E-Book, Deutsch, 253 Seiten
Ibañez Sumpffieber
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-944621-49-4
Verlag: Reese Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 253 Seiten
ISBN: 978-3-944621-49-4
Verlag: Reese Verlag
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1
Wie an jedem Nachmittag verkündete die Postbarke ihre Ankunft in Palmar durch verschiedene Hornstöße. Der Barkenführer, ein mageres Männchen mit einem amputierten Ohr, holte, von Tür zu Tür gehend, Aufträge für Valencia ein, und wenn er die unbebauten Stellen der einzigen Dorfstraße erreichte, tutete er von neuem, damit auch die am Rand des Kanals verstreuten Hütten seine Anwesenheit erführen. Eine Herde halbnackter Kinder folgte ihm mit einer gewissen Bewunderung - er flößte ihnen Respekt ein, dieser Mann, der viermal täglich die Albufera (=Küstensee, Haff südl. von Valencia.) kreuzte, um die besten Fische des Sees nach Valencia mitzunehmen und von dort die tausend Artikel einer Stadt zu bringen, der für diese auf einer Insel von Schilf und Schlamm aufwachsenden Kleinen etwas Geheimnisvolles und Phantastisches anhaftete. Aus der Taverne des Cañamel (=Dialektform von Cana de miel: Zuckerrohr.), dem ersten Etablissement Palmars, kam eine Gruppe von Schnittern, ihren Sack auf dem Rücken, die auf der Barke die Heimfahrt antreten wollten, und von überall eilten neugierige Frauen zum Kanal, den Hütten und zum Aufbewahren der Aale bestimmte Fischkasten umsäumten. In dem toten, wie Zinn blitzenden Wasser lag reglos die Postfähre: ein großer Sarg, mit Leuten und Bündeln derart beladen, daß der Rand kaum aus dem Wasser ragte. Ihr dreieckiges, flickenbesätes Segel krönte ein farbloser Lappen, einstmals eine spanische Flagge, der den offiziellen Charakter des alten Fahrzeugs kundtat. Ein unerträglicher Geruch verbreitete sich um das Boot herum. Seine Bretter waren vollgesogen von dem Schleim der Aalkörbe und dem Schmutz Hunderter von Menschen, ein Übelkeit erregendes Gemisch von schlüpfrigen Häuten, Fischschuppen und von unsauberen Kleidern, deren ewiges Scheuern das Holz der Bänke allmählich poliert hatte. Die Passagiere, in ihrer Mehrzahl Schnitter, die von Perello kamen, dem an das Meer grenzenden Ende der Albufera, skandalierten: «Los! Die Fähre ist voll, es geht niemand mehr herein!» So war es. Doch das Männchen drehte ihnen, als wollte es ihr Geschrei nicht hören, seinen unförmigen Ohrstumpf zu und fuhr bedächtig fort, die ihm vom Ufer gereichten Körbe und Säcke unterzubringen. Jedes neue Stück forderte neuen Einspruch heraus; immer mehr mußten sich die Fahrgäste zusammendrängen. Die Nachzügler aus Palmar jedoch nahmen die Flut grober Worte mit evanglischen Betrachtungen auf: «Nur ein bißchen Geduld! Im Himmel werdet ihr später so viel Platz haben!» Noch tiefer sank die Barke ein, ohne daß ihr an verwegene Fahrten gewohnter Führer die geringste Unruhe gezeigt hätte. Jeder Fleck war besetzt, zwei Männer standen, die Hände am Mast angeklammert, auf dem Außenbord; ein anderer hockte wie eine Galionsfigur auf dem Bug. Und nochmals ließ der Führer sein Horn ertönen, unempfindlich gegen den allgemeinen Protest. «Cristo! Hat dieser Gauner noch nicht genug? Sollen wir uns hier den ganzen Nachmittag von der Sonne schmoren lassen?» Plötzlich