Karger Vergessen, vergelten, vergeben, versöhnen?
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-647-46028-4
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Weiterleben mit dem Trauma. Hg.Karger/EBook
E-Book, Deutsch, Band Band 030, 176 Seiten
Reihe: Psychoanalytische Blätter
ISBN: 978-3-647-46028-4
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologische Theorie, Psychoanalyse
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaft und Gesellschaft | Kulturwissenschaften Kulturwissenschaften
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Gewalt und Diskriminierung: Soziale Aspekte
Weitere Infos & Material
1;Front Cover;1
2;Title Page;2
3;Copyright;3
4;Inhalt;4
5;André Karger: Einleitung;6
6;André Karger: Verzeihung – Reconsiliation – Versöhnung. Versuch der Differenzierung verschiedener Konzepte;13
7;Mathias Hirsch: Schuldanerkennung – Verzeihen – Versöhnen;33
8;Bernd Klose: Racheimpulse als Ausdruck regulativer Psychodynamik und Racheverzicht als kulturelle Forderung. Klinische Überlegungen;54
9;Angela Kühner: Rache – als Wunsch und Unterstellung. Soziologische und psychoanalytische Überlegung zu einem ungeachteten Phänomen;68
10;David Becker: Täter und Opfer: Nachdenken über zwei schwierige Begriffe;83
11;Antje Kapust: Aussöhnung mit der Fremdheit des Traumas;98
12;Vera Kattermann: Vertrauen in die Mitwelt. Trauma, Schuld und Versöhnung am Beispiel der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission;115
13;Reinhold Görling: Wie über Folter sprechen?;132
14;Martin W. Schnell: Ethik der Erinnerung – Thesen zur Grundlegung;150
15;Rudolf Heinz: Fallstricke der Versöhnung. Versuche einer Dekonstruktion;162
16;Die Autorinnen und Autoren;176
17;Back Cover;178
Vertrauen in die Mitwelt (S. 114-115)
Vera Kattermann
Trauma, Schuld und Versöhnung am Beispiel der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission
Gäbe es nicht eine Mitwelt, die unsere Schuld vergibt, wie wir unseren Schuldigern vergeben, könnten auch wir uns kein Vergehen und keine Verfehlung verzeihen, weil uns, eingeschlossen in uns selber, die Person mangeln würde, die mehr ist als das Unrecht, das sie beging“ (Arendt, 1967, S. 238). Dieses etwas sperrige Zitat Hannah Arendts eröffnet uns den Zugang zum dilemmatischen Raum gesellschaftlicher Trauma- und Versöhnungsarbeit: Sie basiert auf individuellen, innerseelischen Prozessen, doch benötigt sie die Auseinandersetzung im öffentlichen Raum, um greifen und reifen zu können. Der oszillierende Wechselprozess von individueller und kollektiver Auseinandersetzung ist anfällig für Störungen, brüchig und manchmal auch so paradoxal aufgeladen, dass er abbricht.
Und doch gilt es, ihn immer wieder neu zu versuchen. Wie ein solcher Prozess aussehen und welche Schwach- und Bruchstellen er aufweisen kann, möchte ich am Beispiel der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission (im Folgenden abgekürzt als WVK) beleuchten. Denn seit der Kernzeit ihres Wirkens von 1997–2003 gilt sie als Paradebeispiel gesellschaftlicher Trauma- und Konfliktbearbeitung. Weltweit ist es bislang keinem anderen Staat gelungen, einen derart chronisch und brutal ausgetragenen politischen Konflikt, wie es der Kampf gegen die Apartheid war, ähnlich schnell, ähnlich beherzt und ähnlich umfassend zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung zu machen.
Besonders waren hierbei nicht nur die relativ gute personelle und finanzielle Ausstattung der WVK und der breite Einbezug von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen und öffentlich anerkannten Persönlichkeiten wie beispielsweise Desmond Tutu, besonders im Vergleich zu anderen Wahrheitskommissionen war vor allem die Ausstattung mit juristischen Befugnissen wie etwa Vorladungen zu Zeugenaussagen im Rahmen der Amnestierungsanhörungen oder auch die Beschlagnahmung von Beweismaterial (zu einem internationalen Vergleich von Wahrheitskommissionen siehe Hayner, 2000).
Damit bewies die neue demokratische Regierung Südafrikas ihre Entschlossenheit zu einer konfrontativen Konfliktbearbeitung jenseits von beschwichtigenden Lippenbekenntnissen. Die Arbeit der WVK bot in der Folge Stoff für zahlreiche öffentliche Kontroversen. Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten kollektiver Trauma- und Versöhnungsarbeit wurden sehr deutlich. Bevor ich näher auf diese eingehe, möchte ich zunächst kurz den historischen und institutionellen Rahmen der Wahrheitskommission skizzieren und hierbei auch einige oft anzutreffende Missverständnisse ansprechen
Zuerst einmal ist hervorzuheben, dass die WVK als Institution an erster Stelle nicht für die Heilung oder Versöhnung der südafrikanischen Gesellschaft geschaffen wurde, sondern vielmehr eine mühsam errungene, pragmatische Lösung für das Amnestierungsdilemma darstellte. Sowohl die alte Apartheidregierung als auch der ANC und die anderen Befreiungsbewegungen legten Wert auf die Zusicherung von Amnestie für die eigenen Mitglieder, forderten zugleich jedoch die konsequente Bestrafung der ehemaligen Konfliktgegner.