E-Book, Deutsch, 348 Seiten
Ickelsheimer-Förster / Raabe / Jacob Hale-Bopp
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-98528-002-5
Verlag: Shadodex - Verlag der Schatten
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Bann des Kometen
E-Book, Deutsch, 348 Seiten
ISBN: 978-3-98528-002-5
Verlag: Shadodex - Verlag der Schatten
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kometen! Sie galten als böse Omen, als himmlische Vorboten irdischen Übels. Aber nicht nur früher löste das Auftauchen eines Kometen Angst und Schrecken bei den Menschen aus.
1996/97 weckte ein außergewöhnliches Objekt am Nachthimmel die Aufmerksamkeit der Menschen und veranlasste sie dazu, den Blick nach oben zu richten. Es war der Komet Hale-Bopp (C/1995 O1). Ungewöhnlich war sein dünner Natriumschweif, der ihn zu etwas Besonderem machte.
Doch gerade dieser Natriumschweif hat zwischen dem 20. Mai 1996 und dem 9. Dezember 1997 – 569 Tage lang – immer wieder Ungewöhnliches bewirkt. Kleine Ereignisse, von denen die Öffentlichkeit nichts erfahren hat, weil die Betroffenen geschwiegen haben. Begebenheiten mit weitreichenden Folgen, die jedoch unter Verschluss gehalten wurden …
Bis heute, denn wir haben diese Geschichten aus der Dunkelheit ans Licht gezerrt. Wir lüften den Schleier, den die Vergangenheit über diese Geheimnisse gelegt hat.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Im Schweif des Kometen
© Ralf Raabe
Et numquam coelo spectatum impune cometen. Und niemals ist am Himmel ungestraft ein Komet gesehen worden. Claudian (370 bis 404 n. Chr.) Ich hatte Giles seit dem Studium nicht mehr gesehen, und wir standen uns auch damals nicht besonders nahe. Einmal lud er mich auf das Gut seiner Eltern ein zu einer Fuchsjagd, an die ich mich aus verschiedenen Gründen lieber nicht erinnern möchte. In Oxford jedenfalls sah man ihn häufiger in den Pubs als in der College-Bibliothek. Sein Vater überwies ihm allmonatlich ein hübsches Sümmchen, und so bildete Giles das Zentralgestirn einer Gruppe von Erstsemestern, die auf seine Kosten freitags bereits betrunken waren, noch ehe die Glocken von St. Mary neun Uhr geschlagen hatten. Da ich selbst nicht mit einem reichen Elternhaus gesegnet war und dazu mit einem saftigen Studienkredit in der Kreide stand, mied ich jenen Kreis und steckte meine Nase in die Bücher, um mich auf die Examen vorzubereiten. Seitdem waren rund zwanzig Jahre vergangen, und ich war nicht wenig überrascht, als mich eines Abends sein Anruf im Hotel erreichte. Zu jener Zeit hielt ich mich in London auf, um mit meinem Verleger über den neuen Roman zu sprechen. Giles hatte von Emma, einer gemeinsamen Bekannten, die mir die Flüge bucht, von meiner Anwesenheit erfahren. Er sei wegen einer Erbschaft in der Stadt und würde mich gern sehen, um mir eine – wie er sich ausdrückte – merkwürdige Geschichte zu erzählen. Mir fiel keine glaubwürdige Ausrede ein, und so verabredeten wir uns in einem indischen Restaurant in der Nähe des Britischen Museums. Bei meinem Eintreffen wartete Giles bereits auf mich. Er strahlte über das ganze Gesicht und schien sich aufrichtig zu freuen, mich zu sehen. Als er sich erhob, um mich zu begrüßen, konnte ich mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Auch an ihm waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: Er hatte einige Pfunde zugelegt, und die akkurat gescheitelten blonden Haare lichteten sich. Ein pakistanischer Kellner brachte die Speisekarten, und wir sprachen kurz über meine Arbeit. Giles wusste von meiner Kündigung bei der Zeitung und dass ich einige Romane veröffentlicht hatte; doch in seiner entwaffnenden Art machte er keinen Hehl