wurde es still. Am Kanal entlang näherte sich ein von zwei Frauen gestützter Mann, ein weißes, bebendes Gespenst, eingehüllt in eine wollene Bettdecke. Die Wasser schienen in der Hitze dieses Sommertages zu kochen; jeder auf der Barke schwitzte und machte verzweifelte Anstrengungen, um sich von dem klebenden Kontakt der Nachbarn zu befreien, und dieser Mann zitterte, klapperte vor Kälteschauern mit den Zähnen, als wäre die Welt für ihn in eisige Nacht versunken. Die beiden Frauen baten, ihm, der sich beim Reisschneiden die verfluchte Terciana (=Fieber.) der Albufera geholt hatte, ein Plätzchen zu gönnen. «Ihr seid doch Christen? Aus Barmherzigkeit!» Und seine zitterige Stimme wiederholte wie ein Echo: «Per caritat! Per caritat!» (=Aus Mitleid.) Gehoben und gestoßen kam er aufs Boot, ohne daß die egoistische Menge Platz machte, und da er keinen Sitzplatz fand, ließ er sich zwischen die Beine der Fahrgäste gleiten, mit dem Kopf auf ihren lehmbedeckten Hanfsandalen. Man war an dergleichen Szenen gewöhnt. Dieses Fahrzeug diente für alles: brachte Nahrung, führte ins Hospital und führte zum Kirchhof. Starb ein Armer, der kein eigenes Boot besaß, so wurde der Sarg unter eine Bank geschoben, und man lachte und plauderte, mit den baumelnden Füßen an die düstere Kiste klopfend, gleichmütig weiter. Der Fieberkranke hatte sich kaum versteckt, da brach die Empörung wieder los. «Worauf wartet der Ohneohr denn nur? Fehlt noch jemand?» Doch über alle Gesichter breitete sich ein freundliches Lächeln, als jetzt ein Paar aus der Taverne heraustrat. «Ah, der Onkel Paco! Der Onkel Paco Cañamel!» Der Besitzer der Taverne, ein Riese mit aufgeschwemmtem Bauch, kam, wie ein Kind leise vor sich hin jammernd, Schrittchen für Schrittchen näher, wobei er sich fest auf seine Frau stützte, die kleine Neleta, mit dem rebellischen roten Haar, deren muntere grüne Augen weich wie Samt zu liebkosen schienen. Dieser Cañamel! Ständig krank, ständig seufzend, während seine Frau, täglich hübscher und liebenswürdiger, von ihrem Büfett aus über ganz Palmar und die Albufera herrschte. Woran er litt, das war die Krankheit der Reichen: zu viel Geld und zu gutes Leben. Man brauchte nur seinen Wanst und das rosige Gesicht anzusehen, in dessen Speckfalten die kleine Nase und die Augen ertranken. Ah, wenn er sich, bis zur Hüfte im Wasser stehend, das tägliche Brot mit Reisschneiden verdienen müßte, würde es ihm nicht einfallen, krank zu sein! Mühsam setzte Cañamel, ohne Neleta loszulassen, einen Fuß auf die Barke und brummelte gegen diese Leute, die sich über sein Leiden lustig machten, ihm aber nichtsdestoweniger mit einer Dienstbeflissenheit, wie sie auf dem Land dem Reichen gegenüber üblich ist, einen Sitzplatz einräumten, während seine Frau durchaus nicht schüchtern den Komplimenten über ihr gutes Aussehen die Stirn bot. Sie half ihrem Mann einen großen Sonnenschirm aufzuspannen, stellte für eine Reise, die kaum drei Stunden währte, einen Binsenkorb mit Proviant zwischen seine Füße und wandte sich schließlich an den Barkenführer: «Gebt gut acht auf meinen armen Paco! Es geht ihm schlecht; er soll eine Zeitlang in seinem Landhäuschen in Ruzafa verbringen, wo ihn gute Arzte behandeln werden.» Dabei streichelte sie den stöhnenden Giganten, dessen wabbliges