Buch, Deutsch, 164 Seiten, PB, Format (B × H): 1480 mm x 2100 mm, Gewicht: 406 g
Ambivalenzen des Heiligen
Buch, Deutsch, 164 Seiten, PB, Format (B × H): 1480 mm x 2100 mm, Gewicht: 406 g
ISBN: 978-3-943897-11-1
Verlag: Verlag Text & Dialog
Nr. 3 (2014) des Journals für Religionsphilosophie widmet sich schwerpunktmäßig den „Ambivalenzen des Heiligen“. Namhafte Forscher und Autoren wie Hermann Deuser, Hans-Joachim Höhn, Magnus Schlette, Hans Rainer Sepp, Edith Düsing und Helmut Heit u.v.a. tragen im kommenden Journal zum hochaktuellen Diskurs zu den Ambivalenzen des Heiligen mit neuen Texten bei. Sie legen darin u.a. zu den affektiv geladenen Kontroversen um Nähe und Distanz von heiliger Wahrheit und heiligem Gesetz zu Täuschung und moralischem Grenzverlust argumentativ transparente Positionen vor. Das Journal versammelt so verschiedenste Ansätze der Phänomenologie, Sozialphilosophie, Theologie und Religionswissenschaft und thematisiert Licht- und Schattenseiten von Ideen und Erfahrungen des Heiligen sowie Übergänge zwischen Heilsversprechen und Abgründigkeit. Dabei wurden bewusst sowohl Texte mit starken Thesen Pro oder Contra als auch ausgleichende Stellungnahmen aufgenommen.
Neben diesen wissenschaftlich gereiften Schwerpunktbeiträgen finden sich freie Essays, literarische Beiträge und Rezensionen aktueller Neuerscheinungen sowie drei zum Schwerpunkthema passende Interviews mit dem renommierten Ägyptologen und Religionswissenschaftler Jan Assmann, dem polnischen Religionsphilosophen Karol Tarnowski und dem preisgekrönten Schriftsteller und Regisseur Patrick Roth.
Weitere Infos & Material
I. Themenschwerpunkt: Ambivalenzen des Heiligen
Hans-Joachim Höhn: Widerfahrnis des Unbedingten. Religionsphilosophie als Phänomenologie des „Heiligen“?
Robert Mundhenk: Tritt nicht herzu! Spuren göttlicher Ambivalenzen vom brennenden Dornbusch bis zum psychotischen Erleben
Ian DeWeese-Boyd: Self-Deceptive Religion and the Prophetic Voice
Hermann Deuser: „Sacred canopies“ – Zur Kosmologie des Heiligen
Magnus Schlette: Sakralisierung des Gemeinwohls? Deweys Religionstheorie und die amerikanische Zivilreligion
II. Standpunkte
Edith Düsing: Gottesfinsternis und veruntreute Seele: „Das Heiligste … ist unter unsern Messern verblutet“ (Nietzsche). Ein Problemaufriss in Thesen
Helmut Heit: Der Tod Gottes als Horizonterweiterung
III. Interviews
Jan Assmann: Für Gott zum Schwert greifen. Jan Assmann im Interview
Karol Tarnowski: Fundamentalgelassenheit. Ein Gespräch über die Ambivalenz des Sacrum mit dem polnischen Religionsphilosophen Karol Tarnowski
Patrick Roth: Das Vertrauen des Joseph. Patrick Roth im Gespräch mit Michaela Kopp-Marx
IV. Essays
Hans Rainer Sepp: Mythos und Magie. Vom Ursprung des Religiösen
Gerd Grübler: Der Ausgang der Philosophie aus ihrer selbst verschuldeten Bedeutungslosigkeit
Anna Piazza: Die spekulative Anthropologie Peter Wusts
IV. Buchbesprechungen
René Kaufmann: „Die großzügigen Philosophen haben von allem nur nicht von der Gabe gesprochen!“ Marcel Hénaff, Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken (2014)
Marcus Knaup: Christof Betschart, Unwiederholbares Gottessiegel. Personale Individualität nach Edith Stein (2013)
V. Seitenblicke
Sascha Heße: Bruchstücke
Gabriel Franke: Zwischen Sinnlichkeit und Metaphysik, Tyrannei und Freiheit. Ambivalenzen des Eros bei Platon
Ulrich Fentzloff: Gedichte: „Wege, die nächtlich ans Ufer führen“, „Württemberg als geistige Landschaft“, „Die Turmuhr und der Bräutigam“, „Messianität und Einsamkeit“, „Straße der Vögel“
Editorial
Werte Leserinnen und Leser,
in unseren Tagen ist die Sorge um die Wirkmächtigkeit einer Idee des „heiligen Kriegs“, der Glaube an das Recht eines „heiligen Zorns“ zu inhumanen Taten in das Zentrum der Weltöffentlichkeit gerückt. Eine Idee von „Heiligkeit“ entfaltet ihre enthemmende Wirkung in der Legitimierung und Sakralisierung vitalster Impulse und Wünsche.
