Jabotinsky | Die Fünf | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 336, 267 Seiten

Reihe: Die Andere Bibliothek

Jabotinsky Die Fünf


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8477-5336-0
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 336, 267 Seiten

Reihe: Die Andere Bibliothek

ISBN: 978-3-8477-5336-0
Verlag: AB - Die Andere Bibliothek
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Gesellschaftsroman über den Untergang des bürgerlich-jüdischen Odessa zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eine Wiederentdeckung - Die »Buddenbrooks« am Schwarzen Meer*Im Jahr 1935 unternimmt Vladimir Jabotinsky, streitbarer Mitbegründer der zionistischen Bewegung und brillanter Feuilletonist, eine imaginär-romanhafte Reise in das alte Odessa, in dem er 1880 geboren wurde, seine Kindheit und jungen Jahre verbrachte.*Die Fünf: eine elegische Erinnerung an eine vergehende Welt, verkörpert in den fünf Geschwistern der Familie Milgrom, die in den politisch-kulturellen Wirren ihrer Zeit, zwischen revolutionärer Gewalt und Assimilation, heranwachsen.*Das damalige Odessa ist noch eine kosmopolitisch tolerante Stadt am Schwarzen Meer, ein Vielvölkergemisch, in dem das Ukrainische und das Russische, das Jüdische und das Deutsche, das Armenische und das Griechische nebeneinander existieren. Durchdrungen vom Parfüm dieser sinnlichen, vitalen und polyglotten Prosa, begegnet uns in Vladimir Jabotinskys Roman vom Verfall einer Familie ein intimes Odessa mit seinen Plätzen, Straßen und Cafés - ein theatralisches, tragisches Menschenschauspiel. Es sind die letzten Tage von Odessa.

Bis vor kurzem war der 1880 in Odessa geborene Vladimir Jabotinsky allenfalls als radikaler Zionist in Deutschland bekannt. Mit der Veröffentlichung von »Die Fünf« in der Anderen Bibliothek (Band 336, wegen des großen Erfolges aber nur noch als Erfolgsausgabe lieferbar) hat sich das geändert: »Ein großartiger Autor« (Die Zeit); »Ein Schatz aus Wörtern« (Die Welt); »Meisterlich« (Frankfurter Allgemeine Zeitung); »Ein großes Buch« (Süddeutsche Zeitung).