Fleisch beim ersten Schwanken des Bootes wie Gallert erzitterte. Der Führer stemmte die ungefüge Stange zum Staken gegen das Ufer, und schwerfällig begann das Fahrzeug den Kanal entlangzugleiten. Sein Bug, vor dem die Enten flügelschlagend zur Seite stoben, trübte den Wasserspiegel, der die auf dem Kopf stehenden Hütten, die schwarzen Kähne und die strohgedeckten Fischkasten widerspiegelte, deren Enden Holzkreuze schmückten, als wollte man die Aale drinnen dem göttlichen Schutz und Schirm anvertrauen. Sobald die Postbarke aus dem Kanal heraus war, suchte sie sich ihren Weg zwischen den Reispflanzungen, ungeheuren, mit bronzefarbenen Ähren bedeckten Inseln aus flüssigem Schlamm. Die Sichel in der Hand, plantschten Schnitter durch das Wasser, denen die Nachen, schwarz und schmal wie Gondeln, folgten, um die Garben zu sammeln und nach den Tennen zu schaffen. Inmitten dieser aquatischen Vegetation erhoben sich hie und da die kleinen weißen, von Schornsteinen überragten Gebäude für die Maschinen, die je nach Erfordernis die Felder trockenlegen oder überschwemmen konnten. Die hohen Ufer verbargen das Netz der Kanäle, breite Gassen, wo die mit Reis beladenen Barken fuhren. Ihr Rumpf blieb unsichtbar, und die großen dreieckigen Segel glitten über dem Grün der Felder hin, als machten sie ihren Weg auf festem Land. Mit Kenneraugen betrachteten die Fahrgäste die Pflanzungen, gaben ihre Meinungen über die Ernte ab und bedauerten das Unglück des Bauern, dem Salpeter den Reis vernichtet hatte. Weiter schob sich die Fähre durch stille Wasserarme mit dem goldgelben Ton des Tees. Vom Grund aufstrebende Pflanzen neigten ihren Haarschweif unter dem Druck des Kiels. Das Schweigen der regungslosen Gewässer vergrößerte jeden Laut, und wenn die Unterhaltung zeitweise aussetzte, hörte man deutlich das mühsame Atemholen des Fieberkranken am Boden, das asthmatische Schnaufen Canamals, das Knirschen von Masten und Stimmen auf unsichtbaren Booten, die sich vor den Krümmungen der Kanäle ankündigten, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Der Barkenführer ließ die Stange für einen Moment im Stich, hüpfte auf den Knien der Fahrgäste zum Heck und machte das Segel los. Die schwache abendliche Brise sollte ihm helfen. Man war am See angelangt, und der Horizont erweiterte sich. Auf einer Seite die dunkle Wellenlinie der Pinien der Dehesa (=Viehweide; in Südspanien auch: gelichteter Wald.), die die Albufera vom Meer trennt, fast jungfräulicher, sich meilenweit hinziehender Wald, in dem die wilden Stiere weiden und in dessen Schatten die großen Schlangen leben, von wenigen gesehen, aber das gruselige Thema der Unterhaltungen an Winterabenden. Auf der anderen Seite floß die unendliche Fläche der Reisfelder hinter Sollana und Sueca mit den fernen Bergen zusammen. Die Sicht geradeaus war noch durch Inselchen verdeckt, zwischen denen die Barke, das Röhricht mit dem Segel streifend, sich vorsichtig hindurchwand. Strähnen dunkler Pflanzen, gallertartige, klebrige Fühlfäden, stiegen bis zur Oberfläche und wickelten sich um die Stange des Führers, und vergeblich sondierte man diese faulige Vegetation, in der es von den Tieren des Schlammes wimmelte. In aller Augen konnte man denselben Gedanken lesen: wer hier hineinfiel, kam schwerlich...