Hürter | Terrorismusbekämpfung in Westeuropa | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 104, 336 Seiten

Reihe: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte

Hürter Terrorismusbekämpfung in Westeuropa

Demokratie und Sicherheit in den 1970er und 1980er Jahren

E-Book, Deutsch, Band 104, 336 Seiten

Reihe: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte

ISBN: 978-3-11-034544-5
Verlag: De Gruyter
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Demokratischer Staat und terroristische Herausforderung Ist Sicherheit gegen Terrorismus möglich, ohne Recht und Freiheit der liberal verfassten westlichen Demokratien zu gefährden? Diese Frage, die seit den Anschlägen des 11. September 2001 von andauernder Aktualität ist, stellte sich in Westeuropa bereits in den 1970er und 1980er Jahren, als Staaten wie Italien, Frankreich, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland von sozialrevolutionären, separatistischen und propalästinensischen Terroristen herausgefordert wurden. Die zeithistorische Forschung hat sich erst in jüngster Zeit dem staatlichen Handeln gegen den "alten" Terrorismus und seinen sozio-kulturellen Implikationen zugewandt. Dabei lag der Schwerpunkt bisher auf einzelnen nationalstaatlichen Beispielen. Dieser Sammelband geht den notwendigen nächsten Schritt. In ihm werden die jeweiligen Konfrontationsgeschichten zwischen Demokratie und Terrorismus miteinander verglichen sowie staatliche Anti-Terrorismus-Politiken in ihren internationalen Beziehungen und Verknüpfungen untersucht.
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Tobias Hof Anti-Terrorismus-Gesetze und Sicherheitskräftein der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Italien in den 1970erund 1980er Jahren
Einleitung
Seit den späten 1960er Jahren entwickelten sich aus den sozialen Protestbewegungen in Italien und Deutschland linksterroristische Gruppierungen, die trotz grundlegender ideologischer Übereinstimmungen auch bedeutende Differenzen aufwiesen7. Während die Rote Armee Fraktion (RAF) stets eine bewaffnete „kleine Sekte“8 blieb, konnten Gruppen wie die Brigate Rosse (BR) oder Prima Linea (PL) in Italien auf eine Sympathisantenszene zählen, die vermutlich etwa 30 000 Personen umfasste9. Zugleich versetzten rechtsterroristische Bombenanschläge und Attentate die italienische Halbinsel in Angst und Schrecken10. Deutschland, so der Journalist Hans Schueler, lebe im Vergleich zu seinem „südlichen Nachbarn […] in tiefem innerem Frieden“11. Auf einen breiten Rückhalt in der katholischen Gesellschaft konnte die Irish Republican Army (IRA) in Nordirland zählen, die seit den frühen 1970er Jahren auch auf dem britischen Kernland vermehrt Bombenkampagnen startete. Zugleich versuchten loyalistische terroristische Gruppen wie die Ulster Volunteer Force (UVF), den Verbleib Nordirlands bei Großbritannien mit Attentaten, Morden und Anschlägen zu erhalten12. Während Bonn und Rom sich mit einer neuen Form der Gewalt auseinandersetzen mussten, sahen sich London und die nordirische Regierung in Stormont bereits seit 1922 mit dem ethnisch-separatistischen Terrorismus der IRA konfrontiert, der sich allerdings ebenfalls seit Ende der 1960er Jahre massiv radikalisierte. Wie reagierten die drei Staaten auf die terroristischen Herausforderungen in den 1970er und 1980er Jahren, und welche Wege schlugen sie ein, um dem Terrorismus Herr zu werden? Auch wenn es sich um unterschiedliche Spielarten des Terrorismus handelte, sollen hier einige vergleichende Überlegungen über die staatliche Reaktion auf politischer Makroebene in der Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Italien angestellt werden. Ein fundierter historischer Vergleich der