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E-Book

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

Kermani Album

Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-446-24690-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Das Buch der von Neil Young Getöteten. Vierzig Leben. Du sollst. Kurzmitteilung

E-Book, Deutsch, 512 Seiten

ISBN: 978-3-446-24690-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit seinen Romanen "Dein Name" und "Große Liebe" wurde Navid Kermani als einer der eigensinnigsten Schriftsteller unserer Zeit gefeiert. Nun liegen seine frühen Romane und Erzählungen in einem Band vor – vier literarische Paukenschläge, die bei aller Verschiedenheit zugleich ein Kontinuum ergeben: Ob es die Heilung der Babykolik aus dem Geiste der Rockmusik ist, die Heiligenviten aus Köln-Eigelstein und Umgebung, die Kämpfe, Erniedrigungen und Missverständnisse der erotischen Liebe oder der Tod in Gestalt einer SMS – jedes Mal erweist sich das Wunder oder das Scheitern der menschlichen Existenz in den scheinbar banalsten Situationen unseres Alltags.
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Als wolle Gott ihr die Erkenntnis einbleuen, daß sie das Paradies verlassen habe, als wolle er ihr die Erinnerung rauben oder, schlimmer noch, die Geborgenheit zu einer bloßen Erinnerung gerinnen lassen, bekam meine Tochter regelmäßig abends um acht oder halb neun Blähungen. Das Wort hört sich harmlos an, aber wer einmal ein Neugeborenes in den Händen getragen hat, das sich vor Schmerzen windet, dessen Gesichtszüge sich zu tausend Falten verzerren, wer sich, und sei es für zehn Minuten bloß, diesem dünnen Kreischen ausgesetzt hat, muß zynisch sein, um die Welt zu tolerieren. Ich hatte vorher nicht gewußt, was Blähungen exakt sind und daß es für sie, wenn sie bei Neugeborenen auftreten, einen feststehenden Begriff, den der Drei-Monats-Kolik, gibt. Drei Monate der Folter standen meiner Tochter also bevor. Keiner hatte uns vorgewarnt, und wen immer wir alarmierten, niemand schien ihre Qualen ernst zu nehmen. Die Beteuerungen unserer Hebamme, der Großeltern und Freunde, daß Blähungen bei vielen Säuglingen aufträten und kein Anlaß zur Beunruhigung seien, erschienen mir euphemistisch und roh. Meine schreiende Tochter durch die Wohnung tragend, beschuldigte ich die Menschheit, sich den tatsächlichen Konditionen ihres Daseins zu verschließen, und Gott des Verbrechens an der Menschlichkeit. Was, wenn nicht ein Neugeborenes, das anders als Erwachsene oder sogar Kinder den Schmerz nicht abmildern kann, indem es die Empfindung durch die relativierenden Instanzen des Bewußtseins schickt, was, wenn nicht die Blähungen seiner Tochter, sollte einen Vater beunruhigen, nicht weil er sich ernstlich um ihre Gesundheit sorgte, sondern vielmehr weil er das Elend alles Irdischen in ihr zappelnd verkörpert sieht? Der Schock war um so größer, als die erste Zeit mit meiner Tochter bis auf einzelne panische Anfälle völlig friedvoll und schon die Geburt für meine Tochter (nicht für meine tapfere Frau) viel sanfter verlaufen war, als ich es mir vorgestellt hatte. Nur wenige Sekunden hatte sie (meine Tochter, nicht meine Frau) geschrien. Dann schaute sie uns aus Riesenaugen ruhig an, ein wenig abwartend, ein wenig prüfend; so seht ihr also aus, schien sie zu denken. Seither kenne ich den Geschmack der Seligkeit. Ich habe meine Tochter an jenem frühen Morgen, von der Ernsthaftigkeit ihres Blicks gefesselt, wohl fast eine Stunde lang wiegend durch den spärlich beleuchteten Kreißsaal getragen und ihr so leise, daß nur sie es hörte, Turaluraluralu der deutschen Gruppe Trio vorgesungen, aber das gehört eigentlich nicht hierhin, weil ich ein Buch über Neil Young schreibe und dieser erst ins Leben meiner Tochter trat, als sie ihn brauchte (früher glaubte ich, daß man Neil Young immer braucht, aber inzwischen denke ich, man kommt die ersten paar Tage auch ohne ihn über die Runden). Die