E-Book, Deutsch, 360 Seiten
Kast Nullpunkt
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7394-1044-9
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: PC/MAC/eReader/Tablet/DL/kein Kopierschutz
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-7394-1044-9
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: PC/MAC/eReader/Tablet/DL/kein Kopierschutz
Nullpunkt erreicht. Keine Familie. Kein Geld. Keinen Bock auf Schule. Und was war eigentlich mit seinem besten Freund los? Ennoah fühlte sich ordentlich von seinem Leben verarscht. Als dann auch noch Nico, der Schulsprecher mit der großen Klappe, anfängt ihm auf die Pelle zu rücken, wird alles nur noch schlimmer ... Oder?
Über Mo gibt es viele Dinge zu erzählen. Seit ihrer Jugend schreibt und veröffentlicht sie leidenschaftlich gerne. Sie ist verheiratet und verdient ihr Geld mit Illustration und Design. Dann gibt es Dinge, die erzählt Mo lieber in Geschichten: Über den Alltag mit Depressionen. Über Sexualität, die kein großes Ding ist, selbst wenn sie nicht der Norm entspricht. Und dass Liebe für jeden ist. Sie schreibt für mehr Akzeptanz, Inspiration und die Hoffnung, dass am Ende alles gut wird.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Meine Wohnung sah unordentlich aus. Nein, das war untertrieben, sie sah verheerend aus. So, als hätte ein fürchterliches Gemetzel darin stattgefunden und man hatte nur die Gnade besessen, die Leichen, Körperteile und das Blut zu beseitigen. Der altmodische Wandschrank und die Couch mit ihrem 60iger Jahre Charme lagen in Trümmern vor mir, genau wie die anderen Teile der altbackenen Einrichtung. Der gerüschte Vorhang hing auf Halbmast an der Gardinenstange und die Retro- Blümchentapete hatte man brutal von den Wänden gerissen. Sie lag geschlagen am Boden. Die Trümmer meiner Existenz. Die selbstverursachten Trümmer, um genau zu sein. Ich war in dieser Wohnung groß geworden, auf der unbequemen Couch mit Sprungfedern hatte ich immer gesessen und selbst gebackene Plätzchen gegessen, während meine Großmutter mir spannende Geschichten über ungezogene Kinder, Orte, die weit weit entfernt waren, und Fabelwesen erzählt hatte. Mein Großvater war daneben in dem dazu passenden Sessel gesessen und hatte Zeitung gelesen oder Radio gehört. Es war eine schöne Erinnerung, aber nur solange, bis man in diesem Wohnzimmer stand, alles vor sich sah und wusste, dass es nie wieder so sein würde. Ich spürte immer noch, wie meine Hände schmerzten und ich mir die Finger an der Tapete fast blutig gekratzt hatte, bis ich ein Messer zum Schaben zur Hand genommen hatte. Ich schaute mich um. Zeit für Veränderung, oder? Man konnte doch nicht immer in der Vergangenheit leben, sich wünschen, dass Erinnerungen wieder lebendig wurden. Aber im Moment hatte ich leichte Zweifel, ob das der richtige Weg dafür gewesen war. Wenn ich mir meinen Kontostand ins Gedächtnis rief, war die ganze Aktion eventuell sogar ziemlich bescheuert gewesen. Ich hatte wahrscheinlich gerade mal das Geld, um den Kram entsorgen zu lassen. Aber bestimmt nicht genug Kohle, um mir neue Möbel zu kaufen. Zeit für Veränderung ... Warum nicht mal einen neuen Lebensstil ausprobieren? Man sollte sich doch sowieso nicht so an Materiellem aufhängen und eine spartanisch eingerichtete Wohnung soll ja gerade sehr in sein. Wie auch immer ... Zumindest hatte ich noch ein Bett, in dem ich schlafen konnte, und das war ja die Hauptsache. Jedenfalls würde das reichen, bis ich vielleicht mal wieder mehr Geld zusammen hatte. Verdammt, manchmal war es einfach so, als würde alles bei mir ausklinken und dann zerstörte ich Mobiliar? Ich