E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Kaurin Beinahe Herbst
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-03880-131-3
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-03880-131-3
Verlag: Arctis ein Imprint der Atrium Verlag AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sonja wartet auf ihre jüngere Schwester Ilse. Sie hätte längst zu Hause sein sollen. In Oslo fällt der erste Schnee. Plötzlich klopft es an der Tür. Draußen stehen drei Polizisten. Es ist das Jahr 1942. Der preisgekrönte Roman 'Beinahe Herbst' handelt vom Schicksal der jüdischen Familie Stern im okkupierten Norwegen, von der Kraft der ersten großen Liebe, vom Hoffen und Verlieren, von kleinen Zufällen und großen Träumen.
Marianne Kaurin, geboren 1974, studierte am Norwegischen Kinderbuchinstitut in Oslo. 2012 debütierte sie mit ihrem Jugendroman Beinahe Herbst (Arctis), für den sie zwei der wichtigsten Jugendliteraturpreise Norwegens erhielt. 2021 folgte die Auszeichnung mit dem Deutschen Kinderliteraturpreis für Irgendwo ist immer Süden (WooW Books). Die Autorin wohnt mit ihrer Familie in Oslo.
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Der Sommer ist vorbei. Die Blätter in den staubigen Straßen, vertrocknet und eingerissen, gelbe, rote, sie liegen haufenweise entlang der Mietshäuser und warten aufs Verfaulen. Die Luft ist beißend und bringt einen Geruch, eine Wende. Bald wird der Wind auffrischen und es gibt strömenden Regen, der gegen die Fenster, auf den Asphalt prasselt, tiefe Furchen in den Kies gräbt. Bald ist die Erde feucht und kalt, voller Würmer, Maden und Käfer, die sich eifrig den Bauch vollschlagen. Bald ist die Anhöhe hart und undurchdringlich, bald gibt es Schnee. Eine harte Haut auf gefrorenem Wasser und steifem Gras, weiß und kühl, um alles ruhen zu lassen, was tot ist. Noch scheint die Sonne, sie steht tief und wärmt wenig, und jetzt fällt das Licht schräg auf ein Tor in Oslos Stadtteil Grünerløkka. Durch das Tor kommt Ilse Stern. Sie geht schnell, sie lächelt. Draußen auf der Biermanns gate dreht sie sich um. Das graue Mietshaus steht wie eine leere Hülle im trüben Nachmittagslicht, eine schlafende Mauerwand mit geschlossenen Fenstern. Von außen sieht es aus wie jedes andere Mietshaus. Vier Stockwerke, dunkle Gardinen, ein schmiedeeisernes Tor, durch das man nach einem Durchgang mit Abfalltonnen in einen schattigen Hof kommt. Hinter den Fenstern im zweiten Stock rührt sich nichts. Von außen kann man nicht alles erkennen, was sich dort drinnen bewegt, dort atmet, pocht und lebt. Ilse biegt um die Ecke in die Toftes gate. Sie hat es geschafft. Sie ist aus der Wohnung entkommen, ohne dass Mutter sie mit all ihrem Gemecker davon abgehalten hat. Nicht ein Wort, dass sie immer nur an sich denkt, dass sie keine Rücksicht nimmt, kein »Pass auf dies und pass auf das auf« und dass sie vor der Ausgangssperre wieder zu Hause zu sein hat. Sie machten Mittagsschlaf, als sie ging, Mutter und Vater, sie schnarchten so passend. Sonja und Miriam waren im Park Torshovdalen. Miriam hatte gequengelt, Ilse solle auch mitkommen: »Bitte, bitte, Ilse, komm mit, wir können die Anhöhe runter um die Wette laufen.