Kaddour | Die Großmächtigen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 477 Seiten

Kaddour Die Großmächtigen

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1389-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 477 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1389-1
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



1922 ist die Welt in der maghrebinischen Stadt Nahbès zu aller Zufriedenheit aufgeteilt. Bis ein amerikanisches Filmteam wie ein Meteor in dem Wüstenort einschlägt. Für einen Moment begegnen sich die Amerikanerin Kathryn und Raouf, der Sohn des Caïd, die junge Witwe Ranja, der altersmilde Kolonialist Ganthier und die kesse Pariser Journalistin Gabrielle in einer ebenso unbeschwerten wie abenteuerlichen Utopie - ehe das Rad der Geschichte einen jeden wieder an seinen Platz verweist. In seinem vielfach ausgezeichneten Roman erzählt Kaddour mit Witz und Weisheit, Poesie und Tempo von einer vergangenen, verblüffend vertrauten Epoche voller Aufbrüche und dramatischer Kollisionen. 'Die Großmächtigen birgt in sich den Zündstoff einer ganzen Epoche. Ein großer Weltroman.' Le Monde des Livres. 'Kaddour versteht es, den Leser von der ersten Seite an zu fesseln: mit psychologischem Feingefühl genauso wie mit stilistischen Finessen und verdecktem ironischen Augenzwinkern.' Christoph Vormweg, Deutschlandfunk.

Hédi Kaddour, 1945 als Sohn eines Tunesiers und einer Französin in Tunis geboren, ist Professor für Französische Literatur, Dramaturgie und journalistisches Schreiben, außerdem selbst Journalist, Autor von Romanen, Essays und Gedichten, sowie Übersetzer aus dem Deutschen, Englischen und Arabischen. Für seine Romane 'Waltenberg', 'Savoir-vivre' und 'Die Großmächtigen' wurde er in Frankreich von Publikum und Kritik gefeiert und hat zahlreiche Preise erhalten.