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Kapitel 2
SERJOSHA
Irgendwer hatte mir gesagt, der Familienname des rothaarigen Fräuleins sei Milgrom; und als ich das Theater verließ, ?el mir ein, dass ich ein Mitglied dieser Familie bereits kannte. Wir hatten uns kurz davor im Sommer kennengelernt. Ich war zu Besuch gewesen bei Bekannten, die bis Ende August in ihrem Sommerhaus am Strand Langéron wohnten. Eines Morgens, als meine Gastgeber noch schliefen, ging ich zum Baden hinunter, danach wollte ich ein wenig rudern. Meine Freunde besaßen ein Boot mit zwei Paar Riemen; ich schob es mühsam über den groben Kies (der bei uns einfach »Sand« hieß) ins Wasser, und da erst entdeckte ich, dass jemand beide Ruderdollen auf der rechten Seite abgebrochen hatte. Reservedollen fand ich nicht. Die Ruderdollen bei uns an der Küste waren recht primitiv – einfach kleine Knüppel, an denen die breiten Ruder festgebunden wurden: Es brauchte eine gewisse Geschicklichkeit, damit sich die Ruder nicht drehten und ?ach aufs Wasser klatschten. Dafür verlangte die Herstellung solcher Dollen keinerlei Geschicklichkeit, man musste nur einen kleinen Ast zurechtschnitzen. Aber das kam mir gar nicht in den Sinn. Unsere Generation ist mit zwei linken Händen aufgewachsen. Wenn ein Knopf abriss, ließen wir den Kopf hängen und träumten von einer Familie, von einer Ehefrau, einem wundervollen Geschöpf, das vor nichts zurückschreckt, das weiß, wo man Nadel und Faden kauft und was man damit anfängt. Ich stand mit traurig gesenktem Kopf vor dem Boot wie vor einer komplizierten Maschine, in der etwas Rätselhaftes kaputt gegangen ist, sodass nur ein Edison die Sache hätte retten können. In dieser Notlage traf mich ein etwa siebzehnjähriger Gymnasiast an; später stellte sich heraus, dass er kaum sechzehn war, aber sehr groß für sein Alter. Er besah sich die Trümmer der Ruderdollen mit dem geübten Auge eines gestandenen Mannes und stellte mir eine sachliche Frage: »Wer ist der Wächter hier am Strand?« »Tschubtschik«, sagte ich, »Awtonom Tschubtschik, ein Fischer.« Er antwortete verächtlich: »Daher die Unordnung – Tschubtschik! Den halten auch die anderen Fischer für einen Bossjawka2.« Ich hob freudig den Kopf. Linguistik war die wahre Leidenschaft meines Lebens, und da ich in aufgeklärten Kreisen lebte, wo man bemüht war, sich hochrussisch auszudrücken, hatte ich die originale Mundart von Fontanka, Langéron, Peressyp und Stadtgarten lange nicht gehört. Herrlich! Bossjawka – das ist unmöglich zu übersetzen; dieses eine Wort enthält eine ganze Enzyklopädie unfreundlicher Urteile. Der junge Mann sprach auch weiter in diesem Idiom, aber leider habe ich meine Muttersprache vergessen, muss also seine Worte größtenteils in der Hochsprache wiedergeben, wobei mir schmerzlich bewusst ist, dass kein Satz richtig stimmt. »Warten Sie«, sagte er, »das lässt sich leicht reparieren.« Da hatte ich einen Menschen von ganz anderer Art vor mir, einen mit zwei rechten Händen! Erstens hatte er ein Messer in der Tasche, und zwar kein Feder-, sondern ein Finnenmesser. Zweitens beschaffte er sogleich das nötige Holz: Er schaute sich um, ob niemand in der Nähe war, ging dann forsch zum nächsten Badehäuschen mit einer Treppe und brach die unterste Leiste aus dem Geländer heraus. Er brach sie überm Knie entzwei, schnitzte an den Hälften herum, prüfte, ob sie ins Loch passten, schnitzte noch einmal, polkte die Stümpfe der alten Dollen heraus und setzte die neuen ein. Hätte nur noch gefehlt, dass er rezitiert hätte: »Nun, mein Alter, fertig ist’s …«3 Stattdessen machte er mir ebenso forsch einen Vorschlag, wie ich mich für den erwiesenen Dienst erkenntlich zeigen könnte. »Nehmen Sie mich mit ins Boot?« Ich bejahte natürlich, warf aber noch einen Blick auf sein Gymnasiastenabzeichen und fragte vorsichtshalber: »Aber das Schuljahr hat doch schon angefangen, müssten Sie jetzt nicht in der ersten Stunde sitzen, Kollege?« »Le cadet de mes soucis«, erwiderte er gleichmütig, während er bereits die Seilschlaufen mit den Rudern auf die Dollen stülpte. Das war ihm ganz natürlich auf Französisch herausgerutscht, ohne Aufschneiderei. Später erfuhr ich, dass die jüngeren Kinder der Milgroms eine Gouvernante gehabt hatten (Marussja und Marko nicht, damals hatte der Vater noch nicht so viel verdient). Überhaupt war Serjosha kein Angeber, mehr noch – er kümmerte sich gar nicht um sein Gegenüber und darum, was derjenige dachte, er war ganz in seine Arbeit vertieft: Er prüfte die Knoten an den Schlaufen, hob die Bodenbretter an, um zu schauen, ob auch kein Wasser im Boot war, öffnete den Kasten unter der vorderen Sitzbank, um nachzusehen, ob ein Schöpfer vorhanden war, klopfte irgendwo gegen, rieb etwas ab. Gleichzeitig erzählte er, er habe beschlossen zu schwänzen, weil er von einem Mitschüler, der bei ihrem Griechen in Pension lebte, das heißt, bei dem Tschechen, der bei ihnen Griechisch unterrichtete, weil er von diesem Mitschüler wisse, dass der Grieche ihn, meinen neuen Freund, heute außer der Reihe an die Tafel rufen wolle. Darum habe er seiner Mutter einen Zettel hingelegt (sie stehe immer spät auf): »Wenn der Pedell kommt, sag ihm, ich wäre beim Zahnarzt.