Justman / Hofinger / Markl | Brechen wir aus! | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Justman / Hofinger / Markl Brechen wir aus!

Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7022-4288-6
Verlag: Tyrolia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Als polnische Jüdin auf der Flucht in Tirol

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-7022-4288-6
Verlag: Tyrolia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Als Jüdin versteckt in Tirol

Eine bewegende Flucht- und Überlebensgeschichte im Zweiten Weltkrieg

Leokadia Justman überlebte als Jugendliche die grausame Verfolgung durch die Nationalsozialisten in Polen. Nach der Flucht aus dem Warschauer Ghetto nahm ihre Mutter die Deportation nach Treblinka auf sich, um das Leben der Tochter zu retten. Mit ihrem Vater gelang die Flucht nach Tirol. Dort lebten sie unter falschen Identitäten, bis sie an die Gestapo verraten wurden. Nach der Ermordung ihres Vaters im Lager Reichenau entkam Leokadia mit einer Freundin aus der Haft und versteckte sich in Innsbruck. Unterstützt von mutigen Personen, überlebte sie die letzten Kriegsmonate in der Region von Lofer. Dieser erstmals ins Deutsche übersetzte autobiografische Bericht gibt einen seltenen, authentischen Einblick in das Leben und Überleben als Jüdin in Tirol während der NS-Zeit.

