Kermani | Sozusagen Paris | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Kermani Sozusagen Paris

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25415-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-446-25415-2
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Schriftsteller hat einen Roman geschrieben über die große Liebe seiner Jugend. Nach einer Lesung steht eine Frau vor ihm, die er nicht erkennt. Aber sie ist es trotzdem. Er ist jetzt Autor, sie ist seine Romanfigur – und aus dem jungen Mädchen von damals ist ganz offensichtlich eine interessante, auch anziehende, aber verheiratete Frau geworden. Die Situation wird etwas komisch: Man setzt sich zusammen, trinkt ein Glas Wein, redet über französische Liebesromane, fragt sich, was man von der Liebe erwartet, wenn man älter geworden ist, Juttas Mann sitzt im Nebenzimmer – wie soll das alles enden? Navid Kermani schreibt einen Liebesroman ganz eigener Art, tiefgründig, überraschend, witzig.
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– Ich mein, gerade als Mutter, ich seh das doch bei meiner Tochter. … halbnackt und mit Nummern behängt ihren von Kotzattacken ausgemergelten, der Fruchtbarkeit und damit der Weiblichkeit beraubten, also zu Kindern gemachten Körper den lüsternen Blicken dauergeiler Männerattrappen anböten. Es sei ein gewaltiger Irrtum, Erotik mit Freizügigkeit zu verwechseln oder Freiheit darin zu sehen, daß man alles darf. Jede Regung, jede Lust, auch jede Freiheit und jeder kreative Akt beruhe zugleich auf der Zügelung, der Beschränkung, der Disziplin, so wie kein Fluß fließe ohne sein Ufer, und wenn sie sehe, wie sich die jungen Mädchen als Lustpüppchen stylen, ja, auch ihre Tochter, habe sie allmählich schon Verständnis … – Gerade als Feministin. – Bist du Feministin? … für alle, die sich der allgemeinen Verfügbarkeit verweigern, ins Kloster gehen, sich ein Kopftuch überziehen oder was wisse sie denn was. Nicht, daß sie das gut finde, gerade wegen der Unterdrückung der Frau sehe sie den Islam schon kritisch, aber sie nehme nun einmal wahr, worauf diese jungen Musliminnen reagieren, und finde die Entweihung des Körpers mindestens so schrecklich, nur daß sie deswegen nicht die Prüderie propagiere wie der Islam … – Der Islam propagiert nicht die Prüderie. – Dann halt der Islamismus. … sondern im Gegenteil Tantra. Es sei ja nicht nur das Privatfernsehen, das Problem habe viel früher eingesetzt, nicht aufgrund, aber als Folge der sexuellen Revolution, die sie im Prinzip natürlich noch immer befürworte. Schon die ganz normale Sprache sei ein einziges Elend. – Schwanz, Scheide, Brustwarze, Hodensack, verkehren, poppen – das ist doch grauenhaft! – Ja gut, aber was soll man denn sonst sagen? Jutta führt als Gegenbeispiel die indischen Ausdrücke an, die übersetzt tatsächlich wie aus einem Gedicht klingen … – Spricht so der ganz normale Inder? – Was weiß ich, wie der normale Inder spricht, darum geht es doch jetzt nicht. … dabei vor zweitausend Jahren bereits präziser als die moderne Wissenschaft gewesen seien. So sage man in der Medizin zu Impotenz »erektile Dysfunktion«, das bedeute wörtlich übersetzt soviel wie »schwellfähige Fehlfunktion«. – Das ist der reine Unsinn! – Aber die Sprache kann doch nicht das einzige Problem sein. Das größere Problem sei, daß die Leute nicht miteinander sprechen, daß sie nicht sagen, was sie möchten, was sie erregt, was sie nicht mögen. Ich hätte ja keine Ahnung, was es nicht alles gibt. Es gebe Feeder, die ihre Freundin mästen, es gebe Objektophile, die sich in ein Auto verlieben, es gebe Kultursodomiten, die nur mit einem Hund oder einer Katze zusammenleben – und