« Ha! Was war Wettlaufen in Torshovdalen im Vergleich mit Ilses Plänen an diesem Samstagnachmittag? Was war das schon für ein Vorschlag an einem Tag wie diesem? Wie eine Schlange war Ilse in der engen Wohnung herumgeschlichen, um die beiden schlafenden Krummrückigen nicht zu wecken. Mutters Handtasche hing im Flur am Hakenbrett. Ilse nahm sie lautlos ab, öffnete sie vorsichtig, Taschentücher und Quittungen, sie kramte darin, bis die Finger das Gesuchte fanden. Vor dem Spiegel in der Küche trug sie in dicken Schichten Lippenstift auf. Sie zog eine Schnute, legte den Kopf schräg, schloss die Augen, spürte die Kälte, die von der Spiegeloberfläche ausging, den Atem, von dem das Glas beschlug. Rot, rosa, die Lippen groß und voll, zum Küssen bereit. Ihr Haar hatte sie mit genau hundert Bürstenstrichen gebürstet, zuerst zur einen, dann zur anderen Seite. Sie spiegelte sich lange, im Profil von rechts, lächelte. Der Küchenboden lag voller schwarzer Haare, als sie fertig war. Mutter konnte es nicht ausstehen, dass sie sich in der Küche bürstete: »Das ist unappetitlich, Ilse, die Haare können ins Essen kommen.« Ilse bückte sich, sammelte die Haare auf, knäuelte sie zu einer kleinen Kugel zusammen und warf sie in den Mülleimer. Einen Zettel legte sie noch auf den Küchentisch, bevor sie losging: »Bin kurz weg.« Mehr nicht. Die Wärme der Sonne legt sich auf ihr Gesicht, der Staub wirbelt von den Straßen auf, das Laub raschelt, sie watet hindurch. Die Toftes gate erstreckt sich vor ihr wie ein Boulevard, sie muss ihn nur hinab- und geradeaus gehen. Sie ist auf dem Weg. Jetzt passiert es. Sie trägt das Sommerkleid, das weiße mit den roten Punkten, das Sonja genäht hat, es ist viel zu spät im Jahr, um nur in einem Sommerkleid vor die Tür zu gehen, das weiß sie genau, aber trotzdem, wenn es einen Tag gibt, an dem sie im Sommerkleid geht, sich von ihrer allerbesten Seite zeigt, dann heute. Das Kleid ist kurzärmelig, aus einem dünnen Baumwollstoff, und einmal im Sommer, ja, genauer gesagt am 16. Juli kurz nach vier Uhr, hatte Hermann sie angesehen und zu ihr gesagt, dass es ihr stehe. Jetzt merkt sie, wie die kalte Luft durch den Stoff weht, wie sie Gänsehaut bekommt. Die Härchen auf den nackten Unterarmen stellen sich auf wie schwarze Fühler. Sie muss die Arme hinter dem Rücken halten, damit er das nicht sieht. Ilse läuft fast die schmalen Wege im Park Birkelunden hinab. Heute macht im Pavillon niemand Musik, dort hat schon lange niemand mehr musiziert. Früher kam sie oft am Sonntag mit der Familie hierher, so wie viele Nachbarn aus dem Mietshaus in der Biermanns gate. Essen im Korb, Saft in Flaschen, sie machten es sich auf Decken gemütlich, sie und Sonja tobten mit Hermann und Dagny und den anderen Kindern. Odd Rustad aus dem Dritten forderte seine Frau zum Tanz auf und bewegte sich selbstsicher über die Rasenfläche, wobei er laut trällerte und alle über ihn lachten. Jetzt ist es so anders, so still, alle sind wie auf der Hut. Die Pauluskirche steht auf der gegenüberliegenden Seite. Sie schaut zum Turm hoch. Als sie klein war, redete Sonja ihr ein, dass dort oben ein Mann wohne, ein Kirchendiener mit Holzbein und langen, strähnigen Haaren, der dort ein Mädchen gefangen halte, in einem eigens angefertigten Kerkerloch und sie hungern lasse, bis sie nur noch ein Skelett mit Brille war: »Ja, denn sie hatte eine Brille getragen, dieses Mädchen.« Ilse hatte sich immer besonders fest an Sonjas Hand geklammert, wenn sie Birkenlunden durchquerten, bis sie ungefähr zwölf war. So oft hatte sie von diesem bebrillten Skelett Albträume gehabt, so oft hatte sie einen Umweg gemacht, um dort nicht vorbeigehen zu müssen. Die großen Birken im Park rauschen so schön. Die Straßen sind irgendwie breiter als sonst, weniger staubig, weniger vermüllt. Sie hat vier Worte im Kopf, sie sind einfach aufgetaucht, wie eine Regel, wie ein Marsch: »Alles beginnt im Herbst. Alles beginnt im Herbst. Eins, zwo, drei, vier. Alles beginnt im Herbst.