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1
Ein Baum im Wind
Sie las mehr Bücher auf Arabisch als auf Französisch. Das hatte ihren Vater beruhigt, aber schließlich war ihm klargeworden, dass bestimmte arabische Bücher ebenso gefährlich waren wie die französischen. Sie hieß Rania, dreiundzwanzig Jahre alt, formvollendet, Mandelaugen, sie war die Tochter von Si Mabrouk, Mabrouk Belmejdoub aus der Großbourgeoisie der Hauptstadt und ehemaliger Minister des Souveräns. Sie war Witwe, ihr Mann war gestorben, als sie neunzehn war, ein schöner Mann, sie verehrten einander, auch er hatte einen Sinn für Bücher, doch da ihm der Sinn außerdem nach Kämpfen stand, war er im Getöse einer Granate in der Champagne verschwunden. Sie war zurückgekehrt ins Haus ihres Vaters, der hin und wieder sagte: »Wir haben beide unsere andere Hälfte verloren.« Nach einem Jahr hatte er begonnen, eine neue Partie für sie zu suchen. Sie lehnte die Bewerber nicht ab: »Wenn du willst, dass ich diesen Trottel heirate, werde ich gehorchen«, und dann war es der Vater, dem fast die Tränen kamen, weil sie hinzufügte: »Das wird sein, wie … ein Grab vor dem Tod.« Der Trottel wurde abgewiesen. Wenn ein anderer Mann vorstellig wurde, qualifizierte sie ihn ohne lange zu fackeln, er war ein Wüstling, ein alter Sack, ein Schlitzohr oder ein Abstauber. Sie verlor sich nicht in Details. Trotzdem beruhigte sie ihren Vater, irgendwann würde sie schon eine gute Partie finden. Er war besorgt, denn sie hatte so etwas wie ein Handicap, sie war größer als die meisten Männer, sie hielt ihren Blicken stand mit der Haltung derer, die von Kindheit an einen Korb auf dem Kopf getragen haben. Zu dem Korb hatte niemand sie gezwungen, aber sie hatte es machen wollen wie die Domestiken. Um sie zu drängen, weniger schwierig zu sein, hatte ihre alte Dienerin eines Tages die Redewendung fallenlassen: »Ein Apfel, der am Boden liegen bleibt, kriegt Würmer.« Sie hatte erwidert, sie sei keine Frucht. Was die Bücher anbelangt, so diskutierte sie diese mit ihrem Vater wie einst mit ihrem Ehemann, und sie legte keinen Wert darauf, jemandes Frau zu werden, der von ihr verlangte, das zu unterlassen. Ihr älterer Bruder, Taïeb, drängte sie ebenfalls, wieder zu heiraten. Er hatte sich an eine Frau gebunden, deren Familie noch mächtiger war als seine eigene und die ihn kuschen ließ. »Er hat seine Ehe verpatzt«, sagte Rania, »da sollte meine noch schlimmer sein.« Ihr Vater schützte sie, vergaß aber nie, dass Taïeb eines Tages die väterliche Autorität erben würde. Mitten im Winter 1920 hatte Onkel Abdesslam, ein Grundbesitzer aus der Umgebung von Nahbès, einer Stadt im Süden, Rania gebeten, sie möge kommen, um seinen Haushalt zu führen: Seine Frau sei krank, bettlägrig. Rania war einverstanden, und Si Mabrouk hatte zugestimmt, erleichtert, sie eine Weile fort zu wissen, fern von den Orten der Trauer, von dem Druck, den Taïeb ausübte, und von gewissen Freundinnen, deren Männer dem Protektorat, das Frankreich in ihrem Land errichtet hatte, immer feindseliger gegenüberstanden. Rania liebte die Farm, sie war oft dort gewesen in der guten Luft, seit sie laufen gelernt hatte, sie hatte Sträucher gepflanzt, Ziegen gehütet, Wasserrinnen gegraben, mit der Hippe Gerste geschnitten. Lange hatte sie einen dicken Feigenbaum mit Baumhaus und Schaukel zu ihrem Wohnsitz erkoren, bis zu dem Tag, als ihre Tante beschloss, das gehöre sich nicht mehr. Sie hatte den Aufenthalt im Baum mit Streifzügen durch die Felder ersetzt und kannte jeden Winkel der neunhundert Hektar Land. Am Ende hatte man ihr verboten, durch die Felder zu streifen, ohne sittsam und fromm gekleidet und von zwei Dienerinnen begleitet zu sein. Seit ihrer Hochzeit war sie nicht mehr auf die Farm zurückgekehrt. Ihr Onkel hatte sie am Nahbéser Bahnhof abgeholt. Sie hatte eine Runde um sein Auto gedreht: »Ist das ein Renault?« – »Interessierst du dich für so etwas?«, hatte der Onkel gefragt. »Eine Witwe darf sich für alles interessieren, was erlaubt ist.« – »Erlaubt für einen Mann, nicht für eine Frau.« – »So ein Auto, das könnte mich noch dazu bringen, wieder einen Mann zu nehmen.« Sie gab Widerworte! Der Onkel hatte sich gesagt, es sei wohl besser, sie wieder nach Hause zu schicken, aber ohne seinen Bruder zu kränken. Er würde warten. Sie hatte ihre Tante umarmt, den Onkel gefragt, welcher Arzt sie behandelte. »Das macht Doktor Pagnon.« – »Pagnon ist ein Metzger!« – »Sie sagt, es ginge ihr besser.« – »Ist Berthommier noch in der Gegend? Lass ihn kommen.« Das war ein Befehl. Mit ernster Miene hatte Doktor Berthommier Beruhigungsmittel für die Schmerzen verschrieben. Rania hatte nicht abgelassen, Befehle zu erteilen. Sie nahm die Dienerschaft in die Hand. »Du kümmerst dich um alles, was das Haus betrifft, wie meine Frau«, hatte Abdesslam gesagt, »und ich, ich kümmere mich weiter um das Land, das Vieh und den Verkauf.