« Dann habe er seinen Ranzen bei dem benachbarten Tabakhändler deponiert und sei nach Langéron gefahren. »Ihre Mama ist ein echter Kamerad«, sagte ich beifällig. Wir ruderten bereits. »Es lässt sich leben«, bestätigte er, »tout fait potable.« »Aber warum ist der Ranzen dann beim Tabakhändler? Sie hätten ihn doch zu Hause lassen können, da Ihre Mutter ja eingeweiht ist.« »Das geht wegen Papa nicht. Er ist die Unschuld in Person. Noch immer gerät er außer sich, wenn ich an seiner Stelle meine Zensuren unterschreibe. Egal, er wird sich noch daran gewöhnen. Morgen werde ich in seiner Handschrift einen Entschuldigungsbrief verfassen: ›Mein Sohn Sergej Milgrom, Schüler der fünften Klasse, fehlte an dem und dem Tag wegen Zahnweh.‹« Wir waren schon ein ganzes Stück hinausgerudert; er war ein phantastischer Ruderer und redete wie ein waschechter Bootsführer. »Der Wind wird heut gegen fünf wieder auffrischen, und zwar kein simpler Wind, sondern ein richtiger ›Tramontaneiii‹«. »Ziehen Sie den rechten Riemen rückwärts, sonst rammen wir die Zille da.« »Sehen Sie mal – ein krepiertes Meerschwein« – dabei zeigte er auf einen Delphinkadaver, den der Sturm am Vortag auf die unterste Plattform des Wellenbrechers am Leuchtturm getrieben hatte. Zwischen seinen seemännischen Bemerkungen versorgte er mich mit vielen bruchstückhaften Informationen über seine Familie. Sein Vater »hetzt jeden Morgen mit der Pferdebahn ins Kontor«, deshalb sei es so gefährlich, wenn Sergej keine Lust habe, ins Gymnasium zu gehen, denn er müsse das Haus mit ihm zusammen verlassen. Abends sei ihr Haus ein »Flohmarkt« – da bekomme seine Schwester Besuch von »ihren Passagieren«, meist Studenten. Außerdem sei da noch sein älterer Bruder Marko, der sei in Ordnung, durchaus »tragbar«, aber ein »Tjuntja« (diesen Ausdruck kannte ich nicht, offenbar so etwas wie Narr, Einfaltspinsel). Marko »ist dieses Jahr Nietzscheaner«. Serjosha hatte über ihn eigenhändig folgenden Vers verfasst: Ideen nach Mode, doch zerrissne Kleider, Gelehrter Mann und dreifach Sitzenbleiber. »Das ist bei uns zu Hause«, ergänzte er, »meine Spezialität. Marussja verlangt zu jedem ihrer Passagiere Verse.« Seine Schwester Lika, offenbar auch älter als Serjosha, »hat ihre Nägel bis auf den letzten abgekaut, und nun langweilt sie sich und ist wütend auf ganz Odessa«. Der Jüngste heiße Torik, aber er sei »eine Stütze des Throns«, sein Urteil über alles »ist immer so korrekt, dass einem schon von weitem schlecht werden kann.« Zum Leuchtturm, das vergaß ich zu erwähnen, ruderten wir deshalb: Als Serjosha die Zille entdeckt hatte, die wir beinahe gerammt hätten, war ihm eingefallen, dass an der Androssow-Mole jetzt massenhaft Lastkähne aus Cherson stehen müssten – voll mit Wassermelonen. »Wollen wir hin? Dort können wir auch essen – ich lade Sie ein.« Es war angenehm und amüsant mit ihm, und im Sommerhaus würde bis zum Abend niemand das Boot brauchen; außerdem versprach mir Serjosha, auf dem Rückweg »einen aus dem Wirtshaus« mitzunehmen, der würde dann rudern, und ich könnte mich ausruhen. Ich willigte ein, und wir ruderten zum Hafen, um den Leuchtturm herum, wofür wir wegen des Windes und des Seegangs, und weil wir alle halbe Stunde das ganze Schwarze Meer aus dem Boot schöpfen mussten, rund drei Stunden brauchten. »Ihre Admirale sind Landratten«, schimpfte Serjosha auf meine Freunde, die ihr Boot so vernachlässigten. Zur Anlegestelle mussten wir uns zwischen den Zillen hindurchschlängeln, es herrschte ein Gedränge wie auf dem Flohmarkt: Die kleinen Kähne stießen fast aneinander, und Serjosha wusste genau zu unterscheiden zwischen Zillen, Barkassen, Feluken und weiteren fünf oder sechs Typen. Offenbar kannten ihn auch hier viele Leute. Von den mit Melonen beladenen Booten wurde er mehrmals angerufen, was etwa so klang: »Oho, Serjosha, wohin des Wegs, Gobelkaiv? Warum bist du nicht in der Schule, Hundesohn? Wie geht’s?« Worauf er jedes Mal antwortete: »Skandiboberom!«, was, dem Ton nach zu urteilen, hieß, dass es ihm ausgezeichnet ginge. Von einer Feluke rief ein Kerl mit einem roten Fez, die weißen Zähne gebleckt, ihm etwas auf Griechisch zu, und Serjosha antwortete ihm in derselben Sprache; ich weiß nicht, was, verstand aber das Ende des Satzes: »Tin mitera su«,...



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