E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Kirchhoff / Wolf Kriminalprognose und ihre Bedeutung für die Polizei
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-415-07014-1
Verlag: Richard Boorberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Reihe: Kriminalistik und Kriminologie
ISBN: 978-3-415-07014-1
Verlag: Richard Boorberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leitfaden für die Praxis
Die Verfasser stellen verschiedene Arten von Kriminalprognosen vor und erläutern diese anhand von Beispielsfällen. Gleichzeitig arbeitet das Autorenteam die jeweiligen Anwendungsmöglichkeiten für die polizeiliche Praxis heraus. Der Leitfaden enthält außerdem ein Kapitel mit dem Titel "Prognosen im Polizeialltag". Die abgedruckten Checklisten und Formulierungshilfen erleichtern die Umsetzung in der polizeilichen Praxis.
Die Einsatzmöglichkeiten
Die Darstellung der Einsatzmöglichkeiten der verschiedenen Kriminalprognosen geht über den Polizeibereich hinaus und bezieht insbesondere den juristischen und den forensischen Bereich mit ein. Dies ermöglicht eine umfassendere Beurteilung der Prognosen und schärft den "Blick über den Tellerrand".
Das Zusammenwirken von Polizei und Justiz
Eine erweiterte Betrachtungsweise hilft den mit Kriminalprognosen beschäftigten Polizeibeamtinnen und -beamten dabei, Abläufe, z.B. der Justiz, besser zu verstehen und ihre eigene Vorgehensweise auf diese Abläufe abzustimmen. Dadurch gelingt es den Polizeikräften, ihre eigenen Aktenbestandteile rechtssicher zu verfassen und möglichen Einwänden von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, der Staatsanwaltschaft oder von Richterinnen und Richtern zu begegnen.
Relevanz der Kriminalprognose
Die Kriminalprognose ist ein praxisrelevantes Instrument zur Gewinnung von Aussagen zur Kriminalitätsentwicklung im Allgemeinen, zur Entwicklung bei einzelnen Delikten und bei neuen Deliktsformen sowie im Besonderen zur Prognose der personenbezogenen Delinquenz von Einzeltäterinnen und -tätern.
Weshalb sind Kriminalprognosen wichtig für die polizeiliche Praxis?
Kriminalprognosen sind aus Sicht der Autoren auch ein wichtiger Bestandteil der Kriminalwissenschaften. Sie sollen nicht nur die Entstehung von Kriminalität vorhersagen, sondern auch bei der Aufklärung von Straftaten helfen. Das Thema ist deshalb für die gesamte Polizei und auch die Sicherheitsbehörden relevant, sowohl für Kriminologinnen und Kriminologen als auch für Kriminalistinnen und Kriminalisten. Unter den praktischen Einsatz von Kriminalprognosen fällt z.B. die Einführung von Predictive Policing in vielen Bundesländern. In Zukunft wird z.B. durch Smart Home oder Smart Car die Digitalisierung unserer Gesellschaft weiter voranschreiten. Daraus werden sich Prognosemöglichkeiten ergeben, deren Ausmaß wir zurzeit nicht überblicken können.
Aus der Praxis für die Praxis
Die Autoren schreiben insbesondere für die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in der Praxis, aber auch für die Justiz (Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte) sowie für die Polizeiausbildung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
3. Ausgewählte Instrumente der Kriminalprognose und deren Relevanz für die praktische Kriminalistik
Bei der Auswahl der folgenden Darstellung kriminalprognostischer Instrumente wurde auf eine hohe Aktualität der Instrumente sowie eine fachliche Nähe zur Arbeit der Polizei- und/oder Justizbehörden geachtet. Die ausgewählten Instrumente wurden auf ihre Empirie und Gütekriterien hin untersucht. Die dargestellten Ergebnisse beziehen sich dabei auf Begleitstudien sowie Kreuzevaluationen, die von den jeweiligen Urhebern der Instrumente durchgeführt wurden. 3.1 OGRS – Offender Group Reconviction Scale
3.1.1 Verfahren