konnte mir doch gar keine Rockstarallüren leisten. Ich seufzte und fragte mich wieder, was ich mit diesem Trümmerhaufen anfangen sollte. Eine Möglichkeit wäre es, einfach ein Schild davor zu stellen, mit der Aufschrift ›Mein Leben‹, und das dann als tiefbewegte Kunst zu verkaufen. Könnte funktionieren, aber ich fühlte mich momentan emotional nicht in der Verfassung mich und meine ›Kunst‹ zu prostituieren. Andererseits, wer weiß, ich könnte mir neue Möbel davon leisten und ... Ich sollte Eddy anrufen, ich sollte ihn so was von anrufen. Ich drehte schon wieder völlig ab. So eine Scheiße! Vielleicht lag es am Kaffee, ganz bestimmt. So viel Koffein konnte selbst für mich nicht gut sein ... Ich hatte heute noch nichts gegessen, nur dieses braune Gift getrunken. Ich fühlte mich komisch, ich sollte wirklich Eddy anrufen. Ich hatte etwas Angst. Wovor und warum wollte ich gar nicht wissen, weil die Antwort scheiße war. Mein Telefon fand ich hinter dem umgeworfenen Tisch im Flur, auf dem es normalerweise immer stand. Aber das ging ja schlecht, wenn ich alles zerlegte. Ich war ein Idiot. Zu meinem Glück ging das Gerät noch und ich wählte Eddys Nummer. Ich kannte seine Nummer sogar besser, als meine eigene. Ich könnte sie im Schlaf aufsagen, rückwärts, blind eintippen. Aber das konnte mir niemand verdenken, ich kannte Eddy seit dem Kindergarten. Er war mein bester Freund für immer und ewig, oder so was. Keine Ahnung. Ich wollte mit ihm sprechen. Ich hörte das Freizeichen und vermied es, mich wieder in meiner demolierten Wohnung umzusehen. Allerdings konnte ich den Impuls nicht unterdrücken, nervös mit dem Fuß zu tippen, während ich darauf wartete, dass endlich jemand abhob. Warum dauerte das so lange? „Neufelder, hallo?“, meldete sich eine müde Frauenstimme und erst jetzt fiel mir auf, dass ich vielleicht eine ungünstige Uhrzeit für meinen Panikanruf gewählt hatte. Es war irgendwas früh morgens, keine Ahnung wie viel Uhr genau – die Uhr hätte ich nämlich erst mal wiederfinden müssen – und wir hatten Sonntag. Scheiße, ich hatte doch gesagt, dass der Kaffee schuld war. „Ähm, hey, ist Eddy da?“, nuschelte ich ins Telefon, doch etwas peinlich berührt, so früh gestört zu haben. Manchmal war ich ein Idiot, vor allem, wenn ich keinen Bezug zu allem bekam, besonders nicht zu sozialen Konventionen. „Ich denke, er schläft noch, Ennoah. Ist es denn wichtig?“ Ich konnte nicht sagen, ob Eddys Mutter vorwurfsvoll oder nur müde klang. Beides wäre nachvollziehbar. Ich würde mich jedenfalls nicht freuen, wenn der verrückte Freund meines Sohns zu einer unmöglichen Zeit anrief. Aber ich würde das nicht ohne Grund tun. Ehrlich nicht. „Irgendwie schon.“ Wenn Eddy nicht vorbeikommen würde und mir sagte, dass ich hier einen ganz schönen Ruckus veranstaltet hatte, würde ich wieder weiter Kaffee trinken und irgendwann zwischen dem Haufen Müll umkippen. Ich wusste das so genau, weil mir das schon ein- oder zweimal oder auch drei- oder viermal, sagen wir einfach, in letzter Zeit oft genug passiert war. Nicht das mit den kaputten Möbeln, das war neu, aber das mit dem Umkippen. Ich kam einfach nicht mehr richtig runter, wenn er nicht da war. Er war für mich wie ein Valium in Menschenform. Absurd, aber so war es einfach. Ich hörte, wie Eddys Mutter seufzte. Es war relativ einfach sich vorzustellen, was gerade in ihrem Kopf vorging. Sie hatte Mitleid mit mir, immerhin war meine Großmutter vor einigen Monaten gestorben und mein Leben war so oder so nie einfach gewesen. Sie würde mich gerne anmeckern und mir erklären, dass ich nicht einfach so früh am Morgen anrufen konnte. Aber sie hatte