Blähungen begannen, wenn meine Erinnerung nicht trügt, etwa zehn Tage nach der Geburt. Ich war mit meinem besten Freund ausgegangen und brachte ihn auf einen Wein noch mit nach Hause, als wir meine zermürbte Frau und meine winselnde Tochter auf dem Sofa vorfanden. An diesem Abend witzelte ich noch ausgiebig über ihr mütterliches Unvermögen und meine väterliche Aura, weil meine Tochter sich auf meinem Arm beruhigte, doch am nächsten und übernächsten und auch am dritten Abend wirkten meine Hände kein Wunder mehr, und ich mußte feststellen, daß ich am ersten Abend wahrscheinlich nur zur rechten Zeit, nämlich gegen halb zwölf, nach Hause gekommen war, da meine Tochter ihre seitdem tägliche Tortur soeben überstanden hatte. Die folgenden Abende waren niederschmetternd. Wie ich in unserer zweigeschossigen Wohnung rauf und runter trabte und vergeblich die unterschiedlichsten Haltemöglichkeiten und Griffe probierte, hielt mich nur die Verpflichtung am Leben, meiner Tochter beizustehen, und außerdem die Aussicht, daß der Schmerz nach ziemlich exakt drei Stunden nachlassen und die Koliken in drei Monaten überwunden sein würden. Aber der Gedanke, meiner Tochter diesen Trost nicht mitteilen zu können, quälte mich. Sie zu tragen und zu liebkosen hatte wohl seine Wirkung, oft hörte sie auf zu kreischen, wimmerte nur noch oder verstummte für einige Minuten; aber schon ihr angespanntes Gesicht ließ erkennen, daß das Unbehagen anhielt. Scheißwelt! Das Büchner-Zitat von uns armen Musikanten und unseren Körpern als den Instrumenten meldete sich jeden Abend zu Wort: »Sind die häßlichen Töne, welche auf ihnen herausgepfuscht werden, nur da, um höher und höher dringend und endlich leise verhallend wie ein wollüstiger Hauch in himmlischen Ohren zu sterben?« Ich hatte es in meiner Arbeit über die islamische Mystik aufgegriffen, weil diese ein ähnliches Motiv kennt. Aber das hier, die Töne, die ein ungutes Schicksal aus meiner Tochter herauspfuschte, das war kein Motiv, das war so real wie ein Auto oder wie Zahnweh. Ich stand mit meiner Tochter in der Mitte meines Arbeitszimmers, als mir am vierten Blähungsabend die Idee kam, Musik zu hören; vielleicht würde es sie ablenken, überlegte ich, ohne der Hoffnung viel abzugewinnen. Aber etwas anderes hatte ich ohnehin nicht zu tun, und schaden würde es gewiß nicht. Einem Impuls folgend, entschied ich mich sofort für Neil Youngs Last Trip To Tulsa, das letzte Stück auf seiner ersten Soloplatte: eine schier endlose Wiederholung der immer gleichen, von sekundenlangen Pausen unterbrochenen Akkorde zu einem grandiosen Text, den ich bis heute nicht verstanden habe. Das Brüchige, das Assoziative, das Zufällige ist hier, wie später so oft in seiner Musik und seinen Texten, zum Prinzip erhoben, die herkömmliche Liedstruktur der äußeren Form nach bewahrt, von innen jedoch zertrümmert. Das Gewand einer Folkballade tragend, mit der akustischen Gitarre als einzigem Instrument, ist The Last Trip To Tulsa in Wahrheit das mal meditative, mal schroffe Rezital einer Lyrik, die sich bewußt dem Reimzwang sowie den Assonanzen und Dissonanzen der Sprache unterwirft und eben dadurch mit jeder Strophe in eine andere Richtung treibt, mit jedem Vers eine Überraschung erlebt. Das hat etwas von Kinderreimen und ebenso vom Zungenreden; wenn ich die Verse höre, stelle ich mir vor, wie Neil Young auf dem Bett seines Hotelzimmers sitzt, die Westernstiefel ausgestreckt auf dem gestärkten Bettuch, eine ordentliche Dröhnung hinter der Stirn, und den Silben und rhythmischen Lauten lauscht, die aus den immer gleichen Akkorden seiner Gitarre hervortreten, den Reihen gleichlautender Vokale wie dem /e/ in the servicemen were yellow oder dem /a/ in but i was afraid to ask, den Anfangs- oder Endkonsonanten wie dem /g/ in gasoline was green oder eben dem /t/ in last trip to tulsa. Daß Neil Young im Booklet alle Buchstaben des Liedtextes klein und die Strophen fortlaufend, ohne Zeilenwechsel