« Irgendetwas wartet auf sie, jemand wartet auf sie. Sollen doch die Bäume so viele Blätter verlieren, wie sie schaffen, soll die Anhöhe doch hart und undurchdringlich werden, soll es doch so viel Regen und Wind geben, wie es will, und der Krieg, der blöde Krieg, kann sich zum Teufel scheren, denn sie, Ilse Stern, im Sommerkleid und mit Lippenstift, fünfzehneinhalb Jahre in den nächsten Tagen, ist unterwegs zu etwas, das heiß und rot pulsiert, und nichts und niemand kann sie aufhalten. Auf dem Olaf Ryes plass sitzen Leute und unterhalten sich, einige auf dem Rasen, andere auf den grünen Bänken, die im Halbkreis um den Springbrunnen stehen. Noch ist Wasser darin, es gluckert, die hohen Bäume werfen Schatten auf den Platz, ein paar Kinder spielen Fangen, laufen lachend und schreiend hintereinander her. Es kommt ihr so lange her vor, dass sie auch einmal dazugehörte und so ein schmuddeliges Stadtkind mit dünnen Zöpfen war, das in den Parks und Straßen von Grünerløkka herumrannte. Ilse schaut nach einem schmächtigen Jungen mit blonden, strubbeligen Haaren und einer Lücke zwischen den Schneidezähnen, einem Jungen mit schönen, schmalen Händen und schlenderndem Gang, einem, der wie Hermann duftet. Er ist nirgendwo zu sehen. Der Wind streicht durch die Baumkronen. Sie wartet. Vor ein paar Tagen, ganz genau um Viertel nach sechs am Dienstag, klopfte es bei ihr zu Hause an der Tür. Er stand entspannt im Treppenhaus, die eine Hand hinter dem Rücken. »Ilse Stern«, sagte er, wie es so seine Art war. Nein, nicht ganz, in seiner Stimme schwang etwas mit, etwas Neues. »Hermann Rød«, antwortete Ilse. Kurz war es still. Ilse Stern und Hermann Rød. Niemand sagte etwas. Ilse machte einen Schritt ins Treppenhaus, schloss die Tür hinter sich. Mutter saß beleidigt in der Stube, sie hatten sich gerade gestritten, jetzt überlegte sie sich bestimmt den nächsten Angriff. War Hermann aus dem Grund gekommen, waren sie und Mutter zu laut geworden? Mutters Stimme war ins Falsett gekippt, als sie das mit dem Mehl herausgefunden hatte: »Was hast du nur wieder für Ideen, Ilse, sich Mehl ins Gesicht schmieren?« Das war ein dämlicher Streit, einer von vielen. Hatte Hermann drinnen bei sich gehört, wie sie sich angeschrien hatten? Und hatte sie noch immer Mehl im Gesicht? Sie wischte sich schnell die Wange ab. »Was gibt’s, Hermann?«, fragte sie unsicher. Er streckte die Hand aus, zwei Papierzettel, er wedelte damit in der Luft herum, beugte sich zu ihr. »Kino im Parktheater, Sonnabend, fünf Uhr«, verkündete Hermann. »Reihe sieben, Plätze acht und neun.« Sie hat diese Verabredung so deutlich vor Augen gehabt: Hermann, wie er unter den großen Bäumen auftaucht, sie, wie sie rot gepunktet und sommerlich auf der Bank sitzt, wie er ihr behutsam den Arm um die Schultern legt, sie ins Kino-Dunkel führt. Oh nein, die Nachbarn aus dem Dritten, die gehen spazieren, die ganze Familie, die Mädchen laufen voraus, Herr und Frau Rustad hinterher. Warum hat sie keine Tasche mitgenommen, dann könnte sie jetzt darin wühlen, oder sie hätte ganz zufällig dort sitzen und ein Buch lesen können. Wenn sie sich nur ein bisschen verstecken könnte, gerade jetzt will sie nicht mit ihnen reden. Odd, der sich immer so aufspielt, Witze macht und lacht: Ach, guck an, im Sommerkleid sitzt du hier, das werden wir deiner Mutter sagen, und auf wen wartest du eigentlich? Ilse dreht sich weg, tut, als habe sie gerade etwas Interessantes zwischen den Baumstämmen entdeckt, streckt den Rücken durch, aber es ist zu spät, es nützt nichts, sie haben sie schon...