Angst, dass wieder etwas nicht mit mir stimmte und ihr dann irgendjemand Schuld für etwas gab. Ich glaubte, sie dachte, ich würde mir etwas antun. Aber außer dem vielen Kaffee und der schlechten Ernährung, gab es eigentlich nichts zu beanstanden. Und den Möbeln. Reden wir nicht mehr weiter von den Möbeln ... „Warte, ich weck Adrian“, erklärte sie mir schließlich und ich hörte, wie der Hörer beiseite gelegt wurde. Im Kopf rechnete ich, wie schnell Eddy hier sein könnte. Wenn ich ihm jetzt sagte er sollte herkommen, bräuchte er noch mindestens zehn bis zwölf Minuten im Bad, dann würde er sich noch ein Brot schmieren oder einen Apfel suchen, weil er wusste, dass es hier nie etwas zu essen gab, und wäre dann mit dem Fahrrad eine viertel Stunde später vor meiner Wohnung. Hm... Alles in allem würde er eine knappe halbe Stunde brauchen, verdammt. Ich sollte ihm sagen, dass er sich beeilen musste. „Woah, Alter, es ist fünf Uhr morgens!“, grummelte Eddy ins Telefon. Na ja, jetzt wusste ich wenigstens, warum alle so müde klangen. „Du musst sofort herkommen“, erklärte ich ihm die Sachlage. Er musste einfach, deswegen waren wir ja beste Freunde. Ich hoffte, ihm war das so klar, wie mir. „Enni ... Wirklich, ich bin erst vor zwei Stunden ins Bett gekommen.“ Eddy seufzte oder unterdrückte ein Gähnen oder beides. Nicht weiter wichtig ... „Ich hab heute noch gar nicht geschlafen, das ist egal. Du musst wirklich kommen, bitte.“ Bei einem Bitte durfte er einfach nicht Nein sagen, das wäre zu unhöflich, fand ich. Ich zwirbelte das Telefonkabel um meinen Finger. Er sollte endlich sagen, dass er jetzt gleich auf der Matte stand. Ich fühlte mich ungeduldig, ich war ungeduldig ... „Ach, scheiße. Ich muss dich echt mögen, Alter ... Aber wehe, das Haus steht noch und dir fehlt nicht mindestens ein Arm.“ Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er schon aufgelegt. Eddy mochte mich und er würde sich beeilen. Ich wandte mich erneut dem Chaos zu. Niederschmetternd. Nichts, mit dem ich mich jetzt beschäftigen wollte, schon gar nicht, wenn Eddy sowieso gleich hier war. Ich merkte, wie ich wieder an meinen Nägeln kaute. Erstaunlich, dass es da überhaupt noch etwas gab, an was ich kauen konnte. Mit einem Biss stellte ich fest, dass da nichts mehr war, ich hatte mir in den Finger gebissen. Verärgert ließ ich die Hand sinken und ging in mein Schlafzimmer, das vor meinem Massaker zum Glück verschont geblieben war. Ich warf mich auf mein Bett, spürte, wie sich mir ein Stift in den Rücken bohrte, und rollte mich beiseite. Vorwurfsvoll schaute ich zu dem Stift, als wäre es seine Schuld, dass er hier in meinem Bett lag und auch, dass die Zeichnungen zerknittert waren. Na ja, was soll's. Ich strich die Zeichnungen wieder etwas glatt und dabei blieb mein Blick auf einer völlig anatomischen Verkrüppelung hängen. Was zum Henker hatte ich mir gedacht, als ich das gezeichnet hatte?! Ich angelte nach dem Stift, der mich eben noch malträtiert hatte, und versuchte in der Zeichnung noch irgendwas zu retten. War ja ekelhaft. Manchmal musste ich echt blind sein beim Zeichnen. Ich schüttelte den Kopf und zerknüllte das Papier. Ich würde das jetzt schöner, besser, größer, lauter ... Schwachsinn. Hauptsache ich zeichnete irgendwas, war beschäftigt und konnte nicht daran denken, dass gerade ziemlich viel echt schieflief. Und das war nicht mal auf den Tod meiner Großmutter bezogen, na ja auch, aber nicht nur. Ich schreckte auf, als ich die Klingel hörte. Wie lang Eddy jetzt tatsächlich gebraucht hatte, um hierher zu kommen, wusste ich nicht. Aber wenigstens war die Zeit schnell vorbeigegangen, als ich...