also, schreibt, folgt der Logik des Textes. Keineswegs war ich so vermessen anzunehmen, meine Tochter bereits am Ende ihrer ersten Lebenswoche in die literarästhetischen und lautmalerischen Nuancen der kanadischen Avantgardelyrik einweisen zu können. Was mich bewog, gerade The Last Trip To Tulsa aufzulegen und nicht eines der vielen harmonischen, selbst Frauen und Kindern zugänglichen, mitunter zugegeben seichten, vereinzelt – ich bekenne es, um gar nicht erst den Verdacht aufkommen zu lassen, ich sähe die Dinge nicht objektiv – peinlichen Lieder (etwas anderes als Neil Young stand nicht zur Debatte, allenfalls Turaluraluralu wäre in Erwägung zu ziehen gewesen, sofern ich die CD besessen hätte, obgleich es vorzusingen ich bereits ohne Wirkung erprobt hatte), was mich bewog, war die Stimme, die jämmerlich hohe, regelmäßig ins Weinerliche kippende, für einen Sänger, zumal für einen Rocksänger eigentlich unmögliche Stimme, die viel zu schmal, fast fistelig ist, diese Stimme eines Kafkaschen Hungerkünstlers, die für jeden Unempfänglichen neuralgisch sein muß und mir nun schon so viele Jahre die boshaftesten Bemerkungen von Bekannten und Brüdern beschert, wohingegen ich wie wahrscheinlich jeder seiner Fans sie mehr als alles andere an ihm liebe. Neil Youngs Stimme kommt in diesem Stück im Reinzustand zur Geltung, wegen der minimalistischen Instrumentierung, aber auch weil er die meiste Zeit ganz leise singt, nicht durchgehend an der Grenze zum Flüstern, wohl aber jenseits der Grenze zum Selbstmonolog. Es ist für ein Lied, das sich doch fast immer an ein Publikum, an eine Mehrzahl von Adressaten richtet, tatsächlich eine ungewöhnliche kommunikative Situation, insofern Neil Young in dieser Aufnahme gleichsam für sich selbst singt oder allenfalls noch für jemanden, der neben ihm auf dem Bett sitzt (zum Beispiel mich), Schulter an Schulter gegen die Rückwand gelehnt. Seltene Schattierungen seiner Stimme treten so zutage, dunkle, zärtliche und rauhe. Das Stück beginnt damit, daß Neil Young zwei-, dreimal mehr oder weniger planlos in seine Gitarre drischt, um sie daraufhin, wie zur Entschuldigung, kaum hörbar zu streicheln. Weil dieses Intro im Gekreische meiner Tochter vollständig unterging, drehte ich den Lautstärkeregler weit nach rechts. Und dann stand aus heiterem Himmel die Stimme im Raum, behutsam, fast schüchtern und doch lockend, wie schon angedeutet an der untersten Grenze des noch Stimmlichen, aber durch den Lautsprecher eben doch äußerst laut, viel zu laut für ein Baby. well i used to drive a cab you know, heard a siren scream, pulled over to the corner and fell into a dream. there where two men eating pennies and three young girls who cried, »the west coast is falling. i see rocks in the sky.« the preacher took his bible and he laid it on the stool. he said »with the congregation running, why should i play the fool?« ...


Kermani, Navid
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis, 2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und zuletzt den ECF Princess Margriet Award for Culture 2017. Außerdem wurde er mit dem Staatspreis des Landes NRW 2017 ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei Hanser Dein Name (Roman, 2011), Über den Zufall (Edition Akzente, 2012), Große Liebe (Roman, 2014), Album (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und Sozusagen Paris (Roman, 2016). Ayda, Bär und Hase (2017) ist sein erstes Buch für Kinder.
Mehr unter: www.navidkermani.de

Navid Kermani wurde 1967 in Siegen geboren. Er ist promovierter Orientalist und lebt als Schriftsteller in Köln. Für sein akademisches und literarisches Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, 2012 mit dem Kleist-Preis und zuletzt 2014 mit dem Gerty-Spies-Literaturpreis und dem Joseph-Breitbach-Preis. Nach Dein Name (2011) erschien bei Hanser 2014 der Roman Große Liebe.
Mehr unter: www.navidkermani.de



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