagogischen Handelns. Daraus erwachsen je spezifische Zugänge zu den Adressat:innen. Wenn man, wie dies eingangs geschehen ist, die Ermöglichung von Subjektivität zum Referenzpunkt für die fachliche Reflexion von Zugängen macht, wird allerdings auch deutlich, dass einige der vorgestellten Zugänge eine Subjektorientierung zu verhindern drohen, sich sogar durch eine negative Form der Subjektorientierung auszeichnen können. Der gegenwärtige Mix aus einer Dominanz betriebswirtschaftlicher Steuerungslogiken, mangelnder Zeit für die Hilfeplanung, Belegungsdruck etc. (vgl. Grasshoff, 2021, S. 181?ff.; Schwabe, 2021, S. 325?f.) lässt befürchten, dass eine fachlich fundierte und dynamische Suche nach Passungs- und Resonanzverhältnissen zwischen Einrichtungen und Adressat:innen zunehmend solchen Formen einer negativen Subjektorientierung zum Opfer fallen. Der Blick auf herausfordernde Verhaltensweisen ist also immer auch mit einem kritischen Blick auf die gewählten Zugänge und deren Ambivalenzen und Blindstellen im Hinblick auf die Ermöglichung von...


Prof. Dr. Sven Huber und Prof. Dr. Stefania Calabrese lehren am Institut Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern.

Mit Beiträgen von Menno Baumann, Eva Büschi, Alexandra Caplazi, Reinhard Fatke, Birgit Hoffmann, Nina Oelkers, Ursula Pav, Dorothee Schaffner, Marion Scherzinger, Mark Schrödter, Mathias Schwabe, Vinzenz Thalheim, Mechthild Wolff.



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