Khan Das Leuchten meiner Welt
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18520-6
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-18520-6
Verlag: Diana
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Irenies Kindheit endet an dem Tag, an dem sie nach Hause kommt und ihre Mutter Yasmeen nicht mehr da ist. Der Vater erklärt nichts, weicht allen Fragen aus. Fünf Jahre vergehen, bis Irenie eine Kiste mit Briefen findet und dem Geheimnis ihrer Mutter näher kommt. Auf der Spur einer verbotenen Liebe reist sie von Amerika bis nach Pakistan, voller Hoffnung, in diesem Sommer Yasmeens Verschwinden endlich zu verstehen.Anrührend und klug erzählt Sophia Khan in ihrem beeindruckenden Debüt von einer geheimen Liebe und deren Folgen für eine ganze Familie.
Sophia Khan wurde 1985 als Tochter einer amerikanischen Mutter und eines pakistanischen Vaters geboren. Sie wuchs in beiden Ländern auf, reiste viel, studierte in den USA und lebt heute mit ihrem Mann in Islamabad. Das Leuchten meiner Welt ist ihr erster Roman.
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1 Ich frage mich, ob Du diese Briefe erhältst, und wenn ja, ob ich Dir noch etwas bedeute. Siehst Du mein Gesicht in den Fensterscheiben? Komme ich Dir an verschneiten Tagen in den Sinn? Ich frage mich, ob Du an mich denkst, wenn Du nachts, wie ich, aus dem Schlaf schreckst und verzweifelt ins Leere greifst. An dem Tag, an dem ich die Kiste finde, weiß ich, dass meine Mutter tot ist. Die Gewissheit kommt wie ein Schlag, der mich betäubt. Ich kauere auf dem dunklen Hängeboden und spüre nur noch die Metallkanten der Kiste, die in meine Schenkel drücken. Es heißt, wenn ein Mensch vom Blitz getroffen wird, kann es eine Weile dauern, bis er begreift, was passiert ist. Angeblich entfernen sich manche Opfer eines solchen kosmischen Zwischenfalls noch ein Stück weit von der Einschlagstelle, bevor sie bewusstlos zusammenbrechen oder Schmerzensschreie ausstoßen. Ich stelle mir vor, dass sie geblendet sein müssen, als hätten sie in ein Blitzlicht geschaut, nur dass ihre Welt so lange weiß und leer bleibt, bis ihr Verstand es endlich schafft, den Schatten wieder Namen zu geben. Seit ich diese Kiste auf meinem Schoß geborgen halte, frage ich mich, ob ich für Jahre ein Echo bewohnt habe. Es ist ein Sonntag im Januar. Schwere Schneefälle haben das ohnehin schon gemächliche Leben von Crawford zum Erliegen gebracht. In Ermanglung einer sinnvolleren Beschäftigung hocke ich wie fast jeden Abend auf dem Hängeboden über dem Arbeitszimmer meines Vaters. In diesen Tagen ist mir der Neigungswinkel seines zurückweichenden Haaransatzes vertraut geworden, ebenso das unregelmäßige Tack, Tack, wenn er tippt – das Zehnfingersystem hat er nie gelernt –, auch die besondere Form seiner Schultern kenne ich in- und auswendig, wie sie nach vorne hängen, wenn er sich an einem Satz festgefahren hat, in dem Buchmanuskript, an dem er schreibt, solange ich denken kann. An diesem Abend scheint er in einer Art Sackgasse gelandet zu sein. Ich spähe durch das Guckloch und sehe zu, wie er mit der Gabel im Reis auf dem Teller Biryani stochert, ein Gericht, für dessen Zubereitung ich den ganzen Nachmittag gebraucht habe. Er schaufelt einen Bissen in sich hinein und schluckt ihn rasch hinunter, ohne etwas zu schmecken. Das Biryani könnte genauso gut vor einer Woche gemacht worden sein. Mit Kochbeutelreis aus dem Supermarkt. Ich richte mich auf, taste nach den Zigaretten und lege dabei die fast leere Flasche Chanel in meinen Schoß, ich will sie in der Dunkelheit nicht verlieren. Unter der Kiste laufen meine