Kermani | Dein Name | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 1232 Seiten

Kermani Dein Name

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-24403-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 1232 Seiten

ISBN: 978-3-446-24403-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am 8. Juni 2006 beginnt Navid Kermani sein neues Buch, und es wird einer der ungewöhnlichsten Romane unserer Zeit. Hier schreibt einer über alles, was es zu wissen gibt über sein Leben und das Leben überhaupt: die Gegenwart und die Vergangenheit seiner Familie, die Erinnerung an gestorbene Freunde und die mitreißende Lektüre Jean Pauls und Hölderlins. Die Geschichte seines Großvaters, der von Nahost nach Deutschland ging, wird zum Herzstück des Romans. Immer wieder drängt sich dem Romancier der entscheidende Moment dazwischen: der des Schreibens. „Dein Name“ ist ein Roman, der das Privateste ebenso in den Blick nimmt wie die Geschichte, in der wir leben - ein Buch, das unser Bild der Gegenwart nachhaltig verändern wird.
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In der Nacht druckte der Romanschreiber zum ersten Mal sein Totenbuch aus, für das er längst einen anderen Namen mit sich trägt. Um Ihnen eine Steilvorlage zu geben, falls Ihnen der Roman mißfällt, den Sie lesen: Abgesehen von den Kapiteln selbst, die mal besser, mal schlechter gelungen und eben deshalb fragwürdig sind, daß sie die Toten literarischen Kriterien unterwerfen, ist der Romanschreiber soweit zufrieden. Allerdings begriff er nach einigen Seiten, daß er nicht zurückblicken darf, und warf die Blätter ins Altpapier. Er würde sonst aus der Erfahrung mehr lernen, als es im Leben gelingt, durchaus im kleinen: Wiederholungen vermeiden, das Gelungene ausbauen, Irrwege nicht fortsetzen. Statt dessen nagt weiter der Gedanke, wem er die Datei schicken könnte, um eine weitere Stimme einzuführen. Die Reaktion, wie immer sie ausfiele, wäre Teil des Romans, den ich schreibe: Was immer Sie sagen, kann gegen ihn verwendet werden. Der Romanschreiber stöpselt am Freitag, dem 11. August 2006, um 11:23 Uhr das Telefonkabel in den Laptop, hängt um 11:25 Uhr die Datei an die E-Mail und klickt im Namen Gottes um 11:27 Uhr auf die Taste zum Absenden. Oh, das dauert, o Erbarmer, o Barmherziger. Was denn jetzt? Nein, es geht gar nicht, teilt der Laptop um 11:32 Uhr mit. Wahrscheinlich wegen der Photos ist die Datei zu groß, um sie über die Analogleitung zu versenden. Der Verleger in Zürich, der gar nicht anders könnte, als an die Verwertung zu denken, wäre als Leser ohnehin ganz verkehrt. Gepriesen sei Gott, Herr der Weltwohner, König des Gerichtstags. Damit er mit dem Roman fortfahren kann, den ich schreibe, ändert er für die anstehende Rede vor Schweizer Unternehmern den Titel, weil er die Rede vor deutschen Versicherern über Europa wiederholen wird, statt über »Wir und der Islam« zu sprechen, wie es die Schweizer Unternehmer vorsahen. Verträte er das Wir, wäre er kaum eingeladen worden, aber das bedeutet auch bei einem Monatsgehalt Honorar nicht, daß er den Islam gibt. Lieber begeistert er sich für Europa, als sich für den Terrorismus zu schämen, zumal als Wir der Chefredakteur besetzt ist, der in keinem Leitartikel den Islamfaschismus ausläßt. Auch von den Schweizer Unternehmern wird das Wir verlangen, den Anfängen zu wehren, und dabei jeden Blickkontakt mit dem Islam vermeiden, der erste Reihe Mitte in der Klemme sitzt. Wenn das Wir wieder alles gesagt haben wird, was doch wohl noch gesagt werden darf, werden die Unternehmer den Islam, der hoffentlich nicht wieder beleidigt ist, aufs Podium bitten, damit Wir und der Islam kritisch kopulieren. Beim Bankett werden diejenigen Unternehmer, die den Islam als Tischnachbarn gezogen haben (Aufpreis?), ihn für seine engagierte Rede loben, die zum Nachdenken anrege, und ihn trotz der Bedrohung, die sein