Anti-Terrorismus-Maßnahmen verschiedener Länder zählt immer noch zu einem Desiderat13. Dies liegt zum einen daran, dass bislang nur vereinzelt umfassende Nationalstudien vorgelegt wurden, auch wenn in diesen Bereich in den letzten Jahren Bewegung gekommen ist. Zum anderen wurde und wird der Erkenntnisgewinn eines Vergleichs vielfach in Abrede gestellt, da es sich um genuin unterschiedliche Formen des Terrorismus handelte, auf die der Staat reagieren musste. Auch wenn in der Tat die Ziele der terroristischen Organisationen – von der Loslösung aus dem Vereinigten Königreich bis zur Etablierung eines utopischen marxistisch-leninistischen Staates – auseinandergingen, so waren doch die Mittel, die diese Gruppen anwandten, sehr ähnlich. Entführungen, Morde, Raubüberfälle und Bombenanschläge zählten zum gewaltsamen Repertoire all dieser Gruppen. Die drei Regierungen sahen sich somit zunächst mit ähnlichen Gewaltphänomenen konfrontiert, die es zu unterbinden galt14. Im Folgenden soll es aber nicht darum gehen, welchem Staat es letztlich besser gelungen ist, den Terrorismus innerhalb des rechtsstaatlichen Rahmens zu bekämpfen und zugleich die Sicherheit und Unversehrtheit jedes einzelnen Bürgers zu gewährleisten. Ein derartiges Anliegen wäre aufgrund unterschiedlicher nationalstaatlicher Rahmenbedingungen auch nicht zielführend. Ein historischer Vergleich der Anti-Terrorismus-Maßnahmen in Großbritannien, der Bundesrepublik Deutschland und Italien soll vielmehr dazu dienen, Gemeinsamkeiten und nationalstaatliche Besonderheiten herauszuarbeiten. Er kann auch helfen, die Frage zu klären, ob die staatlichen Akteure sich vornehmlich gegen die eingesetzten Mittel zur Wehr setzten, oder ob sie bei ihrer Anti-Terrorismus-Strategie auch die Ziele der Terroristen im Blick hatten. Der Vergleich soll in vier Schritten erfolgen. Zunächst wird auf die Anti-Terrorismus-Gesetzgebung in den drei Ländern eingegangen. Der zweite Abschnitt widmet sich den Polizeikräften und dem möglichen Einsatz des Militärs im Kampf gegen den Terrorismus. Drittens werden die Nachrichtendienste thematisiert. Sowohl bei den Sicherheitskräften als auch bei den Nachrichtendiensten geht es weniger um die Beschreibung und Analyse der eigentlichen Arbeit auf der Mikroebene. Vielmehr soll es darum gehen, den Einfluss der Terrorismusbekämpfung auf die Sicherheitsstruktur der Staaten zu rekonstruieren, mögliche Reformen zu erläutern und eine sich wandelnde Bedeutung der einzelnen Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste im Kampf gegen den Terrorismus zu untersuchen. Bevor in einer abschließenden Bilanz die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, wird in einem vierten Abschnitt nach einem möglichen Transfer von Anti-Terrorismus-Maßnahmen zwischen den drei Ländern gefragt. 1. Die Anti-Terrorismus-Gesetze
In der Bundesrepublik wurde die Gesetzgebung erst nach der Mai-Offensive der RAF im Jahr 1972 auf terroristische Verbrechen hin ausgerichtet. Frühere Maßnahmen wie der „Radikalenerlass“ vom Januar 1972 waren zwar bereits eine Antwort auf den Anstieg von Extremismus und politisch motivierter Gewalt, aber noch keine spezifische Reaktion auf den Linksterrorismus. Im Juni 1972 erläuterte Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) sein sicherheitspolitisches Programm, das vier Hauptanliegen umfasste: erstens Ausbau der Sicherheitskräfte des Bundes, zweitens bessere Kooperation zwischen Bund und Ländern, drittens neue Gesetze zur Intensivierung der Verbrechensbekämpfung und viertens eine Verbesserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen15. Die Fokussierung auf die Bekämpfung terroristischer Gruppen schwächte sich jedoch zunächst wieder ab. Im Sommer 1972 gelang den Strafverfolgungsbehörden die Festnahme führender Mitglieder der RAF, so dass linksterroristische Gruppen nicht mehr als akute Gefahr für Staat und Gesellschaft angesehen wurden. Walter Scheel (FDP), Vizekanzler und Außenminister, stellte sogar erleichtert fest: „Das Problem Baader-Meinhof ist erledigt.