E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Kick Therapeutische Situation und medizinische Ethik
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-043969-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erkenntnisprobleme - Indikation - Dilemmata und Lösungsansätze im Spannungsfeld von therapeutischer Identität und Rolle
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-17-043969-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2 Argumentationslinien für ein Situationskonzept
2.1 Situationskonzept als Voraussetzung der Zusammenführung von subjektiven und objektiven Erkenntnisebenen
Der hier vorgelegte Ansatz beginnt mit der Frage nach der Struktur der therapeutischen Erkenntnis- und Handlungssituation, die historisch herzuleiten und sodann medizintheoretisch zu begründen ist. Von einer solchen klar definierten Perspektive aus ist dann zu prüfen, ob aktuelle ethische und epistemologische Probleme, so die Bewältigung der Dualität von Objektivität und Subjektivität, in einen überzeugenden Begründungszusammenhang zu stellen und überzeugender zu lösen sind. Rekurriert wird auf ein Situationsverständnis, das sich auf anthropologische und phänomenologische Argumente stützt.90 Situationen sind allgemein stets auf implizite Sinnziele hin konstelliert. Das Sinnziel bezeichnet den Beginn und den Verlauf einer Situation. Mit der Erreichung des Sinnziels oder einem Verfehlen eben desselben findet die Situation ihren Abschluss und geht in eine neue Situation über. Situationen sind begrenzte Einheiten von Erleben, Erkennen, Verhalten und Handeln, die durch Zäsuren voneinander getrennt sind. Eine spezielle Situation wird definiert durch ein gegebenes Thema, genauer: wird bestimmt durch Sinnbezug und Wertziel. Die therapeutische Situation wird bestimmt durch ein Erkenntnis- und Handlungsfeld, das mit der Erkenntnis der Not eines Leidenden beginnt, dessen Anruf wahrnimmt und sich als Antwort auf ebendiese Not versteht. In der therapeutischen Erkenntnis- und Handlungssituation sind unterschiedliche Sinnebenen zu berücksichtigen: Die Sinnebene des unmittelbaren empathischen Angesprochenseins durch die Not, die Ebene der distanzierenden, objektivierenden Erfassung von Merkmalen und Symptomen und schließlich die Ebene der personalen Begegnung, die die vorausgegangenen Ebenen mit umfasst. Durch eine solche Beachtung der Erkenntnisebenen der therapeutischen Situation ist die Gefahr einer subjektivistischen oder auch objektivistischen Vereinseitigung der Positionen, wie wir sie auch aus der jüngeren Medizingeschichte91 kennen, zwar nicht völlig gebannt, sie kann jedoch besser erkannt und sodann in einen gesamthaften personalen Ansatz übergeführt bzw. korrigiert werden. Durch einen solchen Ansatz wird es möglich, zugleich die Bedürfnisse des Patienten, seine Subjektseite, zu berücksichtigen und die verallgemeinerbaren, wissenschaftlichen Erkenntnisse,92 basierend auf der objektivierenden Ebene, in ein ganzheitliches, medizinisches Handlungsmodell einzuordnen, das dann erst handlungsrelevant ist. Stets erhebt sich somit die Frage, wie die subjektive und die objektive Ebene zusammengeführt werden können. Eben dies ist aufgrund einer solchen vorgängigen Situationsbestimmung93 möglich, aus der sich die Kriterien für die richtige Anwendung der Methoden, die Begrenzung und den geordneten Einsatz der zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten ergibt. Die seit der Aufklärung sich immer rascher entwickelnde objektivierende Medizin wurde in unterschiedlicher Vehemenz, aber doch stetig, begleitet vom »Aufschrei des Subjektes«94. Dieses Verhältnis von Objektivität und Subjektivität zu klären, ist nur möglich durch eine Erhellung der Beziehung von Arzt, Patient und Krankheit. Nur so ist zu einer Gewichtung der unterschiedlichen Sinnebenen zu gelangen. Weder die subjektive Perspektive des Therapeuten oder des Patienten noch die operationale Objektivierung der Symptome allein genügen dem Legitimationserfordernis ärztlichen Eingreifens. Beide Ansätze sind jedoch als Teilaspekte der ärztlichen Diagnostik und Therapie im Rahmen der therapeutischen Situation unter Beachtung des Verhältnisses von Arzt, Patient und Krankheit unverzichtbare Voraussetzungen legitimen Handelns. Die so konzipierte Situation als eine therapeutische ist somit gelebte Struktur, die die in der medizinischen Praxis über Empathie gewonnenen subjektiven Erfahrungen mit den auf der objektivierenden Ebene