gleichzeitig wüßten viele Menschen nicht, wie die Sexualorgane aufgebaut sind, wie sie funktionieren und wo sie liegen. – Nimm mal nur den G-Punkt, ruft Jutta und schaut mich erwartungsvoll an, als sollte ich irgend etwas tun, also den G-Punkt in die Hand nehmen oder ihr geben: Gibt es ihn? – Ja, sage ich so zögernd, daß es wie eine Frage klingt: ja? – Und wo ist er? – Es stimmt schon, rede ich mich mit einem Allgemeinplatz heraus, daß wir den menschlichen Körper, dem wir auf Schritt und Tritt nackt begegnen, eigentlich gar nicht kennen. Ob ich wisse, daß man allein durch das Streicheln der Kopfhaare einen Orgasmus auslösen könne, daß das bloße Streicheln wie Elektrizität wirken könne, wirklich physisch wie Elektrizität … – Das läßt sich messen! – Das läßt sich messen? … wie ein Stromschlag, der den Körper als Zuckung durchfährt. Unbedingt müsse ich mir den neuen Houellebecq besorgen. – Aber dem geht’s doch um was ganz anderes. – Du hast das Buch doch gar nicht gelesen. Der Leser, der sich als Kind genauso wie ich immer gefragt hat, ob die Helden nicht auch mal aufs Klo müssen, nimmt mir nicht ab, daß ich den Abend mit Jutta und gar ihr erregt vorgetragenes Referat allein aus dem Gedächtnis rekonstruieren werde. Und er hat recht, jener Leser oder, um Juttas Feminismus einmal die Ehre zu erweisen, auch jene Leserin: Ich werde unser Gespräch nicht nur verdichten, wie ich bereits einräumte, Sätze und ganze Dialoge von hier nach dort verlegen, manches falsch erinnern oder anderes zuspitzen, in eigene Worte kleiden, die leeren Stellen im Gedächtnis selbst ausfüllen – ich werde auch nachschlagen. – Sie schlagen nach? wird bereits der Lektor fragen, der stets mein erster Leser ist. – Warum denn auch nicht? werde ich antworten und ein Loblied auf die Freiheit des Romanschreibers singen, der alles verwenden kann, was ihn gerade beschäftigt, alles, private Nöte, Steuerbescheide, Todesfälle, Lektüren, Gesprächsfetzen, die er in der U-Bahn aufschnappt, genauso wie seine Kopfschmerzen, Tagesschau oder Ohrwürmer, weil der Roman durch die Totalität definiert ist, die er selbst bei Joyce dennoch verfehlt. Das Referat, zum Beispiel, das stammt in dieser Form gar nicht von Jutta. Jutta hat zwar einen ähnlichen Gedanken formuliert, als wir von Tantra auf die heutige Sexualität kamen, sie hat das Referat auch mit Tantra beendet, aber was dazwischen war, das war deutlich weniger interessant, sondern wirklich wie aus der Illustrierten. – Bist du gemein! wird Jutta schimpfen, die die zweite oder, realistischer, siebte oder achte Leserin sein wird, aber es nicht böse meinen, mehr wie eine Ältere, Erfahrene, Wissendere mit einem Freund schimpft, damit sie ihm den Gefallen tut, sich zu ärgern. – Das ist nun mal mein Geschäft, werde ich mich rechtfertigen und argumentieren, daß sich kein Leser für Literatur interessieren würde, wenn sie die Skrupel hätte, die wir Menschen im Umgang miteinander kennen. Das Referat entspricht also zwar dem, was sie sagen wollte … – Bist du gemein! wird Jutta nochmals rufen und es vielleicht schon ein wenig ernster meinen. – Jetzt warte doch mal. … ist jedoch Wort für Wort abgekupfert wie die Liebesbriefe, die Julien an eine andere Frau schickt, um Mathildes Eifersucht zu wecken. – Du hast doch selbst gesagt, daß ich alles bei Volkmar Sigusch nachlesen kann, werde ich mich auf den Frankfurter Sexualwissenschaftler berufen, der hochangesehen ist. – Ich hab aber nichts von Tantra gesagt, wird Volkmar Sigusch einwenden, wenn er zufällig den Roman liest, den ich schreibe. Jutta fragt, wie wir auf Tantra gekommen sind. Irgendwie von Bolivien, schwindele ich, um nicht daran zu erinnern, daß ich