Beine Gefahr einzuschlafen, ich ignoriere es. Ich sage mir, wenn ich einfach so bleibe und tue, als wäre dies ein Tag wie jeder andere, weiß ich irgendwann, wie ich mich zu verhalten, wie ich mich zu fühlen habe. Als ich zum ersten Mal hier herauf kam, war alles um mich herum maximal eine Armlänge von mir entfernt. Inzwischen hat das Isoliermaterial begonnen, deutlich unter dem Druck meines Körpers nachzugeben. Auf diese Weise habe ich auch die Kiste entdeckt: Plötzlich ragte eine metallene Ecke aus einer von meiner Schulter geformten Vertiefung. Wie seltsam, dass es einmal Zeiten gegeben hat, in denen ich mich davor fürchtete, hier im Dunkeln allein zu sein. Als mir das lose Brett über der Toilette zum ersten Mal auffiel, hatte ich so große Angst, dass ich mich hier oben lediglich umschaute, mehr wagte ich nicht. Damals war ich elf Jahre alt, und meine Mutter war erst seit etwas über einem Jahr verschwunden. Deshalb war ich in Gedanken noch bei ihr, drückte die Falltür eilig wieder zu und sprang vom Toilettendeckel hinunter. Sie mochte es nicht, wenn ich unsichtbar war, mich in dunklen Ecken verbarg, in die sie nicht sehen konnte. Sie fürchtete nichts so sehr wie das Alleinsein. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass sie tot war. Nach der Schule waren die Nachmittage unten lang und leer. Obwohl sie nicht mehr da war, sah ich das Bild meiner Mutter im Spiegel, den Abdruck ihres Körpers in den Sesseln im Wohnzimmer. Auf dem Hängeboden dagegen war niemand außer mir. Eines Tages bohrte ich zwei weitere Löcher in den Boden: eines über dem Flur, das andere über meinem Zimmer. Stundenlang beobachtete ich von oben das leere Haus in der Hoffnung, dieses Etwas zu erhaschen, das meine Mutter immer noch da sein ließ. Es gelang mir nicht. Stattdessen lernte ich, mein Leben zu führen, ohne tatsächlich in ihm gegenwärtig sein zu müssen. Ich stellte mir die andere Irenie vor, wie sie unten ihrem Leben nachging, sah zu, wie sie ihre Hausaufgaben machte und Bilder für ihre Mutter malte. Aber ich unternahm nie einen Versuch, mir auch die andere Mutter vorzustellen, denn ich wusste, die andere Irenie war sicher, dass ihre Mutter sich in der Küche oder im Bad oder auf der Treppe nach oben befand. Ich lehne mich gegen das Lüftungsgitter der Heizung und zupfe gedankenlos an einem Riss im Isoliermaterial. Mein linker Fuß ist eingeschlafen und streift das kleine Tonbandgerät, das ich hier oben aufbewahre. Ich halte still, aus Angst, es mit einer unfreiwilligen Bewegung umzustoßen. Unter mir rutscht mein Vater auf seinem Stuhl herum, steht aber nicht auf. Ich wünschte, er würde wenigstens furzen oder so was, doch mein Vater ist keiner, der groß furzt. Er seufzt und streckt sich, das ja, aber damit hat es sich auch schon. »Man steckt die Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten«, ermahnte meine Mutter mich jedes Mal, wenn sie mich hinter einer Tür entdeckte. Doch das mache ich im Moment ja auch nicht, nicht wirklich. Ich bin nicht hier oben, weil ich auf einen Furz hoffe. Ich habe über dem Arbeitszimmer meines Vaters ein Loch gebohrt, um ihn auszuspionieren, das schon. Weshalb eilt er jeden Tag direkt nach der Arbeit hinauf? Was gibt es so Dringendes in seinem Arbeitszimmer, dass er schon die Treppe zur Hälfte hinter sich gebracht hat, bevor ich auf sein routinemäßiges Wie-war-es-in-der-Schule antworten kann? Ich dachte ursprünglich, er würde vielleicht geheime Akten über meine Mutter studieren, Telefonate im Flüsterton führen, aus dem Fenster steigen und sich an der Regenrinne hinunterlassen. Vielleicht hoffte ich