Faschismus darstellt, freundlich nach seiner Heimat fragen und ob er zurückkehren wolle. Daß seine Heimat Siegen in Südwestfalen ist, wohin er bestimmt nicht zurückkehren will, wird der Islam wohlweislich verschweigen, weil er bei einem Monatsgehalt Honorar nicht gleichzeitig Wir sein kann. Zuvor werden die Unternehmer bereits halb überrascht, halb erleichtert registriert haben, daß der Islam Wein trinkt, also gar kein echter Islam ist, sondern gemäßigt, sonst würden sie sich nicht trauen, ihn so unbefangen zu befragen, schließlich muß man seit den Karikaturen zumal in der Schweiz vorsichtig sein, wo viel arabisches Geld liegt und das islamic banking blüht. Doch, doch, ich bin hundertprozentig, will der Islam schreien und zum Beweis seine Hose herunterlassen: Nicht nur die Minarette, wie das Wir warnte, nein, auch unsere Schwänze sind Raketen! Ist der Bann einmal gebrochen, wird sich eine Unternehmergattin mit Sicherheit erkundigen, ob seine Frau ein Kopftuch trägt. Ja! würde er dann am liebsten rufen, sogar Tschador, ebenso die siebenjährige Tochter, versteht sich, und saufen tue ich Ihren erlesenen Wein nur, weil ich taqiya übe. Meine Frau ist noch fanatischer, Sie glauben es nicht, aus Islamfaschismus ist sie sogar zur Säuferin geworden. Den Tischnachbarn wird er nicht erklären müssen, daß taqiya die religiöse Pflicht jedes Muslims bedeutet, sich vor Ungläubigen zu verstellen, da das Wir den Begriff in seinem Vortrag übersetzt und islamwissenschaftlich gedeutet haben wird. Was den Islam kühlen Kopf bewahren lassen wird, so daß er weiterhin höflich und vor allem so lobenswert engagiert Rede und Antwort steht, statt wegen der Frau zu heulen, ist nicht nur das Monatsgehalt Honorar. Als zusätzliches Opiat nimmt er stets das Andenken der Eltern und mehr noch des Großvaters, der ihm als Kind den Islam zum Vorbild gab, aber nie verwand, daß der Schwiegersohn die älteste Tochter nach Deutschland entführt hatte statt nach Paris. Gestern zeigte er der Tochter Photos ihrer Vorfahren, aufgenommen an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert. Alle trugen das knöchellange Gewand, in der Mitte immer einige mit Turbanen und langem Bart, Mullahs eben, Ajatollahs sogar: Da kommen wir her, sagte er. Dort sind die Anfänge, die das Wir gemeint haben muß. Abgesehen davon, gibt es noch einen anderen Grund, nach St. Moritz zu fahren. In der Nähe liegt das Grab von Claudia Fenner, an dem er noch nicht gebetet hat. Bevor er die Tochter von der Schule abholt, wirft er den Roman, den ich schreibe, am Montag, dem 21. August 2006, um 12:40 Uhr in den Briefkasten. Morgen wird er auf dem Tisch des Bildhauers und dessen Frau in München liegen, der »Gnädigen Frau«, wie der Freund aus Köln sie auf persisch anredet, und sich noch mehr sorgen. Als sein Büro noch in der Wohnung war, wich der Freund manchmal nach München aus. Mit seiner schönen, knurrenden Stimme, die Vokale bayrisch verdunkelt und so langsam, daß es wie zelebriert wirkt, obwohl es nur sein normales Sprechtempo ist, las der Bildhauer abends die neuen Seiten eines Romans vor, wie der Freund ihn früher schrieb. Die Gnädige Frau war selbst dann fürs Lob zuständig, wenn keins zu vergeben war. Ihr Verlieben stellt der Freund sich immer als Schwarzweißfilm vor, der Satanskerl aus dem niederbayrischen Dorf, Wirtssohn oder Verwandtes, und die Münchner Kunststudentin, bildschön und aus besten orientalischen Verhältnissen, die sich auf einem Feld begegnen, am besten im Winter, wegen der Bildkontraste. Die Freundin, die Bahai ist, drängt ihn, das Gebet zu verrichten. Soweit er es im Räderwerk der täglichen Abläufe merkt, das er der Tochter wegen am Laufen halten muß, ist die Lage prekär. Womöglich in zwei Wochen bereits geht, ißt, furzt, gähnt, klagt, motzt, schnarcht die Frau wieder in der Wohnung, und alles, was er voraussieht, sind verschiedene Varianten eines Desasters, für