In der Phänomenologie der religiösen Erfahrung ist seit Rudolf Ottos Charakterisierung des Numinosen durch das mysterium fascinosum und das mysterium tremendum eine Ambivalenz zwischen Anziehendem und Beängstigenden oder gar Abstoßendem ein vielbehandelter Topos. Eine entsprechende Ambivalenz infiziert offenbar auch solche Handlungen, Überzeugungen und Lebensformen, die durch Erfahrungen des Heiligen motiviert sind, was sich in den enthusiastisch positiven und heftig ablehnenden Bewertungen spiegelt, mit denen heute praktizierter Religion vielfach begegnet wird. Religion und religiöse Offenbarung beanspruchen die Ausnahme und behaupten oft einen privilegierten Zugang zu fundamentaler Wahrheit, beanspruchen auch einen Schlüssel zu grundlegender Normativität, zur Wurzel der Verpflichtung. Religiöse Wahrheit und religiöse Pflicht scheinen dem Richturteil der Vernunft und der rationalen Übereinkünfte seltsam entzogen, was sowohl ihre Faszination als auch ihre Abgründigkeit ausmacht.
Die vorliegende Ausgabe des Journals für Religionsphilosophie widmet sich insbesondere im Themenschwerpunkt dem dichten Beieinander von Licht- und Schattenseiten des „Heiligen“ sowie der Frage nach einer angemessenen Haltung bezüglich des Unbedingten und der Idee und Erfahrung des Heiligen. Beleuchtet werden auch Fragen der Wahrheit oder Täuschung, der Möglichkeit eines heiligen Fundamentes und dessen Verhältnisses zu unseren Wünschen, Erlebnissen und Erkenntnissen. Damit versteht sich das Journal für Religionsphilosophie Nr. 3 u.?a. als Hintergrundbeitrag zu den polarisierenden Fragen, die sich hinsichtlich der Rolle der Religion ergeben. Unsere Autoren nehmen die Idee des Heiligen ernst und suchen feinumrissene Anhaltspunkte, anhand derer authentische Manifestationen von kollektiven Selbsttäuschungen, „Enthemmern“ oder Wahnimpulsen unterschieden werden können.
Wer jedoch insbesondere in der Frage nach der angemessenen Balance von Rationalität und Unmittelbarkeit, Distanz und Unbedingtheit eine zusammenfassende Antwort sucht, wird angesichts der Vielstimmigkeit, die sich in unserer Ausgabe ergibt, vielleicht enttäuscht sein. Positionen, Hintergründe und Denkstile stehen teils unvermittelt neben- oder gegeneinander. Die Kuratierung lässt ihren Eigendynamiken freie Spielräume. Und gerade so, glauben wir, ergibt sich ein angemessenes Bild des Relevanzhorizontes um die Ambivalenzen des Heiligen in unserer Zeit.
Den Anfang der Ausgabe bilden fünf Essays zum Themenschwerpunkt: Gleichsam den Boden bereitet Hans-Joachim Höhn in „Widerfahrnis des Unbedingten – Religionsphilosophie als Phänomenologie des „Heiligen“?“ mit der Frage nach den Bedingungen für eine adäquate philosophische Auseinandersetzung mit dem Heiligen.