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In Piatek
Kapitel II
Meine Mutter versuchte wie immer, ruhig zu bleiben. Sie setzte sich neben mich aufs Sofa, und ihre sanfte Stimme zerstreute all die Angst, die mich beschlichen hatte. Ich holte tief Luft und sah ihr in die schönen braunen Augen. Sie war durch nichts zu erschüttern, und ihr Lächeln, das mich noch in späteren Jahren an die Mona Lisa erinnerte, vermittelte mir Stärke und Selbstbewusstsein. „Den Traum von Australien müssen wir vorerst begraben. Aber das Leben geht weiter, und wir sollten mutig sein.“ „Mama …“ Eigentlich wollte ich ihr mein Herz ausschütten, über den Krieg sprechen, ihr von meiner Furcht erzählen – Furcht vor Bombardierungen, vor der unsicheren Zukunft –, aber während ich sie umarmte, formten meine Lippen nur einen einzigen Satz. „Mama, ich hab dich so lieb! Was das Schicksal uns auch bringt, ich hoffe wir bleiben für immer zusammen.“ Sie blinzelte. „Was das Schicksal uns bringt, ist manchmal schwer zu verstehen“, antwortete sie mit feuchten Augen, „die Umstände, in die das Leben uns führt, für den menschlichen Verstand unergründlich. Trotzdem dürfen wir den Glauben nicht verlieren und müssen weitermachen. Was auch passiert, ich möchte, dass du das Leben bis zur letzten Minute auskostest, auch wenn es manchmal bitter ist. Du musst stark bleiben. Papa und ich werden immer bei dir sein. In Wirklichkeit oder … im Geist. Denn eins darfst du nie vergessen: Liebe ist unendlich.“ Als an jenem Nachmittag mein Vater von seiner Reise in eine kleine Grenzstadt zurückkehrte, war er ernst und traurig. Wir waren froh, dass er wieder bei uns war, bestärkte uns seine Anwesenheit doch in der Hoffnung, die schlechte Nachricht über den Ausbruch den Krieges würde uns nicht direkt betreffen. Ich versuchte sogar, mir einzureden, dass dieser, ehe wir es uns versahen, vorbei wäre, dass die Gerechtigkeit siegen müsste und wir deshalb nichts zu befürchten hätten. Eine Vorstellung, die ich zum kurzzeitigen Trost für wahr hielt … Dennoch verbreiteten sich die schlimmen Nachrichten in Windeseile. Deutsche Truppen überqueren die polnische Grenze und rücken in motorisiertem Verband ins Landesinnere vor. Deutsche Truppen besetzen eine Stadt nach der anderen. Die Menschen sprachen offen über Evakuierung. Lódz als eine der größten Industriestädte könnte zum Ziel deutscher Bomben werden. Nach längerer Beratung beschlossen meine Eltern, in die kleine Heimatstadt meiner Familie zurückzukehren, die eine Stunde Busfahrt von Lódz entfernt lag. Ihr Name war Piatek, was übersetzt einfach „Freitag“ heißt. Ich schwebte auf Wolken. Ohne weiter an den Krieg und all das Leid zu denken, das er mit sich brachte, begann ich zu packen, freute mich auf das Wiedersehen mit meinen Cousins und Cousinen, mit meiner Tante Rózia und meinem Onkel Edek. Wir verließen Lódz am Nachmittag. Zusammen mit meiner Großmutter, die wegen ihrer Arthrose ohne Stöcke nicht mehr gehen konnte, was uns große Sorgen bereitete. Wir glaubten, in einer unbedeutenden Kleinstadt wie Piatek ließen sich die Härten und Entbehrungen des Krieges besser überstehen als in der großen Industriestadt Lódz. Und Oma wäre bestmöglich versorgt. Sie steckte voller Humor und Leben, meine Großmutter, sang auf der Busfahrt Lieder, erzählte fröhlich Witze und ließ uns den Ernst der Zeit vergessen. Zusammen mit anderen Mitfahrenden stimmte sie die polnische Nationalhymne an und klatschte zu Volksliedern den Takt. Die traurige Stimmung, die anfangs unter den Menschen im Bus herrschte, wich bald schon Frohsinn und Heiterkeit. Es dauerte nicht lange, da sangen alle wie die Kinder auf einem vergnügten Ausflug. Piatek bot wie immer einen freundlichen Anblick. Es war eine typische polnische Kleinstadt mit viereckigem Marktplatz, umgeben von ein paar engen Sträßchen. Die Sträßchen waren von Geschäften gesäumt, hinter denen oft die Besitzer mit ihren großen Familien wohnten. Die Bevölkerung war gemischt, mit einem hohen jüdischen Anteil. In Piatek trugen die Juden glänzend schwarze Gabardinemäntel und kleine Hüte, die Frauen bedeckten die Köpfe mit Kopftüchern, außer am Sabbat, wenn sie gewöhnlich Perücken aufsetzten. Sie waren tiefreligiös, strenggläubige Juden mit alten, unveränderten Traditionen und einigen Besonderheiten, die ihren christlichen Nachbarn merkwürdig vorkamen. Im Allgemeinen jedoch herrschte gegenseitiges Verständnis und sehr oft tiefe Freundschaft zwischen den Einwohnern der Gemeinde. Manchmal wurden die Menschen allerdings durch irgendeinen Wanderprediger aufgestachelt, der sich Gottespriester nannte und sie zu hassen lehrte statt zu lieben, zu zerstören statt zu erschaffen. Oft konnten die Christen noch Tage nach dieser Volksverhetzung in Gottes Namen den Juden nicht vergeben, dass sie angeblich an der Ermordung von Jesus von Nazareth beteiligt waren, und ließen dabei völlig außer Acht, dass Jesus selbst Jude war. Für sie ist er rein arisch gewesen, und obendrein Pole. Meistens dauerte der Wirbel allerdings nicht lange, und die Bewohner der umliegenden Dörfer fuhren fort, ihren „Moschek“, ihren lieben, guten Juden zu besuchen oder mit ihm Geschäfte zu machen. Und so wurden wir bei unserer Ankunft in Piatek freundlich von unseren Angehörigen und der engsten christlichen Freundin meiner Großmutter, Frau Gajewitz, begrüßt. Meine Großmutter war, nebenbei bemerkt, in dieser kleinen Stadt geboren und aufgewachsen, genau wie ihre Mutter und deren Mutter und alle, so weit sie zurückdenken konnte. Sie kannte hier jeden Winkel, war vertraut mit jedem Gesicht, und alle bewunderten sie für ihre gesunde, unerschrockene Lebenseinstellung. Als sie fünfundzwanzig war, starb ihr Mann, der als größter Talmudgelehrter der Stadt galt, und ließ sie mit zwei kleinen Kindern, der vierjährigen Zofia und dem zweijährigen Mosche, zurück. Nach einer kurzen Periode der Verzweiflung rappelte sie sich wieder auf und begann, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu verdienen. Sie hatte ein kleines Geschäft und gewann mit dem herzlichen Lachen in ihrem runden, rotwangigen Gesicht rasch die Herzen der Bauersfrauen aus der Umgebung, die ihre treuen Kundinnen und Freundinnen wurden. Außer Geld bekam sie häufig auch Geschenke. Freitagmorgens war ihr kleiner Laden erfüllt von Gelächter, heiterem Geplauder und dem Gackern von Hühnern. In dieser Umgebung wuchs meine Mutter zu einem glücklichen, unglaublich wissbegierigen Menschen heran. Das kleine Piatek war weit entfernt von Zivilisation und Fortschritt des zwanzigsten Jahrhunderts (von elektrischem Licht konnte man nur träumen), Hausunterricht war jedoch weit verbreitet, und so standen meiner Mutter mit Hilfe von Großmutters Geld alle Möglichkeiten offen, etwas zu lernen. Mit achtzehn sprach sie drei Fremdsprachen fließend, was ihr den Titel „Kluger Kopf von Piatek“ einbrachte. Die Klugheit lag ihr im Blick, und ihr freundliches Gemüt spiegelte sich in ihrem ovalen Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Kein Wunder, dass der begehrteste junge Mann der ganzen Stadt, der große, blonde, gutaussehende Jakub, sich in sie verliebte. Sofia Zylberberg und Tochter Leokadia (ca. 1930) Er gehörte zu einer der angesehensten jüdischen Familien, deren Name allein schon Respekt hervorrief. Seine Eltern waren Flüchtlinge aus der Stadt Kalisz, die im Ersten Weltkrieg niedergebrannt worden war. Mit sieben Kindern und kaum Hab und Gut konnten sie knapp entkommen. Einige Jahre später lernte Jakub, der Viertälteste, Zofia, seine erste Liebe, kennen. Sie heirateten und lebten, wie in allen Märchen, glücklich zusammen, bis die Nachrichten über einen näher rückenden Krieg ihren Frieden störten. Unser zweiter Tag in Piatek näherte sich dem Ende. Gemeinsam mit Tanten, Onkeln, Cousins, Cousinen und einigen Freunden unterhielten wir uns bestens. Das helle Lachen meiner Tante Rózia erfüllte die Luft wie das Klingeln unzähliger Glöckchen. Mein Vater verließ das Haus, um die politische Lage mit dem Bürgermeister zu besprechen. Die beiden waren alte Freunde, schon aus der Zeit, bevor meine Eltern nach Lódz gezogen waren, und er freute sich über ihr Wiedersehen. Vater kam bedrückter zurück, als wir ihn je gesehen hatten, und ermahnte seine kichernde Schwester, mit diesem Unsinn aufzuhören und ihm stattdessen zuzuhören. Die Lage schien wirklich ernst, und mit einem Mal hielten alle inne, um sich den grausamen Fakten der Realität zu stellen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir versucht, uns etwas vorzumachen, uns vom Ernst der Situation abzulenken. „Die Deutschen besetzen eine Stadt nach der anderen. Sie stehen...