Das Instrument der Offender Group Reconviction Scale68 wurde in den 1990er-Jahren in Großbritannien entwickelt. Es sollte die bisherigen lokalen Verfahren ersetzen, mit welchen insbesondere Bewährungshelfer das Rückfallrisiko haftentlassener Strafgefangener beurteilten.69 Ziel war es, anhand weniger Eckdaten ein strafrechtsrelevantes Verhalten vorhersagen zu können. Dazu wurden 79.000 Datensätze von Strafgefangenen aufbereitet und in einem Folgezeitraum von zwei Jahren bezüglich der jeweiligen Rückfälligkeit der einzelnen Personen ausgewertet.70 Die so methodisch aufgearbeiteten Daten bildeten die empirische Grundlage für ein Instrument zur Einschätzung einer Basisrate, mit der eine erneute Sanktionierung der evaluierten Person zu erwarten war. Ursprünglich sollte dieses Risikoinstrument die individuelle Begutachtung von Straftätern nur in Form ergänzender Berichte unterstützen. In der Fortdauer seiner Anwendung und Weiterentwicklung konnten dabei immer validere Prognosen und differenziertere Kategorisierungen der zu erwartenden Straftaten getroffen werden. Dieser praktische Nutzwert machte das regressionsanalytische Instrument des OGRS in seiner aktuellen Form zum zentralen Risikoinstrument des Justizministeriums in Großbritannien. Das Verfahren besteht in seiner aktuellen Version aus der Transformation und Verrechnung von insgesamt sechs Items71 zu einer Vorhersage der Rückfallwahrscheinlichkeit.72 Die Items basieren auf Geschlecht, Alter bei Anlasstat, aktuellem Alter, Anzahl früherer Verurteilungen, Alter bei Erstverurteilung sowie dem Typ des Anlassdelikts. Die geringe Anzahl der Items und eine daraus resultierende leichte Erhebung machen die Anwendung des OGRS bedienerfreundlich und ohne psychodiagnostische Vorkenntnisse möglich. Es setzt lediglich die Anlage von vorgegebenen Excel-Tabellen und deren Auswertung anhand eines Algorithmus voraus.73 Einen Vorteil stellt der minimale Zeitaufwand zur Berechnung der „Basisrateneinschätzung“ einer Rückfallwahrscheinlichkeit dar.74 3.1.2 Empirie und Gütekriterien
Im deutschsprachigen Raum wurde die Validität des OGRS lediglich stichprobenhaft im Rahmen einer Studie evaluiert75, allerdings mit einer begrenzten Teilnehmerzahl. Dennoch konnte innerhalb der Studie eine mögliche Anwendung des Risikoinstruments OGRS auch in Deutschland bestätigt werden. Insbesondere unter Anwendung einer längeren Katamnese mit einem Beobachtungszeitrahmen von mehr als zwei Jahren konnten in den benannten Studien valide Vorhersagewahrscheinlichkeiten nachgewiesen werden. Diese Zahlen decken sich mit den Ergebnissen aus Großbritannien, wo der OGRS als Standardprozedere seit seiner Entwicklung in der britischen Justiz sowohl in der Praxis als auch in Studien ständig evaluiert wurde. Insbesondere für die Vorhersagewahrscheinlichkeit einer allgemeinen Rückfalldelinquenz legen die Ergebnisse der Forschung eine stabile Vorhersagewahrscheinlichkeit nahe.76 Bei der Vorhersage spezifischer Delikttypen zeigt sich im Gegensatz jedoch eine signifikante Verschlechterung der Vorhersagekraft. 3.1.3 Anwendungsmöglichkeit für die polizeiliche Praxis
Das Instrument des OGRS weist für die polizeiliche Anwendung einige Möglichkeiten und Anreize auf. So bietet das Verfahren die Möglichkeit, mit empirisch belegter Validität das Rückfallrisiko von strafauffälligen Personen zu berechnen. Einsatz finden könnte es z. B. als Risikoinstrument bei der Beurteilung einer Wiederholungsgefahr im Sinne von § 112a StPO im Rahmen einer Prüfung von möglichen Haftgründen. Der hierfür berechnete Score könnte sowohl die staatsanwaltliche Beurteilung als auch die richterliche Prüfung bei der Vorführung von vorläufig Festgenommenen unterstützen. Die schnelle und einfache Anwendung des OGRS und die Verfügbarkeit der notwendigen Items aus den polizeilichen Informationssystemen wie ViVA, IGVP etc., sprechen für eine Nutzung. Darüber hinaus bietet der OGRS eine valide Möglichkeit, anhand der Rückfallwahrscheinlichkeit eine ED-Behandlung gemäß § 81b 2. Alternative StPO zu begründen oder einen Antrag auf Löschung der erhobenen Daten abzulehnen. Insgesamt bietet der OGRS ein zusätzliches Argument, um auf einer möglichen Rückfalldelinquenz begründete Maßnahmen durchzuführen und Anträge auf richterliche Anordnung zu begründen. Dem entgegen steht einzig die grundlegende Praxis der individuellen Beurteilung von Rückfallrisiken bei der justiziellen Beurteilung, welche eine statistisch erhobene Wahrscheinlichkeit als nicht ausreichend für Grundrechtseingriffe bewertet. 3.2 VRAG – Violence Risk Appraisal Guide