daraus, keines meiner Bücher gelesen zu haben. Dann berichtete er mir von sich, wie es ihm nach dem Tod seines Vaters gelungen war, das Gestüt vor dem Ruin zu retten. Trotz seines launigen Tons hörte ich heraus, wie schwer diese Jahre für ihn, dem im Leben alles geschenkt worden war, gewesen sein mussten. Das Gespräch glitt hinüber zu Bekannten aus Studientagen, was aus ihnen geworden war, wer wen geheiratet hatte und wo sie nach der Scheidung lebten. Ein Schweigen trat ein, nachdem der Kellner die Vorspeisenteller abgeräumt hatte, nur unterbrochen vom Geschirrgeklapper und Gemurmel der anderen Gäste. Allmählich begriff ich, dass er den wahren Grund unserer Verabredung zu vermeiden suchte. Jetzt wurde ich neugierig. »Wir sind nicht hier«, wagte ich mich vor, »um Erinnerungen aufzufrischen, oder?« Er trommelte eine Weile mit den Fingern auf dem Tischtuch und sah mich prüfend an, bevor er zu sprechen begann. »Mein Vater hatte einen Bruder. Onkel Charles war unverheiratet und galt als – nun, sagen wir – ein wenig wunderlich. Die beiden hatten schon vor meiner Geburt miteinander gebrochen.« Er schwieg einen Moment. »Eine Frau?«, vermutete ich und begann bereits wieder das Interesse zu verlieren. Eifersuchtsdramen unter Geschwistern gehören in die unterste literarische Schublade. Ein spöttisches Lächeln überzog sein fülliges Gesicht. »Welche Art Romane schreibst du eigentlich?« Das Lächeln verflog. »In gewisser Weise spielt eine Frau in dieser Geschichte eine Rolle – vielleicht aber auch nicht. Das ist der springende Punkt, über den ich mir nicht im Klaren bin.« »Und das zu verstehen, soll ich dir helfen?« Er zuckte mit den Schultern und fuhr fort: »Onkel Charles lebte zurückgezogen im Haus meiner Großeltern. Zurückgezogen ist wohl ein wenig untertrieben: Er hockte eigentlich nur in seiner Bibliothek und verließ niemals das Haus. Vom Personal war lediglich noch eine Haushälterin da; sie versorgte ihn und war seine einzige Verbindung zur Außenwelt. Kurz vor seinem Tod schrieb er mir einen Brief, in dem er mich bat, ihn in Somerset zu besuchen. Er war über neunzig und ich der letzte männliche Verwandte. Er wollte wohl sehen, an wen sein Landhaus aus der Zeit von Queen Anne einmal fallen würde. Er selbst öffnete mir die Tür und führte mich durch die ungelüftete Eingangshalle in die Bibliothek, ein zweistöckiger Saal mit Galerie. Deckenhohe Bücherregale verloren sich im Halbdunkel. Es roch nach Leder, Staub und altem Papier. In der Mitte des Raums entdeckte ich die Umrisse einer Sesselgruppe und eines altmodischen Holzglobus, in dessen Innerem man unwillkürlich Hochprozentiges vermutete. Er ließ sich in einen der abgewetzten Ledersessel sinken und bedeutete mir mit einem Nicken, seinem Beispiel zu folgen. Ein bernsteinfarbener Strahl der Abendsonne, in dem Staubpartikel tanzten, fiel auf das Gesicht des Greises; seine eingeschrumpfte Gestalt schien von dem Ohrensessel verschlungen zu werden. Mein Blick wanderte hinauf zur Galerie, dem Ursprung dieser Lichtquelle. An der Westseite wurden die endlosen Reihen der Bücherregale durch Fenster unterbrochen. Das Licht drang durch das einzige nicht mit Samtvorhängen verdunkelte Fenster. Ein Teleskop reckte sich dort in den Himmel. Irgendwie fiel es in der spätviktorianisch eingerichteten Bibliothek aus dem Rahmen, weil es sich dabei nicht um ein messingblitzendes Relikt dieser Epoche handelte, sondern um ein modernes und vermutlich sehr leistungsstarkes Spiegelteleskop. Noch immer schwieg mein Gegenüber. Unter seinem prüfenden Blick rutschte ich unbehaglich in meinem Sessel hin und her, während ich die verschatteten Regalreihen betrachtete. Trotz des Zwielichts glaubte ich zu erkennen, dass keiner der zahllosen ledergebundenen Bände jünger als hundert Jahre alt sein mochte. Onkel Charles schien zu erraten, in welche Richtung meine Gedanken wanderten, denn nach einer Weile sagte er mit einer Stimme, die wie welkes Laub klang: ›Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich habe all diese Bücher nicht gelesen. Einige, gewiss. Aber ich habe vor langer Zeit damit aufgehört.