Kermani | Morgen ist da | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 6432, 427 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Kermani Morgen ist da

Reden
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-406-76742-5
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Reden

E-Book, Deutsch, Band 6432, 427 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-76742-5
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie bedankt man sich angemessen für einen Preis, der einem zunächst aberkannt worden ist? Wie erklärt man Amerika kurz nach der Wahl Donald Trumps seine Liebe? Was sagt ein Deutscher mit iranischen Wurzeln über Auschwitz? Welche Worte bleiben am Grab des eigenen Vaters? Und kann ein Kölner objektiv bleiben, wenn er über den 1. FC Köln spricht? Navid Kermani scheut in seinen großen Reden keine Herausforderung und fordert damit auch seine Zuhörer heraus, sich von bekannten Denkmustern zu lösen. In seinem ureigenen Spannungsfeld von klassischer deutscher Literatur, islamischer Mystik, amerikanischer Gegenkultur und europäischem Geist findet Kermani immer neue Gedankenbögen, die auch den Leser bis zur letzten Zeile fesseln. So beseelt spricht gegenwärtig kein zweiter Deutscher zu uns, taktvoll und provokant zugleich, mit Pathos, wo es angemessen ist, und in einem Rhythmus, der fast schon Musik ist.

Navid Kermani hat die öffentliche Rede zu einer Kunst gemacht, über die das Land staunt – nicht nur mit seiner berühmten Rede im Bundestag zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes oder der Dankrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche. Immer wieder überraschte er seine Zuhörer, stieß Debatten an, verstörte oder rührte zu Tränen. Das Buch versammelt Kermanis bedeutendste Reden und bringt damit eine der ältesten Gattungen der Literatur zu neuer Geltung.

