Huster / Boeckh / Mogge-Grotjahn Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung
2008
ISBN: 978-3-531-90906-6
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 613 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-531-90906-6
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Zielgruppe
Upper undergraduate
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Armut und soziale Ausgrenzung Ein multidisziplinäres Forschungsfeld.- Theorien der Armut.- Gesellschaftliche Ein- und Ausgrenzung Der soziologische Diskurs.- Ungleichheit und Armut als Movens von Wachstum und Wohlstand?.- Soziale Eingrenzung als sozialstaatliches Ziel Der sozialpolitische Diskurs.- Das Maß der Armut: Armutsgrenzen im sozialstaatlichen Kontext Der sozialstatistische Diskurs.- Dynamik von Armut.- International vergleichende Armutsforschung.- Der Wert der Armut Der sozialethische Diskurs.- „Denn Armut ist ein Glanz aus Innen...“ Armut und Kunst.- ‚Freiwillige Armut‘ Zum Zusammenhang von Askese und Besitzlosigkeit.- Die Entwicklung des Rechts der Armut zum modernen Recht der Existenzsicherung.- Geschichte der Armut und sozialen Ausgrenzung.- Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis.- Von der mittelalterlichen Armenfürsorge zu den Anfängen der Sozialstaatlichkeit.- Armut und soziale Ausgrenzung:Gesellschaftliche Prozesse und Lebenslagen.- Arbeit: Mit Erwerbsarbeit in die Armut oder aus der Armut?.- Einkommen und soziale Ausgrenzung.- Bildungsarmut und die soziale „Vererbung“ von Ungleichheiten.- Gesundheit und soziale Lebenslage.- Wohnen und Quartier: Ursachen sozialräumlicher Segregation.- Geschlecht: Wege in die und aus der Armut.- Migration und soziale Ausgrenzung.- Armut im Familienkontext.- Zwischen selbstbestimmter sozialer Teilhabe und fürsorglicher Ausgrenzung Lebenslagen und Lebensbedingungen von Menschen, die wir behindert nennen.- Bewältigungsstrategien bei Armut und sozialer Ausgrenzung.- Prekäre Lebenslagen und Krisen Strategien zur individuellen Bewältigung.- Bewegung und Körperlichkeit als Risiko und Chance.- Armut in Ästhetisch-kultureller Bildung.- E-exclusion oder E-inclusion?.- Kinderarmut undfamilienbezogene soziale Dienstleistungen.- Soziale Sicherung und Arbeitsförderung bei Armut durch Arbeitslosigkeit.- Armutspolitik der Europäischen Union.- Wer ändert was — Was ändert wen? Verändernde Praxis als Herausforderung für Hochschulausbildung und berufliches Handeln.- Zivilgesellschaft und soziale Ausgrenzung.- Armut und Öffentlichkeit.- Armut als globale Herausforderung.
Armut und soziale Ausgrenzung. Ein multidisziplinäres Forschungsfeld (S. 13)
Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh und Hildegard Mogge-Grotjahn
1 Armut und soziale Ausgrenzung: Wahrnehmen und Handeln
„Denn Arme habt ihr allezeit bei euch (…)", so heißt es schon im Neuen Testament (Mt 26,11). Armut ist ganz offensichtlich eine die verschiedensten gesellschaftlichen Formationen überdauernde – quasi ‚zeitlose’ – Tatsache, andererseits aber weist die Geschichte zahlreiche Versuche auf, Armut zu überwinden. Armut gehört zur Menschheitsgeschichte und hat selber eine Geschichte, sie hat unterschiedliche Erscheinungsformen und fordert zu immer neuen Versuchen heraus, gesellschaftliche Phänomene in Theorien zu fassen.
Nicht zuletzt bringt Armut soziale Akteure hervor, die private wie öffentliche Ressourcen, Strategien und Perspektiven zu ihrer Überwindung mobilisieren bzw. entwickeln wollen – vom kleinen Wirkungskreis des Einzelnen bis hin zu weltweiten Interventionen. Armut und soziale Ausgrenzung sind begriffsgeschichtlich und inhaltlich nicht gleich zu setzen. Armut ist der ältere Begriff.
Er hat in allen philosophischen und religiösen Traditionen, Theorien und deren Geschichte einen wesentlichen Stellenwert und ist in moderne Gesellschaftsanalysen, politisches Handlungswissen und öffentliche Diskurse eingegangen. Der Begriff soziale Ausgrenzung ist neueren Datums. Er ist in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten über die Aktivitäten der Europäischen Union im Rahmen ihrer Armutspolitik verbreitet und letztlich zum Standard geworden. Inzwischen ist er als feststehender Terminus in allen Sprachen der Mitgliedstaaten der EU eingeführt:
social exclusion, exclusion sociale, társadalmi kirekesztodés, exclusión social, wykluzenie spo eczne, exclusão social, sociale uitsluiting, social utestängning, kol ,, exclusione sociale, sotsiaalne tõrjutus, socialine atskirtis, sociala atstumtiba u.a.m.
In das heutige Verständnis von Armut und sozialer Ausgrenzung sind unterschiedliche Theorietraditionen aufgenommen worden – so das im angelsächsischen Sprachraum verbreitete Verständnis von „underclass" und das im französischsprachigen Sprachraum verbreitete Verständnis von „exclusion" (vgl. Kronauer 2002). Sie alle beziehen sich auf historisch je neu akzentuierte soziale Probleme, die neben der Dimension der materiellen Not auch die der sozialen Position der Betroffenen umfasst.
Unterschiede im Erkenntnisinteresse bestanden und bestehen darin, ob eher die dauerhafte soziale Lage der durch Armut Ausgegrenzten, eher die Prozesse und Mechanismen der Ausgrenzung oder eher ihre Akteure hervorgehoben werden. Ein enges Verständnis von Armut bezeichnet in erster Linie die besonderen Merkmale und Folgen von durch Armut gekennzeichneten Lebenslagen, doch ein weiter entwickeltes, komplexeres Armutsverständnis erfasst auch den Prozess der Entstehung benachteiligender Lebenslagen und ist deshalb weitgehend synonym mit dem Begriff der sozialen Ausgrenzung.
Dieser geht von dem Prozess der Ausgrenzung aus und weist auf die beteiligten Akteure hin: diejenigen, die ausgegrenzt werden, aber auch diejenigen, die soziale Ausgrenzung bewirken. Der Terminus soziale Ausgrenzung ist somit deutlicher als Armut politisch akzentuiert, ebenso wie der Gegenbegriff der sozialen Eingrenzung. Aber auch der Ausgrenzungsbegriff bezieht die beharrenden Momente und die gesamte Lebenslage, die als ausgegrenzt definiert ist, in die Analyse mit ein. Der Titel und die Beiträge des Handbuches greifen die unterschiedlichen Begriffs- und Theorietraditionen auf und versuchen, trotz des weitgehend synonymen Gebrauchs der Begriffe, die Spannung der unterschiedlichen Theorietraditionen und Akzentuierungen für die Auseinandersetzung mit den Ursachen, Strukturen, Prozessen und Akteuren von Armut und sozialer Ausgrenzung fruchtbar zu machen.