“16 Aktionen wie die Entführung des Berliner CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz und die Botschaftsbesetzung in Stockholm im Jahr 1975 sowie der „Deutsche Herbst“ 1977 erhöhten wieder den Legitimationsdruck und den Handlungszwang auf die sozial-liberale Koalition. Im April 1975 machte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) deutlich, dass die Bundesregierung gegen terroristische Gruppen entschieden vorgehen werde: „Wer den Rechtsstaat zuverlässig schützen will“, so Schmidt, „muss innerlich auch bereit sein, bis an die Grenzen dessen zu gehen, was vom Rechtsstaat erlaubt und geboten ist“17. Zwischen 1975 und 1978 erließ der Bundestag eine Reihe von reaktiven sowie repressiven Gesetzen und setzte dabei vor allem den dritten Punkt von Genschers Programm aus dem Jahr 1972 um. Genschers Forderung nach einer Verbesserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geriet hingegen in den Hintergrund. Es wurden unter anderem die neuen Straftatbestände „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ (§ 129a StGB) und „Anleitung zu Straftaten“ (§ 130 StGB) eingeführt sowie die Rechte der Angeklagten und der Verteidiger eingeschränkt. Es kam zu einschneidenden Änderungen im Melde- und Demonstrationsrecht sowie im Pass-, Verkehrs- und Kommunikationswesen und zur Beschneidung von Grundrechten wie der Meinungsfreiheit und der Unverletzlichkeit der Wohnung (u. a. „Razziengesetz“ vom 14. April 1978)18. Durch diese Maßnahmen versuchte die bundesdeutsche Regierung sowohl das materielle als auch das formelle Strafrecht an die vermeintlichen Bedürfnisse der Terrorismusbekämpfung anzupassen. Dabei schuf Bonn jedoch eine Art Sonderstrafrecht, da etliche der neuen Bestimmungen direkt an den neuen Straftatbestand „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ gekoppelt waren19. Auch wenn die Etablierung eines solchen Sonderstrafrechts aus verfassungsrechtlicher Sicht umstritten war, basierte die Verabschiedung der meisten Gesetze im Kern auf überparteilicher Einigkeit. Diese zeigte sich selbst bei der rechtsstaatlich bedenklichen nachträglichen Legitimierung der Kontaktsperre zwischen Verteidigern und inhaftierten Terroristen durch das gleichnamige Gesetz (§ 31 EGGVG; „Kontaktsperregesetz“ vom 30. September 1977)20. Der Konsens zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien geriet ins Wanken, als die nationale und internationale Kritik an der bundesdeutschen Anti-Terrorismus-Politik stieg. Zum Missfallen der CDU/CSU-Opposition begann daraufhin die sozial-liberale Koalition, die bisherigen Maßnahmen zu reflektieren und stärker auf deeskalierende Maßnahmen zu setzten. Diese Neuausrichtung der Terrorismusbekämpfung ging insbesondere auf die Initiative des neuen Bundesinnenministers Gerhart Baum (FDP) zurück, der von Justizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) in seiner Politik unterstützt wurde21. Baum bremste den Übereifer der Strafverfolgungsbehörden und thematisierte das rechtliche Problem des Datenschutzes. Er war ebenso daran beteiligt, eine sozialwissenschaftliche Untersuchung des Phänomens „Terrorismus“ zu fördern, und suchte den Dialog mit ehemaligen Terroristen wie Horst Mahler und ihrem Umfeld22. Ein besseres Verständnis der Motivation, der...


Johannes Hürter, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.


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