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Vorwort
Unter allen Formen der öffentlichen Kommunikation scheint mir das Verlesen einer Rede die seltsamste zu sein. Wer ohne Manuskript spricht, sei es von einem Pult aus oder als Teilnehmer eines Podiums, der verfertigt seine Gedanken bei aller Vorbereitung oder Routine doch während des Redens. Er kann auf das Unverständnis, den Zuspruch, die Überraschung, die Langeweile, den Unmut reagieren, die er an den Gesichtern der Zuhörer abliest oder als Zwischenrufe, Applaus, Husten vernimmt. Er kann selbst jenen etwas nachrufen, die vorzeitig den Saal verlassen, und das macht die Rede in vielen Fällen erst recht lebendig, zumal wenn aus dem Protest ein, und sei es hitziger, Dialog wird. Bei einer gewöhnlichen Lesung wiederum gehört es zur Verabredung, daß das Vorgetragene sich nicht unmittelbar an die Zuhörer richtet. Deshalb ist sie den meisten Schriftstellern das angenehmere, ihrer Arbeitsweise eher entsprechende Format. Dem Duktus nach ist die Lesung geschriebenes Wort, und noch in der Modulation spricht der Vorlesende keinen bestimmten Adressaten an. Daher sieht er auch selten auf, um seine Zuhörer anzublicken, also mit ihnen in Verbindung zu treten. Ich selbst jedenfalls neige bei Lesungen instinktiv dazu, mich auf das Buch zu konzentrieren, das vor mir auf dem Tisch liegt, und alles auszublenden, was von außen auf mich einströmt. Schon das Klicken einer Kamera, das mich bei den einleitenden Worten oder dem anschließenden Gespräch mit dem Moderator nicht stören würde, kann so sehr irritieren, daß ich die Lesung unterbreche, um darum zu bitten, daß nicht photographiert wird. Das wirkt dann affektiert, das weiß ich selbst, ist jedoch für die Zuhörer immer noch besser, als wenn ich mich über jedes Klicken ärgere und also abgelenkt bin. Eine geschriebene Rede ist schon im Wortsinn ein Paradox, in der Sache erst recht: Der Redner wendet sich an eine konkrete Zuhörerschaft, die er in der Anrede und im Gestus direkt anspricht. Aber was er scheinbar spontan sagt, hat er sich Wort für Wort vorher überlegt. In gewisser Weise imitiert er den Akt der Rede. Gewiß, der Redner kann vom Manuskript abweichen, wenn ihm ein neuer Gedanke kommt; er kann auf Zuhörer reagieren, die dazwischenrufen oder applaudieren. Aber dann fährt er in der Regel doch fort wie geplant und verliest seinen längst fertigen Text, selbst wenn er merkt, daß andere Worte passender wären. Wird die Diskrepanz zwischen den niedergeschriebenen und den tatsächlichen Gedanken zu groß, kann der Redner das Manuskript auch ganz beiseite legen. Allerdings wird er die Improvisation, da sie neue Unwägbarkeiten mit sich bringt, kaum beabsichtigt haben, als er die Rede verfaßte. Nein, die Absicht beim Verfassen einer Rede ist es, sich so gut in eine Situation hineinzuversetzen, die erst noch bevorsteht, daß man in jedem Augenblick genau das vorträgt, was man auch wird sagen wollen – nur präziser, schöner und tiefgründiger, als es spontan je möglich sein würde. Denn ein Manuskript abzulesen ist mitnichten nur ein Mangel, wie es Rednern gelegentlich vorgehalten wird; die vorherige Verschriftlichung und damit Literarisierung kann auch eine Qualität und bei vielen Anlässen oder für manche rhetorische Talente sogar geboten sein. Die sogenannte freie Rede ist nicht zwingend freier. Soll sie kunstvoll, überzeugend und einprägsam sein, folgt sie schon aus Gründen der Memorierbarkeit rhetorischen, homiletischen Regeln und Topoi, also wörtlich «Gemeinplätzen». Die aufgeschriebene Rede, weil sie komplexere Satzstrukturen und Motivketten erlaubt, erweitert damit im besten Falle auch den Geist. Es ist wunderbar, wenn, sagen wir, im Parlament ohne Manuskript gesprochen wird, und gern nehmen die Zuhörer dafür manche Ungenauigkeit, sprachliche Ungeschicklichkeit oder Polemik in Kauf, die sich im Eifer ergeben. Aber genauso ist es notwendig, daß, sagen wir, in einer Rede über Auschwitz kein Wort unbedacht fällt. Genau genommen handelt es sich um zwei verschiedene Gattungen und versammelt der vorliegende Band keine Reden, sondern Texte, die öffentlich vorgetragen worden sind. Auch wer einen Roman oder Essay schreibt, stellt die Reaktionen seiner Leser in Rechnung. Er hofft die Erwartungen zu kennen, die er bricht, erfüllt oder mißachtet. Das ist beim Verfassen einer Rede nicht anders: Der Redner nimmt bereits am Schreibtisch den Beifall, die Irritation, die enttäuschte Erwartung und selbst den Protest, die er für einzelne Stellen mutmaßt, in den Gedankengang auf. Der Unterschied zum Buch oder Aufsatz freilich