sie auf das Thema gebracht habe, indem ich fragte, so plump, wie es bei ihnen im Bett läuft. Seltsam, daß es ihr zwei Jahrzehnte später schwerfiel zu entscheiden, ob sie in Bolivien glücklich gewesen war, gleichwohl nur von Umständen berichtete, die sie unglücklich gemacht hatten. – Also warst du nicht glücklich? – Nein, ich war schon glücklich. Während ich warte, daß sie von selbst weiterspricht – allein, sie spricht nicht weiter –, bilde ich mir ein zu beobachten, wie sie im Geiste dieses oder jenes Bild ins Gedächtnis ruft, von dem sie mir vermutlich nicht erzählen wird, weil ihr die Situation zu unscheinbar vorkommt, gar nicht richtig erzählbar, nur so ein Gefühl, und dann im Geiste immer wieder zurückkehrt zu dem Sessel, in dem sie sitzt, nein, nicht zum Sessel, – woher will ich das alles wissen, wenn sie nicht weiterspricht? –, zum Arbeitszimmer zurückkehrt, in dem ihr Mann womöglich weiter seine Abrechnungen schreibt, immer wieder vor und zurück, der Mann in Bolivien, den sie erst ein oder zwei Jahre kannte, und der Mann in dem Arbeitszimmer, der ihr wie kein anderer Mensch auf Erden vertraut ist, vertrauter noch als die Kinder, die mit sechzehn nicht mehr dieselben sind, die sie mit acht waren, und in zehn Jahren wiederum andere Menschen sein werden – der noch vertrauter ist als die eigenen Eltern, deren halbes Leben sie lediglich aus dem Familienalbum kennt, und heute sehen sie sich auch nur alle paar Wochen bei Besuchen, wenn man gar nicht zum Reden kommt –, von dem sie jede Pore, jede Redewendung, jede Gewohnheit, den Geruch, den Atem, jede Partikel seiner Haut kennt, jede Öffnung, jede Erhebung, jede Kuhle und alles, was ihn erregt, ja, auch und besonders die Haare, wenn er durch bloßes Streicheln zum Höhepunkt kommt, regelrecht ausflippt, so süß!, in ihren Armen zuckend, keuchend, sich hingebend, nackt, wehrlos und glückselig, der vertrauteste Mensch auf Erden und doch so fremd, vorhin etwa, als sie sich über die Müslischalen stritten oder nicht einmal stritten, oder waren es die Chipstüten?, richtig, die Chipstüten, er genaugenommen nur sein Befremden artikulierte, in höflichsten Worten, mehr war es ja nicht, so fremd in solchen Momenten, die keine Momente sind, vielmehr sich über Tage und Wochen hinziehen, und dabei so korrekt und höflich und distanziert, daß sie ihn am liebsten siezen würde, weil sie nicht in seine Gefühle einzudringen vermag und er nicht in ihre, weil er sie aussperrt aus seinen Gedanken und sie ihn aus ihren, weil er unglücklich ist und sie auch. – Ich war glücklich, aber auch traurig. Oder umgekehrt, keine Ahnung. Einmal kam sie nach Hause, spät, mal wieder hatte nichts funktioniert, Handwerker, Behörden, Besorgungen, sie weiß es nicht mehr, abends dann noch das Gemeindefest, auf dem sie Lose verkaufte, weil sie sich zusätzlich zu allem anderen auch noch in die Nachbarschaft einbringen wollte, um...


Kermani, Navid
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt in Köln. Für sein literarisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis, 2015 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und zuletzt den ECF Princess Margriet Award for Culture 2017. Außerdem wurde er mit dem Staatspreis des Landes NRW 2017 ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei Hanser Dein Name (Roman, 2011), Über den Zufall (Edition Akzente, 2012), Große Liebe (Roman, 2014), Album (Das Buch der von Neil Young Getöteten / Vierzig Leben / Du sollst / Kurzmitteilung, 2014) und Sozusagen Paris (Roman, 2016). Ayda, Bär und Hase (2017) ist sein erstes Buch für Kinder.
Mehr unter: www.navidkermani.de



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