3.2.1 Verfahren
Wie der OGRS wurde auch der VRAG77 in den 1990er-Jahren als eines der ersten aktuarischen Prognoseinstrumente entwickelt. Ziel war es, das Rückfallrisiko bei erwachsenen Straftätern zu bestimmen, die aufgrund eines Gewaltverbrechens auffällig geworden waren.78 Im Gegensatz zum OGRS sollte hier das spezifische Wiederholungsrisiko für weitere Gewalttaten bestimmt werden. Ausgangspunkt für die Entwicklung des VRAG war die Studie, die die bisherige klinische Beurteilung für ihre nicht standardisierte Auswertung und Interpretation von Informationen aus einer Begutachtung von Straftätern deutlich kritisierte.79 Dieser individuelle Entscheidungsrahmen sollte durch ein standardisiertes, aktuarisches Verfahren begrenzt werden. Wie die anderen aktuarischen Verfahren beruht die Berechnung dabei ebenfalls auf einer Übertragung der aus dem Aktenstudium gewonnenen Informationen in vorgegebene Tabellen. Eine Besonderheit des VRAG ist dabei die Aufnahme klinisch-psychologischer Beurteilungen in die Items der Risikobewertung.80 Von der ursprünglichen bis zur heutigen Version wurden Ersatzskalen entwickelt, um ein Fehlen der psychologischen Begutachtung auszugleichen.81 Hierdurch will man eine erleichterte Anwendung, auch für medizinisch nicht ausgebildete Personen, ermöglichen. In seiner Anwendung ist der VRAG ähnlich dem OGRS einfach und mit geringem Zeitaufwand zu erstellen. Unter Zuhilfenahme standardisierter Fragebögen werden Informationen aus den Fallakten in Summenwerte addiert und anhand empirisch erhobener Risikogruppen bewertet und beurteilt. Es findet ein Vergleich der bewerteten Person mit den bekannten Straftätergruppen und dem dort bekannten Rückfallrisiko statt. Hierdurch kann der VRAG das Rückfallrisiko für Gewalttaten sowohl für Rohheitsdelikte als auch Sexualdelikte, bei denen der Täter Kontakt mit seinem Opfer hat, bestimmen.82 Nachteilig für das Verfahren ist, dass die gezogene Stichprobe in der Mehrheit aus erwachsenen, männlichen Tätern zusammengesetzt ist. Dadurch ist aufgrund der abweichenden Korrelationen eine Anwendung bei jugendlichen oder weiblichen Delinquenten nur eingeschränkt möglich.83 3.2.2 Empirie und Gütekriterien
In zahlreichen Studien wurde die Reliabilität des VRAG und seiner Einschätzung des Risikos erneuter Gewalttaten bestätigt.84 Dabei legt die gleichbleibende Validität in verschiedenen Kulturkreisen und juristischen Hintergründen eine Anwendbarkeit des VRAG auch in Deutschland nahe. Eine Studie zu Deutschland selbst existiert allerdings nicht. Darüber hinaus wird das VRAG-Verfahren unter dem Blickpunkt seiner statischen Bewertung des psychologischen Profils der Beurteilten kritisch gesehen. Eine dynamische positive Entwicklung beispielsweise durch therapeutische Maßnahmen findet keinen Widerklang in der Auswertung des VRAG. 3.2.3 Anwendungsmöglichkeit für die polizeiliche Praxis
Wie auch der OGRS, bietet der VRAG durch seine einfache Durchführung und schnelle Anwendungs- und Auswertungszeit Potenzial für die polizeiliche Nutzung. Zudem lässt das Verfahren eine Risikoeinschätzung in den sensiblen Bereichen der Gewalt- und Sexualdelikte zu, die mit Blick auf den Opferschutz und die Prävention als Bereiche von besonderem Interesse für die Polizei zu sehen sind. Die bereits im OGRS genannten Nutzungsmöglichkeiten liegen auch dem VRAG zugrunde. Die Aufnahme eines psychologischen Gutachtens in die Items würde die Anwendung zeitaufwändiger und nur unter Zuhilfenahme klinischer Kooperation realisierbar machen, wenn noch keine psychologische Begutachtung der beurteilten Person vorliegt.85 Diese Problematik könnte aber durch den Einsatz von Ersatzskalen gelöst werden. Die auch hier negative Betrachtung seitens der Justiz rein empirischer Prognosen zu Rückfallwahrscheinlichkeiten als Grundlage von Grundrechtseingriffen86 steht einer Anwendung kritisch entgegen. Diese Einschätzung könnte durch die Integration von psychologisch-klinischen Items gemildert werden. 3.3...