« Sie begriff schnell, dass seine Frau sich auch um das Land, das Vieh und den Verkauf gekümmert hatte und dass sie weitaus gefürchteter war als ihr Mann. Auch hier machte die junge Witwe sich unentbehrlich. Niemand beherrschte die Zahlen so wie sie. Und während sie die gesamte Verwaltung übernahm, konnte ihr Onkel sich weiter um das Wesentliche kümmern: die Sitzungen der Gebildeten und nebenbei auch Trinker, die er zwei Mal wöchentlich in seinem Haus abhielt, eine gemischte Runde in sich gemischter Männer, Konservative voller Reformeifer, Rationalisten, die der Verehrung von Marabuts frönten, sobald ihre Diabetes bedrohlich wurde. »Rissalat at-tawhid«, hatte sie eines Morgens beim Aufräumen der Bücher gesagt, die zwischen den Flaschen im Salon liegen geblieben waren. Angesichts der Miene ihres Onkels hatte sie hinzugefügt: »Das steht doch auf dem Umschlag, oder?« Der Onkel war nicht darauf hereingefallen, sie kannte, was sie in der Hand hielt, die Abhandlung über das Einheitsbekenntnis von Muhammad ‘Abduh, der als Atheist galt … Ihm schwindelte. Er ließ die Koffer seiner Nichte öffnen, fand darin ägyptische Romane, die von der Befreiung der Frau handelten … die Hachette-Sammlung der großen Schriftsteller, Jean-Jacques Rousseau, Victor Hugo … ja sogar ein Werk über »positive Philosophie«! Seine Nichte wollte mehr wissen als die Männer, das war nicht gut, weder für sie noch für die Familie. Er wagte es, seinen Bruder anzurufen. »Es ist zu spät«, sagte Si Mabrouk, »willst du, dass ich ihr das Lesen verbiete? dass ich sie schlage? sie einsperre? Ich wollte ein wunderbares kleines Mädchen haben, nun ist es groß geworden … Wie geht es deiner Frau?« Das Gespräch hatte lange gedauert, es wurde kühl beendet. Der Onkel hatte seiner Frau angekündigt, Rania packe ihre Sachen, sie fahre in die Hauptstadt zurück. Die Tante hatte nichts gesagt, eine Frau unterwirft sich. Doch ihr Blick hatte genügt, um ihren Mann aus der Fassung zu bringen: der Schleier des Todes. Man ist machtlos gegen das, was der Tod in den Augen der Frauen aufscheinen lässt. Man hat ihnen immer damit gedroht, und seitdem ist er da, bewegt seinen Faltenwurf hinter jeder Geste ihres Akts der Unterwerfung. Das Schwierigste war gewesen, Rania zum Bleiben zu bewegen. »Mein Vater wird nicht erfreut sein, wenn man mich wie einen Putzlumpen behandelt!« Schließlich hatte der Onkel gesagt: »Ich verlange nichts von dir … es ist für sie.« – »Für wen?« – »Für sie und … für uns alle.« Rania hatte eingewilligt, den Salon verlassen und im Vorbeigehen die Werke von Djamal Eddine al-Afghâni, einem anderen gefährlichen Reformer, und die Notwendigkeiten des Dichters Al-Ma’arrî mitgenommen. »Sag deinen Freunden, dass ich sie zurückbringe.« Sie hat es nie getan. Vier Monate danach gab es einen ernsteren Zwischenfall. Er hatte sie beim Lesen einer Zeitung überrascht, keiner französischen Zeitung mit schönen Fotos und Reklame, sondern einer nationalistischen in arabischer Sprache, die Frankreich angriff, für das eigene Land eine Verfassung forderte und niemandem ein Loblied sang, weder dem Souverän noch dessen Ministern. Er hatte geschrien, sie hatte geschwiegen, hatte ihre runde Schildpattbrille abgesetzt, die Zeitung beiseitegelegt, ehe er sie wegnehmen konnte, und sich in aller Bescheidenheit entschuldigt. Der Onkel stellte ihr Fragen, über die Zeitung, über die Welt, sie antwortete mit stockender Stimme, die Hände auf den Knien, Floskeln, abgehackte Wort, konfuse Ideen, genau das, was er im Kopf einer Frau zu finden erwartete, aber wenn man das alles in die richtige Reihenfolge brachte, wurden es brisante Sätze, gefährliche Ideen. Sie wusste viel und wusste es zu überspielen. Sie schwieg nach ein paar Worten, und er war genötigt, eine Frage um die andere zu stellen, er widerlegte, was sie sagte, und sie gab zu, er habe recht, so habe sie die Dinge nicht gesehen, Frankreich sei stärker, nein, sie wisse nicht genau, was das Wort Nation bedeute, Abdesslam war sicher, dass sie log, doch schon kam sie mit einer anderen Idee, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker … Und Abdesslams Stimme wurde immer schneidender, je deutlicher er merkte, dass die von ihr angeführten Gründe große Ähnlichkeit mit den Gewissensbissen hatten, die ihn selbst plagen mochten. In Sachen Religion hielt sie sich zurück, aber er spürte, dass sie über alles auf dem Laufenden war, auch über seinen Besuch des Mausoleums von Sidi Brahim, dem berühmtesten Marabut der Gegend. Er hatte es heimlich tun wollen, ein nächtliches Opfer bringen, etwas verschämt. Das Dumme war nur, dass er den einzigen roten Hahn der Umgebung genommen hatte, ein Tier, das imstande war, mitten in der...



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