ist: Wer eine Rede verfaßt, hat den Vor- oder Nachteil, daß er die Reaktionen live miterleben wird. Er schaut diejenigen an, an die er sich wendet, und merkt in der Regel sofort, wenn sie den Faden verlieren, erzürnen, begeistert sind oder die Augen verdrehen. Wenn es ganz schlimm kommt, wird er den Wunsch verspüren, sich in Luft aufzulösen – was einem Redner leider noch nie vergönnt war. Die Spannung und auch Anspannung, die ich zu Beginn jeder Rede spüre, rühren eben aus der Unsicherheit, ob die Zuhörer den Gedanken, die bereits feststehen, tatsächlich folgen werden – und daß ich auch dann fortfahren muß, wenn sie sich im übertragenen oder wörtlichen Sinne abwenden. Als ich etwa 2015 ans Pult der Paulskirche trat, um mich für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu bedanken, kannten nur einige wenige Freunde, mit denen ich das Manuskript vorab besprochen hatte, das Ende der Rede – also daß ich die Zuhörer auffordern würde aufzustehen, um für Pater Jacques Mourad, Pater Paolo dall’Oglio und die übrigen Geiseln im Irak und in Syrien zu beten oder mit den Wünschen bei ihnen zu sein. So malte ich mir, während ich zu sprechen anfing, in allen Farben die Peinlichkeit aus, daß die Zuhörer trotz meiner Bitte einfach sitzen bleiben würden. Zusätzlich nervös war ich, weil mein Manuskript etwa doppelt so lang war als für die Feststunde und die Sendezeit vorgesehen, und schon mein Laudator unerbittlich überzogen hatte. Ich stellte mir tatsächlich vor, daß zum Schluß meiner Rede kaum noch jemand da sein würde, der aufstehen könnte, und auch das Fernsehen längst abgeschaltet hätte. Erst als ich die Aufmerksamkeit in den Gesichtern der Zuhörer las und als Stille zwischen den Sätzen vernahm, verloren sich die Ängste und gelang es mir, mich auf Pater Jacques Mourad, auf Pater Paolo und die übrigen Geiseln zu besinnen, mit denen ich den eigentlichen, meinen inneren Dialog führte, während ich sprach. Die Kraft, die Liebe und der Mut der Verzweiflung, die die Rede ausgestrahlt haben mag, kamen nicht von mir, sie kamen – so empfand ich es, und das trug mich bis zum Ende und brachte mich dazu, die Erwartungen der Veranstalter, die mögliche Ermüdung der Zuhörer und das Fernsehprogramm zu ignorieren – Kraft, Liebe und Mut kamen von den Gefangenen in Syrien und dem Irak. Das ist nun ein weiteres Paradox, wenn man eine Rede vorträgt, die längst aufgeschrieben ist: So unmittelbar der Redner die Reaktionen erfährt, wird er doch um so überzeugender, je gleichgültiger ihm die Zuhörer werden und je weniger er sich um ihre Erwartungen schert. Daß ein Mensch andere Menschen um so eher erreicht, je näher er bei sich selbst ist, je mehr also die Aussage einem inneren Anliegen entspricht – «hier stehe ich und kann nicht anders» –, habe ich als Zuhörer wie auch als Redner oft erlebt. Das Gegenteil erlebt man gerade an Festtagen oder bei repräsentativen Anlässen häufig – wenn der Redner nicht für sich selbst spricht, sondern als Vertreter einer Nation, einer Religion, eines Konzerns, einer Stadt oder einer Trauergemeinde. Literatur entsteht niemals in Stellvertretung, sie ist maximal individualistisch, ansonsten ist sie nicht. Sie kann gemeinschaftlichen Nöten, Sehnsüchten und Forderungen nur dadurch Ausdruck verleihen, daß sie die denkbar eigensten, von der einzelnen Lebenserfahrung, Persönlichkeit und Situationen geprägten, dadurch unverwechselbaren Worte findet. Je weniger literarisch aber eine Rede wird, je mehr äußere Erfordernisse hineinwirken, Berater, Interessenvertreter, politische Zwänge, kommerzielle Erwartungen, pietätsvolle oder diplomatische Rücksichten, zwischen denen es einen Ausgleich zu finden gilt, desto größer ist die Gefahr von Sprechblasen, Denkschablonen, Allerweltswahrheiten, denen niemand widerspricht und die sofort vergessen sind. Die höchste Kunst der öffentlichen Rede wäre es, im Namen von vielen zu sprechen, aber so, wie es nur ein einzelner Mensch sagen kann, literarisch zu sein und zugleich repräsentativ. Selbstverständlich war mir diese paradoxe Anforderung nicht, und das merkt man vor allem meinen älteren Reden an, von denen deshalb nur wenige in diese Sammlung aufgenommen sind. Das Selbstbewußtsein, auch im Vortrag bei meiner eigenen Sprache zu...


Navid Kermani ist habilitierter Orientalist und lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, etwa den Joseph-Breitbach-Preis, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, den Kleist-Preis sowie zuletzt den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg.



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