Die heikle Nähe von religiöser Erfahrung und Wahnerleben begleitet die Thematik in Ronald Mundhenks ganz anders geartetem Essay. In „Tritt nicht herzu!“ – Spuren göttlicher Ambivalenzen vom brennenden Dornbusch bis zum psychotischen Erleben“ spürt der Theologe aus der Perspektive biblischer Erzählungen vielfältigen Aspekten der Fülle und Abgründigkeit in der Phänomenologie der religiösen Erfahrung nach und spannt dabei den Bogen von Mose über die christliche Mystik bis zur modernen charismatischen Bewegung und der Erfahrung Psychosebetroffener. Das Heilige tritt in Erfahrungen der Initiation und „Erwählung“ auf und bedarf einer Diskretion, wenn die Ambivalenzen nicht zerstörend auf die Person wirken sollen. Während in den letzten Jahrzehnten insbesondere von Religionskritikern Selbsttäuschungen oder wunschmotivierte Überzeugungen als Bedingungen religiöser Überzeugung angesehen werden, beschreibt Ian DeWeese-Boyd in „Self-deceptive religion and the prophetic voice“ Religion in ihrer Doppelrolle sowohl als Nährboden für und als Korrektiv in Bezug auf Selbsttäuschungen.
Auch Hermann Deuser folgt der Frage nach der Objektivität von Erfahrungen des Heiligen sowie „heiliger Horizonte“ und ihres sinnstiftenden Anspruchs. Er argumentiert in „?‚Sacred Canopies‘ – Zur Kosmologie des Heiligen“ dafür, dass eine „Ontologie bzw. (evolutionäre) Kosmologie eine Vermittlung von Phänomenologie und Semiotik des Numinosen“ leistet und den Objektivitätsanspruch einlösen kann. Die Perspektive fixiert im Kern die religiöse Bezugnahme auf solche Ambivalenzen, die notwendigerweise kreative Prozesse auszeichnen, die auch die Kontinuität bestimmen, die für unsere erfahrene Welt charakteristisch ist.
Eine Entschärfung der Ambivalenzen könnte mit einer humanistischen Aneignung und Überformung des Sakralen einhergehen, wie sie Magnus Schlette in dem Essay „Sakralisierung des Gemeinwohls? Deweys Religionstheorie und die amerikanische Zivilreligion“ thematisiert. Hier findet sich die Idee einer Zivilreligion, die sich von solchen Inhalten löst, die mit Wissenschaft und Common Sense unvereinbar sind, zugleich aber auf den religiösen und existenziellen Erfahrungen der Individuen aufbaut und eine ritualisierte Vergegenwärtigung geteilter Werte und Ideale praktiziert.
In der nachfolgenden Rubrik Standpunkte stehen zwei entgegengesetzte Positionen einander gegenüber, die – beide mit Rekurs auf das Werk Nietzsches – den „Tod Gottes“ thematisieren. Edith Düsing verleiht in ihrem Problemaufriss in Thesen „Gottesfinsternis und veruntreute Seele: ‚Das Heiligste. ist unter unsern Messern verblutet‘ (Nietzsche)“ dem Anspruch eines im Heiligen verwurzelten Lebens Stimme, während Helmut Heit in seinem Essay „Der Tod Gottes als Horizonterweiterung“ die Befreiung betont, die mit dem Vitalitätsverlust der Gottesidee einhergeht.
Drei Interviews werfen nochmals unterschiedliche Schlaglichter auf die Ambivalenzen des Heiligen. Im Gespräch mit dem Ägyptologen und Kulturwissenschaftler Jan Assmann werden anhand der biblischen Erzählung vom Auszug aus Ägypten die Beziehungen zwischen Heiligkeit und Gewalt in religionsgeschichtlicher Perspektive beleuchtet und Brücken in die Gegenwart geschlagen. Der polnische Religionsphilosoph Karol Tarnowski erörtert im Gespräch Ambivalenzen des „Sacrums“ und entwickelt dabei das Bild stiller, gewaltfreier Heiligkeit. Der Schriftsteller Patrick Roth schließlich spricht über das Vertrauen in einen „numinosen Traum“, ein Vertrauen, das in seinem Roman „Sunrise – Das Buch Joseph“ motivational entscheidend wird, und stellt dieses einem „sturen Glauben“ und einem fanatischen „Mitgerissensein“ gegenüber.
