E-Book, Deutsch, 500 Seiten
Hülk Victor Hugo
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7518-2036-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jahrhundertmensch
E-Book, Deutsch, 500 Seiten
ISBN: 978-3-7518-2036-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Hunderttausende feierten am 26. Februar 1881 auf den Straßen von Paris den 79. Geburtstag einer Ikone, die Avenue d’Eylau, die bald in Avenue Victor Hugo umbenannt werden sollte, war erfüllt von den Rufen der Menge: »Vive Victor Hugo! Vive la République!« Wer so bejubelt wird, dessen Leben kann keineswegs nur eine Sache des Papiers sein.
Walburga Hülk erzählt einfühlsam und bildreich, elegant und mitreißend von Schicksal und Mythos des
grand homme
Victor Hugo als Intellektuellem, Schriftsteller und vielfach begabtem Künstler – und von seinen Visionen und Widersprüchen. Er liebte Pomp und Pathos, in seinen Büchern aber, allen voran
Les Misérables
, die zu Klassikern der Populärkultur wurden, erzählte Victor Hugo vom ganzen Leben.
In der Biografie Victor Hugos zeichnet Walburga Hülk das Bild eines Menschen und Autors zwischen Freiheit und Exil – das zugleich die Geschichte Frankreichs im 19. Jahrhundert birgt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Mit dem Jahrhundert gehen
Usprungsmythen, Herkunft
Als Victor Hugo zur Welt kam, war »das Jahrhundert […] zwei Jahre alt, schon zerbrach die Stirn des künftigen Kaisers Napoleon die Maske des Ersten Konsuls Bonaparte.«4 Eine Ermächtigung, Hoffnung und Furcht, die Welt in Aufruhr – und mittendrin die Geburt des Kindes, das zum Jahrhundertmenschen wird. Die große Erzählung von Victor Hugos Leben beginnt mit seiner Zeugung. Das kannte man allenfalls aus Schelmenromanen. Wenn der erwachsene Hugo von seinem Ursprung sprach, berief er sich auf die Geschichte, die sein Vater ihm zum 21. Geburtstag eingeflüstert hatte. Léopold Hugo zufolge wurde sein Sohn Victor in hoher Luft auf einem Gipfel der Vogesen gezeugt. Dieser wurde später trotz einiger Widersprüche in der Ortsbeschreibung als Felsengipfel des Donon ausgemacht, nahe den Ruinen eines Vosegustempels, der dem keltischen Gott der Händler und Reisenden, der Diebe und Redegewandten geweiht war, und oberhalb dichter, sagenumwobener Wälder und gewundener Herden- und Schmugglerpfade. Von hier aus erblickt man die Quellflüsse der Saar und die Spitze des Straßburger Münsters und schaut über die Rheinebene, deren linksrheinische, französisch besetzte Gebiete Napoleon Bonaparte 1801 mit dem Frieden von Lunéville dem französischen Territorium rechtlich eingliederte. Noch heute zeigt diese Grenzregion die jahrhundertealten Spuren der wechselvollen deutsch-französischen und europäischen Geschichte. Bei günstigem Licht erscheint in der Ferne hinter den Höhen des Schwarzwaldes die schemenhafte Kette der Alpen. »Geschaffen nicht auf dem Pindos, aber einem der höchsten Gipfel der Vogesen, anlässlich einer Reise von Lunéville nach Besançon, scheinst du dich an diesen fast himmlischen Ursprung zu erinnern, und deine Muse ist ständig erhaben, soweit ich es sehe. Doch was bringen dir deine schönen Verse ein?«5 Die Zeugungsanekdote im Brief vom 19. November 1821, unterzeichnet mit »Ihr Vater, General Hugo«, bestimmte den Sohn zu einer hohen Stellung in Militär oder Politik, zu Reichtum und Würden. Doch der Sohn ließ sein Jurastudium schleifen und blieb bei seinem Wunsch, Dichter zu werden.6 Am 28. November antwortete Victor seinem »lieben Papa«, er habe zahlreiche »Freunde« und leide nicht darunter, nur ihn als »Förderer« zu haben, da gewiss weitere »Ressourcen« hinzukommen würden. Die von seinem mittlerweile finanziell ruinierten Vater erzählte, ansonsten nicht bezeugte Begebenheit aus dem Mai 1801 gehörte fortan zum Familienroman Victor Hugos, bevor ein elsässischer Kunsthistoriker mit Gespür für touristische Attraktionen7 sie 1960 mit einer in einen Sandsteinblock eingelassenen Schrifttafel verbürgen ließ: AN DIESEM ORT WURDE VICTOR HUGO AM 5. FLOREAL DES JAHRES 9 GEZEUGT. Victor Marie Hugo war der dritte Sohn eines jakobinischen Offiziers aus Lothringen, Joseph-Léopold-Sigisbert Hugo, und einer Bretonin, Sophie-Françoise »Femme Hugo«, geb. Trébuchet. Léopolds Vorfahren aus der Region Jeanne d’Arcs waren nicht, wie er vorgab, im 16. Jahrhundert geadelt worden, sondern Totengräber und Tischlermeister gewesen. Noch ältere Spuren verlieren sich in der Tiefe der Zeit. Er selbst jedoch lernte Latein, ging nach dem Sturm auf die Bastille als Sechzehnjähriger zum Militär und unterzeichnete mit »Sansculotte Brutus Hugo«, bevor er in der Grande Armée diente. Sophie wurde mit elf Jahren Vollwaise und in einem Pensionat der Ursulinen erzogen, ihre Mutter war im Kindbett gestorben und der Vater, Kapitän der Indienkompanie, vor der Île de France – dem heutigen Mauritius – verschollen. Victor wurde am 26. Februar 1802 – nach dem damals noch gültigen Revolutionskalender am 7. Ventôse des Jahres X – in der ostfranzösischen Garnisonsstadt