das es keinen Rückfall braucht. Für die Tochter ist schon das Bisherige zuviel, wie sich gestern abend erwies, als er ihr abends um zehn nicht erlaubte, bei der Frau anzurufen. Er unterstellte der Tochter, die Sehnsucht als Alibi einzusetzen, um nicht schlafen zu gehen. Ihr Wutanfall beweist, daß er sich nicht mehr im Griff hat. Er reagiert falsch, hat das Gespür verloren, um ihre Situation in den Sekundenbruchteilen, die manchmal nur Zeit sind, richtig zu einzuschätzen. Nie zankten sie, und jetzt zum dritten Mal in einer Woche. Das Fatale ist, daß es nicht mehr an der Frau liegt, wie er sich die ganze Zeit beruhigt hatte. Wenn er es nicht bereits war, ist er spätestens über den Sommer zu einem Fall geworden, an dem ihr Therapeut seine Freude hätte. Gleich, was sie sagt, hält er es für eine Lüge, im besten Fall für eine Absicht. Ausgerechnet jetzt, da der Therapeut ihre persönliche Situation für stabil hält und die Entlassung auch deshalb befürwortet, weil der Mann im Angehörigenseminar so fürsorglich auftrat, so verantwortlich, ausgerechnet jetzt zu gestehen, daß er, der Mann, nicht mehr will, nicht mehr kann, nicht mehr hofft und ihr nicht mehr glaubt, wäre für ihre Prognose verheerend. Seine Lügen holen ihn ein. Die Freundin, die Bahai ist, sagt auch, daß es helfe, im Gebet nach Hilfe zu rufen, da man sich so die eigene Bedürftigkeit eingestehe. Nichts anderes tue er doch Tag für Tag, dachte er bei sich selbst. Am Mittwoch, dem 23. August 2006, ist es bereits 12:18 Uhr, und in zweiundzwanzig Minuten ruft das Radio an, um ihn für einen guten Tageslohn zum iranischen Atomkonflikt zu interviewen. Prostitution ist seriös dagegen. 12:22 Uhr: Er starrt auf die Uhr, als sei in nicht einmal einer halben Stunde das Leben vorbei, dabei sind es nur die vier Stunden, seine eigene Bedürftigkeit einzugestehen. »Ich hab solche sehnsucht nach dir«, simst die Frau um 12:23 Uhr. »Bald nehmen wir uns wieder in den arm«, antwortet er um 12:28 Uhr. Fünf Minuten hat ihn die Formulierung gekostet, fünf von siebzehn Minuten. 12:29 Uhr: »Und hoffentlich kann ich dich dann auch bald wieder spüren.« Selbst der Therapeut wunderte sich, daß sie es unabhängig voneinander ablehnten, für die sogenannte emotionale und die sogenannte sexuelle Beziehung ein gemeinsames Kreuz zu vergeben; vielleicht sieht er auch deshalb von der nochmaligen Verlängerung ab, die die Krankenkasse bereits bewilligt hat. 12:35 Uhr. Betrug wäre es, wenn der Mann gleich den Hörer abnähme. Es klingelt. Zuletzt betete er vor Jahren, als im Tadsch Mahal plötzlich Zehntausende Muslime an den Touristen vorbei in die Moschee strömten. Es klingelt immer noch. Er stieg über die Absperrung, zog die Sandalen aus und stellte sich in der letzten Reihe auf, die beim Zurückschauen schon nicht mehr die letzte war. Jetzt hört er jemanden vom Radio auf dem Anrufbeantworter. Jetzt blinkt die rote Leuchte des Anrufbeantworters. Der Eindruck dabei ist primär nicht, mit etwas Höherem verbunden zu sein. Der Eindruck primär ist, mit der Welt zu verbunden zu sein, horizontal. Jetzt klingelt das Handy. Der Eindruck ist, aus sich...


Kermani, Navid
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er u. a. den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2015, den ECF Princess Margriet Award for Culture 2017, den Staatspreis des Landes NRW 2017, den Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg 2020 und den Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels 2021. Zuletzt erschienen bei Hanser Dein Name (Roman, 2011), Über den Zufall (Edition Akzente, 2012), Große Liebe (Roman, 2014), Album (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und Sozusagen Paris (Roman, 2016). Ayda, Bär und Hase (2017) ist sein erstes Buch für Kinder. 2022 folgte Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.



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