auch nur, sehen zu können, wie er sein Essen genießt, denn seit meine Mutter nicht mehr da ist, habe ich gelernt, für ihn zu kochen. Aber er tut nichts dergleichen. Er sitzt einfach an seinem Schreibtisch und tippt oder starrt ausdruckslos auf den Computerbildschirm oder schiebt seinen Stuhl zum Fenster, um dort zu lesen. Sein Essen lässt er jedes Mal kalt werden, bevor er es gleichgültig und mit großen Bissen verschlingt. Man spioniert nicht, wenn es nichts zu spionieren gibt. Mein eingeschlafener Fuß erwacht zum Leben und kribbelt, mein Rücken wird langsam steif. Die Kanten der Kiste schneiden in meine Schenkel, aber darum kann ich mich jetzt nicht kümmern. Ich schätze, dass ich seit fast einer Stunde hier oben bin. Normalerweise springe ich nur kurz hoch, mache mein Ding und laufe wieder nach unten, doch mein Winterprojekt für die Schule ist abgeschlossen, meine Freundin Celeste ist in Florida, und ich habe sonst nichts Besseres zu tun. Ich poliere meine Brillengläser und werfe noch mal einen Blick durch das Guckloch. Mein Vater wirkt schlaff. Ich zünde mir eine Zigarette an. Es ist an der Zeit, ihn aufzurütteln. Das erste Mal geschah es durch Zufall. Ich durchwühlte den Schreibtisch meiner Mutter auf der Suche nach einer Sicherheitsnadel und entdeckte dabei den Verschluss einer Parfümflasche, der aus einer Schachtel Papiertaschentücher hervorschaute. Meine Mutter hatte die Angewohnheit, in ihrer Gedankenlosigkeit Dinge an den merkwürdigsten Orten zu verstauen, dort, wo niemand, sie selbst eingeschlossen, auf die Idee käme, nach ihnen zu suchen: Schuhe im Gemüsefach des Kühlschranks, Schlüssel in meinem Rucksack, Parfüm in einer Schachtel Papiertaschentücher. Nach ihrem Verschwinden brachte ich Wochen damit zu, nach dem Parfüm zu suchen. Wenn ich traurig war, hatte sie mich kurz daran riechen lassen – manchmal tupfte sie sogar etwas davon hinter meine Ohren. In meiner Hast, die Flasche aufzuschrauben, verschüttete ich Parfüm auf meine Bluse. Mit einem Mal umgab mich meine Mutter, hielt mich in den Armen, strich über meine Haare, las mir vor dem Einschlafen eine Geschichte vor und gab mir einen Gutenachtkuss. Dann öffnete ich die Augen. Das Zimmer war leer. Stunden später wurde ich auf dem Hängeboden wach, die Parfümflasche noch in der Hand. Selbst jetzt kann ich mich nicht erinnern, wie ich hochgestiegen bin. Als ich meinen Vater ins Arbeitszimmer kommen hörte, robbte ich an das Guckloch heran. Ich weiß noch, dass ich überlegte, ob er meinen Namen rufen und nach mir suchen würde, wenn ich mich nicht meldete. Im Haus war es dunkel, wahrscheinlich nahm er an, dass ich im Nachbarhaus bei Celeste war. Er hatte eine Dose Erdnüsse dabei und vertiefte sich sofort in ein Buch. Als er ein Viertel der Erdnüsse geknabbert hatte, merkte ich, dass ich niesen musste. Um es zu unterdrücken, zog ich die Bluse hoch und presste den Stoff auf meinen Mund, dabei streifte der parfümgetränkte Stoff das Guckloch. Mein Vater ließ das Buch langsam sinken und stand auf. »Yasmeen?«, flüsterte er und schnupperte. Es war das erste Mal seit ihrem Verschwinden, dass ich ihn ihren Namen sagen hörte. Ich wollte hören, dass er ihn immer wieder sagte. Ich wollte sicher sein, dass er sie nicht vergessen würde, selbst wenn er mich vergaß. Mit einem Mal wurde ich wütend auf ihn, weil er meine Mutter hatte fortgehen lassen, weil er nie über sie sprach, weil er tat, als hätte es sie nie gegeben. Ich wollte, dass er sie ebenso vermisste wie ich, dass er ihre Abwesenheit sichtbar betrauerte. Und so fing alles an. Zu Anfang war es nur das Parfüm. Mit den Jahren...