erfassten Funktionsstörungen und Symptomen in einer personalen Begegnungsebene zusammenführt. Die Struktur der so gefassten therapeutischen Situation sollte im Weiteren einen Orientierungsrahmen geben für die Anwendung medizinethischer Prinzipien, so etwa derjenigen von Fürsorge und Autonomie, also für den Abgleich ihres Verhältnisses zueinander im ethischen Diskurs im gegebenen individuellen Fall. Dasselbe gilt für das Spannungsfeld von individuellem Wohl und Allgemeinwohl, d.?h. dem verantwortungsvollen Umgang mit begrenzten Ressourcen, ferner dem Umgang mit auf empirischen Daten beruhenden, etwa utilitaristischen Konsequenzen und menschenbildlichen Konstanten (Personwürde). Zwar wird das Problem einer notwendigen Gewichtung der unter Umständen für eine bestimmte Problemstellung zunächst gegenläufigen Prinzipien in herkömmlichen Konzepten natürlich gesehen. Was jedoch fehlt, ist ein überzeugender »methodischer« Zugang, um zu einem notwendigen Abgleich zu kommen. Dies führt zur Verunsicherung in der Praxis der Entscheidung und des Handelns. Der vorgeschlagene Weg, die Bezugnahme nämlich auf die vorgängig zu bestimmende Struktur der therapeutischen Situation, stellt, so ist zu zeigen, den Zusammenhang her für ein ethisch und epistemologisch konsistentes Handlungskonzept, das die empirische Erkenntnislage im individuellen Fall mit dem allgemein anerkannten empirischen Wissensstand und ethischen Grundsätzen verknüpft. Weiterhin ist es möglich, eine solchermaßen konstituierte therapeutische Situation etwa auch im Rahmen einer öffentlichen Institution, eines Krankenhauses oder einer Gesundheitseinrichtung als in besonderer Weise zu schützende situative Einheit zu definieren und, wo nötig, mit guten ethischen und empirischen Argumenten zu verteidigen. Dabei darf im Blick bleiben, dass es hier zugleich um eine situative Einheit oder Substruktur des Gesamtsystems als Vermittlungsbereich zwischen Gemeinwohl und individuellem Wohl geht. Die so definierte therapeutische Situation ist der Bezugsrahmen, der auch seitens der Allgemeinheit zu schützen und insofern mit wirtschaftlichen Ressourcen unter politisch auszuhandelnden Bedingungen zu unterstützen ist. Das eben kann nur nachvollziehbar und transparent werden unter Rückbezug auf den Auftrag und die Grenzen einer therapeutischen Situation. 2.2 Situationsbestimmung als Voraussetzung von Krankheitsbegriff und Indikation
Die Struktur des medizinischen Erkenntnis- und Handlungsfeldes ermöglicht eine maßgebliche Konzeptualisierung von Behandlungsbedürftigkeit und eine Erfassung dessen, was unter Krankheit zu verstehen ist. Der medizinische Krankheitsbegriff ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil sich mit diesem nicht nur diagnostisch-erkenntnismäßige, sondern auch therapeutische Konsequenzen, also ethische Fragestellungen der Legitimierung des Eingreifens und Handelns, verbinden. Im Zentrum steht hier zu zeigen, dass im Rahmen einer als therapeutisch definierten Situation subjektive Sichtweisen und objektivierende Verfahren ins Verhältnis zueinander zu setzen und schließlich zu einem handlungsrelevanten personalen Krankheitskonzept zusammenzuführen sind.95 Krankheit wäre insofern eine leib-seelische Konstellation der Gefährdung und Not, die in einer bestimmten ärztlich-therapeutisch bewusst zu machenden Situation erkannt werden kann. Sie enthält im Allgemeinen den Anruf, die Aufforderung, zu einem kleineren oder größeren helfenden Eingriff, gegebenenfalls Zuspruch. Die Bestimmung von Krankheit in der therapeutischen Situation entspricht einem ganzheitlichen, personalen Erkenntnisvorgang, der sich in dieser Situation seiner anthropologischen, epistemologischen und ethischen Grundvoraussetzungen bewusst werden kann. Dies schließt die Erfassung der subjektiv-objektiven Doppelstruktur von Krankheit und ihrer personalen Dimension stets mit ein. Das eben ermöglicht im Weiteren die Konzipierung der ärztlichen Indikation als einer therapeutischen Offerte unter gleichzeitiger Respektierung einer diskursiven Ausgewogenheit, etwa von Fürsorgeaspekten und Autonomie. Die Indikationsstellung impliziert aus ärztlicher Sicht nicht nur objektive Begründungszusammenhänge. Sie berührt stets auch die subjektiv-empathischen Seiten des Patienten und den situativen Zusammenhang. Eine klar definierte therapeutische Situation gibt zusätzlich die Möglichkeit, die sozialpolitischen Gegebenheiten bzw. Rahmenbedingungen zu erfassen, gegebenenfalls zu...