Die Autorin
Leokadia Justman, später Lorraine Justman-Wisnicki, geboren 1922 in Lódz, flieht 1943 mit ihrem Vater und gefälschten Papieren nach Tirol und Salzburg. Sie überlebt und schreibt gleich nach dem Krieg ihre Rettungsgeschichte nieder. 1946 Heirat mit Joseph Wisnicki in Innsbruck. 1950 Emigration nach New York; zwei Kinder. Die Autorin stirbt 2002 in Palm Beach, Florida.

Die Herausgeber
Niko Hofinger, geboren 1969 in Innsbruck. Studium der Politikwissenschaft und Geschich-te (nicht abgeschlossen). Ab 1999 selbstständig als Programmierer und Ausstellungskura-tor, seit 2019 auch halbtags im Stadtarchiv Innsbruck. Wissenschaftliche Publikationen zu Tiroler Nachkriegspolitik und jüdischer Regionalgeschichte, ein Roman.
Dominik Markl, geboren 1979 in Innsbruck, ist Jesuit und Professor für Hebräische Bibel / Altes Testament an der Universität Innsbruck. Zuvor lehrte er in Rom, Washington DC, Berkeley, London und Nairobi. Er forscht zur Religionsgeschichte des Monotheismus, poli-tischer Ideengeschichte, Traumatheorie, Diskursen der Massengewalt und Holocaust.



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