Besançon geboren. »Es ist ein Junge«, stellte der Geburtshelfer um halb elf abends fest. Da das Kind bleich war, ein kurzes Wimmern anstelle des erwarteten Schreis von sich gab und nur schwach atmete, hielt er es für nicht lebensfähig und riet zur Nottaufe. Niemand aber rief nach einem Priester oder fühlte sich in dieser Situation selbst zu dem Ritual befugt, und auch aus den folgenden Wochen findet sich kein Taufschein. Denn der Empfang des Sakraments widersprach den freigeistigen und revolutionären Überzeugungen des Vaters und dem Willen der Mutter, die zwar an Gott und die Seele glaubte, nicht aber an die Kirche und ihre Würdenträger. An diesem Spätwinterabend und in der darauffolgenden Nacht schneite es, Kälte und Wind drangen durch die Fensterritzen im ersten Stock des hundertjährigen Hauses Nummer 140 in der Grande Rue an der Place Saint-Quentin, heute Place Victor Hugo und an die Rue Victor Hugo grenzend. Die Mutter klagte, der Säugling sei nicht länger und dicker als ein Messer, der dreijährige Abel und der kräftige, siebzehn Monate alte Eugène hielten das Baby, als sie es im Schein flackernder Kerzen erblickten, für einen Kobold oder ein seltsames kleines Tier. Der Vater hatte sich nach zwei Söhnen eine Tochter namens Victorine gewünscht, es war ein Victor geworden. Wenige Wochen später kehrte Léopold zu seinem Regiment zurück, reiste erst nach Marseille, dann nach Korsika, Italien und Spanien und sonst wohin, nicht immer gab er Auskunft über seinen Verbleib; zuerst schrieb er seiner Frau noch Briefe, auf die diese nur selten antwortete. Die militärischen Verdienste des »Citoyen Léopold Hugo« waren mit dem Rang des Bataillonschefs einer halben Brigade belohnt worden, seine Affären waren Legion. Die meiste Zeit war der Vater abwesend, anders als General Victor Fanneau de Lahorie, den Sophie Hugo zum Paten ihres jüngsten Sohnes erwählte und wohl auch zu ihrem Geliebten. Den Vornamen des Kindes, der auch sein eigener war, kommentierte Lahorie lebhaft: Victor, »der Sieger«, lateinischer Gegenpart zum altsächsischen Hugo, »der Denkende, Kluge«. Der kleine Victor widerlegte die pessimistische Prognose des Geburtshelfers und überlebte alle anderen. Er wuchs heran in einer Familie, deren ständige Ortswechsel, Zerwürfnisse und Geheimnisse ausreichend Stoff für die Einbildungskraft, für Träume und Geschichten boten, und in einer Zeit, in der Napoleon Bonaparte Frankreich und ganz Europa aufwühlte. Schrecken des Krieges
1802 wurde Napoleon Bonaparte, der bereits den Feldzug nach Ägypten angeführt, mit dem Staatsstreich des 18. Brumaire im Jahre VIII des Revolutionskalenders die Macht an sich gerissen und anschließend Norditalien erobert hatte, 33 Jahre alt und zum Konsul auf Lebenszeit gewählt. Zwei Jahre später krönte er sich im Beisein von Papst Pius VII. zum Kaiser der Franzosen und ließ diesen historischen Augenblick mit einem Monumentalbild Jacques-Louis Davids verewigen. Das Jahrhundert erholte sich nicht von ihm, auf den späteren geostrategischen Interessen und politischen Entscheidungen, Kriegen und Friedensschlüssen in Europa lastete die Erinnerung an die Umwälzungen und Verwüstungen, die er angerichtet hatte. Die Kindheit Victor Hugos ging aus Sicht seiner Mutter im Schatten und in den Augen seines Vaters im Lichte Napoleons einher. Der Krieg legte sich, obwohl er nicht in Frankreich, sondern in anderen Ländern geführt wurde, über das Alltagsleben der Familien, und in den Köpfen von Männern, Frauen und Kindern rumorten die Feldzüge des jungen Heerführers als heroische Vision oder blutiger Schrecken. Selten geisterte eine historische Figur so beharrlich durch die Fantasie, durch Literatur, bildende Künste und Musik eines ganzen Jahrhunderts:8 Napoleon als Vollender der Revolution, aufgestiegen aus dem Volke und einem der ärmsten Winkel des Kontinents, als glamouröser Held auf der Brücke von Arcole, an der er in Wirklichkeit nie vorbeikam;9 »Buonaparte«, der an der Etsch die Österreicher in die Flucht schlägt und beim Einzug in Mailand als Messias bejubelt wird; der kleine Mann, der sich mit der Sphinx von Gizeh misst; der entfesselte Reiter auf dem Großen Sankt Bernhard, den er in Wahrheit, gekleidet in schützendes Ölzeug, auf einem von einem Bergführer geleiteten Maultier überquerte;10 die »Weltseele« zu Pferde, die in Jena vor den Augen des Philosophen Hegel paradiert (der wenige Tage später sehen muss, dass die ganze Stadt in Flammen steht); der Triumphator der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz und das Genie, das die gewaltigen Absichten der Vorsehung erfüllt. Aber auch das Gespenst im Schneesturm an der Beresina, das Phantom im Schlamm von Waterloo, der weltentrückte Gefangene von Longwood House. Im Dezember 1820, längst auf dem Weg ins Dichterleben, schaut der achtzehnjährige Victor Hugo zurück auf die Kindheitserfahrungen seiner Generation, die gerade politisch erwacht. Wie der indiskrete Brief des Vaters ist die Atmosphäre der frühen...