Auch die nachfolgenden Essays ziehen einen weiteren Kreis um das Titelthema des Heftes. Hans Rainer Sepp unternimmt in „Magie und Mythos – Vom Ursprung des Religiösen“ eine phänomenologische Deutung religiöser Haltung und Handlung, die dem „Egozentrismus“ eines magischen Weltverständnisses entgegengestellt wird. Gerd Grübler vertritt in seinem provokativen Essay die These, dass die Philosophie sich aus ihrer heute oft konstatierten Bedeutungslosigkeit lösen kann, wenn „die weltanschaulichen Implikationen moralischer Konflikte ins Zentrum gerückt werden“, die er anhand verschiedener Beispiele darlegt. Dabei wird ein formaler Begriff von Religion, der implizite, ja oft verdeckte weltanschauliche Letztbegründungsbeziehungen in den Blick nimmt, zum Schlüssel der Analyse selbst von atheistischen Haltungen. Anna Piazza stellt „Die spekulative Anthropologie Peter Wusts“ vor, einen existenzphilosophischen Denkansatz. Für Wust spielen Existenzialien der Ungewissheit und der Willenserfordernis des Wagnisses eine tragende Rolle, womit in anderem Sprachgewand Grundthematiken der Philosophien des Heiligen wiederkehren.
Auch in dieser Ausgabe finden Sie Buchvorstellungen. René Kaufmann schrieb eine Rezension zu Marcel Hénaffs aktuellem Werk: „Die Gabe der Philosophen. Gegenseitigkeit neu denken“, die den thematischen Faden des Gabe-Diskurses vom letzten Heft aufnimmt, für das Hénaff selbst einen Beitrag verfasste. Von Marcus Knaup stammt eine Rezension von Christof Betscharts neuem Edith-Stein-Buch „Unwiederholbares Gottessiegel: Personale Individualität nach Edith Stein“.
In den Seitenblicken begegnen uns literarischere und kontemplativere Denkarten: Sascha Heße nähert sich den Fragen des Absoluten und Unbedingten in aphoristischer und fragmentarischer Form und folgt darin einem Paradigma der Unzugänglichkeit des Heiligen für Besitz und Kontrolle. Gabriel Franke lädt zu Betrachtungen zu den Ambivalenzen des Eros mit Platon ein, womit die religionsphänomenologischen Überlegungen anderer Autoren ein vielfaches Echo erfahren. Und abschließend beschwören einige Gedichte von Ulrich Fentzloff das Ineinander von Leben und Tod, die geheimnisvolle Präsenz des ganz Anderen im Alltag.
Auch in dieser Ausgabe werden die sprachlichen Überlegungen von künstlerischen Beiträgen begleitet: Die Bilder der Reihe „Die Ambivalenz des Heiligen“ von Anna Krebs zeigen über das Mittel der leeren Kreisform auf eine für die religiöse Symbolik charakteristische Dialektik von Gegenwärtigkeit und Abwesenheit.
Michiko Nakatanis Installation „Vogelhaus“ hingegen erscheint als ein Bild des sakralen Raums, in dem gleichsam die Welt umstülpt, Materie und Geist die Rollen vertauschen.
Den Lesenden wünschen wir die nötige Ruhe und Zeit, die sehr verschiedenen Beiträge in ihrer jeweils eigenen Tiefe auf sich zukommen zu lassen. Angesichts des Fehlens eines homogenen Diskurses, der volle Autorität besitzt, bleiben wir in einer Vielstimmigkeit der Töne und Perspektiven. Der Schritt zu einem einheitlicheren Orientierungszusammenhang steht noch bevor.
Friedrich Hausen