‹ Er gab ein heiseres, wie Papier raschelndes Lachen von sich, dann beugte er sich vor und in seine leblos wirkenden Augen trat ein Funkeln. ›Willst du wissen, warum?‹ Mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, auf meine Uhr zu sehen, und rang mir ein Lächeln ab. Man sagt ja, Blut ist dicker als Wasser, und schließlich war er mein Onkel, aber eben ein Onkel, der niemals Teil meines Lebens gewesen war. Daran änderte auch die in Aussicht gestellte Erbschaft nichts – so gelegen sie mir kommen mochte. Er lehnte sich wieder in den Sessel und legte die Fingerspitzen aneinander. ›Es war der 20. April, einen Monat nach meinem sechzehnten Geburtstag, doch noch immer hielt der Winter das Land in seinem frostigen Griff. Ich hatte die Gewohnheit, hier oft noch lange nach Mitternacht zu lesen. Anders als dein Vater, der in seinem Abschlussjahr in Oxford als Schlagmann das Ruderteam zum Sieg gegen Cambridge führte, zog es mich zu den Büchern. Ich muss dich nur ansehen, um zu wissen, dass du ihm in dieser Hinsicht nachschlägst. Während er mit seinen sportlichen Erfolgen Aufmerksamkeit und Anerkennung auf sich zog, durchstöberte ich diese Welt aus Papier.‹ Er machte eine Gebärde, die den ganzen Saal zu umfassen schien. In der Erwartung, er käme endlich zur Sache, beschloss ich seine Spitze gegen meinen Vater und mich zu überhören. ›Als Junge segelte ich mit Odysseus zwischen Charybdis und Skylla, reiste mit Sindbad zum Magnetberg, zog mit Marco Polo nach China, hörte Long John Silvers Holzbein über Deck stelzen, tauchte mit Kapitän Nemo auf den Grund des Ozeans, ging mit Ismael auf die Jagd nach dem Weißen Wal – kurz, ich verträumte meine Kindheit an einem Ort, der alle Orte zu bergen schien.‹ Mit diesen Worten versetzte er den Globus in Drehung. Das ratternde Geräusch der langsamer werdenden Kugel zerstörte meine Hoffnung, es könne sich um eine Hausbar handeln; die Aussichten auf einen Sherry standen schlecht. ›Eines Nachts arbeitete ich an einem der Schreibtische oben in der naturgeschichtlichen Abteilung. Ich erinnere mich genau, es war in dem Jahr, als der Halleysche Komet die Öffentlichkeit in Aufruhr versetzte. Seit jeher haben die Menschen Kometen als astrologische Unglücksboten gedeutet, die Missernten, Seuchen, Hungersnöte und Kriege ankündigen; und auch im Jahr 1910 kursierten Weltuntergangsprophezeiungen: Astronomen hatten im Schweif des Kometen eine giftige Blausäureverbindung entdeckt, und man vermutete, dass sie in der Atmosphäre die gewaltigsten Explosionen beim Durchgang der Erde durch den Schweif hervorrufen würde, in deren Verlauf die Welt unweigerlich untergehen würde. Eine wahre Kometenhysterie war die Folge, angeheizt von den Zeitungen, die sogar von Selbstmorden verängstigter Menschen zu berichten wussten. Aber natürlich blieb der Weltuntergang aus.‹ Wieder ließ er sein papierenes Lachen ertönen, dann spannte sich sein Körper, und ein seltsamer Glanz trat in seine Augen. ›Diese Narren begriffen nicht, was man in der Antike schon wusste. Das Wirken der Kometen ist nicht mit den beschränkten Begriffen der Schulweisheit zu erfassen. Sie sind signa fatalia, astrologisch deutbare Zeichen des Makrokosmos, die den Mikrokosmos unmittelbar beeinflussen,...