Kisch | Der rasende Reporter | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 445 Seiten

Reihe: Kisch bei Null Papier

Kisch Der rasende Reporter


Überarbeitete Fassung
ISBN: 978-3-96281-685-8
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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Reihe: Kisch bei Null Papier

ISBN: 978-3-96281-685-8
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
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Fassung in aktueller Rechtschreibung Mit einem Vorwort von Kurt Tucholsky Egon Erwin Kisch gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände wurde er auch als 'der rasende Reporter' bekannt. 'Schreib das auf, Kisch!' wurde zum geflügelten Wort in den 1920ern. Lesen Sie hier 48 seiner gelungensten Reportagen und Essays. 'Reportage ist eine sehr ernste, sehr schwierige, ungemein anstrengende Arbeit, die einen ganzen Kerl erfordert. Kisch ist so einer.' [Kurt Tucholsky] Mit 238 Fußnoten Null Papier Verlag

Egon Erwin Kisch (eigentlich Egon Kisch; 1885-1948) war ein deutschsprachiger Schriftsteller, Journalist und Reporter. Er gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände ist er auch als 'der Rasende Reporter' bekannt.

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Unter den Obdachlosen von Whitechapel
Auch die Män­ner und Bur­schen, die in schmut­zi­gen Fet­zen in den Hau­sto­ren und Fens­tern der Lum­pen­quar­tie­re Ost­lon­d­ons zu se­hen sind, sind schon be­dau­erns­wert ge­nug. Aber sie ha­ben we­nigs­tens ihre Schlaf­stel­le, sie ha­ben doch das Glück, sich in den nied­ri­gen Stu­ben mit ei­ni­gen an­de­ren Schlaf­ge­nos­sen auf den Fuß­bo­den bet­ten zu dür­fen, sie ha­ben also im­mer­hin ein Heim. Sie sind reich ge­gen die Ob­dach­lo­sen, die sich müde durch die Schlamm­dis­trik­te schlep­pen; hoff­nungs­los hof­fen sie, von den an­de­ren Ar­men ei­ni­ge Pence zu krie­gen, da­mit sie nicht auf dem Em­bank­ment1 an der Them­se im Fros­te näch­ti­gen müs­sen. Und die­se Al­le­relends­ten der Elen­den sind noch in Ge­sell­schafts­schich­ten ge­teilt, noch un­ter die­sen Ob­dach­lo­sen be­ste­hen Ver­mö­gens­un­ter­schie­de. Wer sie­ben Pence er­bet­telt hat und sie für das Nacht­la­ger zu op­fern be­reit ist, kann in ei­nem der fünf Lord Row­ton Lod­ging Hou­ses2 oder in ei­nem der vom Lon­do­ner Coun­ty Coun­cil3 er­rich­te­ten Bru­ce Hou­ses ein Käm­mer­chen mit Bett und Stuhl mie­ten; wem der Tag nur sechs Pence be­schert hat, kann im Volk­s­pa­last Lo­gis be­zie­hen und sich bei et­was Fan­ta­sie in einen Klub ver­setzt glau­ben. Al­lein wer selbst die­se spär­li­che Zahl von Pfen­ni­gen am Abend nicht bei­sam­men hat und gar nicht dar­an denkt, in den »Ca­su­al Wards«4 das biss­chen Nacht­quar­tier am Mor­gen mit har­ter Stein­klopf­ar­beit zu be­zah­len, der zieht in ei­nes der acht Lon­do­ner Heils­ar­mee-Nachta­sy­le, von de­nen na­tür­lich das Whi­techap­ler die trau­rigs­ten Gäs­te be­her­bergt. Al­l­abend­lich wankt ein Zug müh­se­lig, schmutz­star­rend, frie­rend, al­ters­schwach und not­ge­beugt in die Midd­le­sex Street, die am Sonn­tag der Tan­del­markt mit lau­tem Ge­wo­ge er­füllt. Hier steht an ei­ner Stra­ßen­e­cke das Asyl der Heils­ar­mee. Mein Ko­stüm war mir fast über­trie­ben zer­fetzt er­schie­nen, als ich es an­ge­legt hat­te. Ein Blick auf mei­nen Nach­bar be­lehr­te mich ei­nes Bes­se­ren. Der Mann, der hier vor der Ein­gangs­tür in sei­nen Lum­pen den Dienst ei­nes Heils­ar­mee-Funk­tio­närs ver­sah, hielt mich auch noch der Fra­ge wert: »Bett oder Prit­sche?« »Um drei Pence.« »Also Prit­sche. Die Trep­pen hin­un­ter.« So stei­ge ich denn die Stu­fen zur Un­ter­welt hin­ab, wäh­rend die Rei­chen, die im Ver­mö­gen von fünf Pence wa­ren, es sich oben im Schlaf­saal gut ge­hen las­sen kön­nen. Am eng ver­git­ter­ten Schal­ter, wo mein Name in das Lo­gier­buch ein­ge­tra­gen wird, be­zah­le ich mei­ne Mie­te und er­hal­te eine Quit­tung dar­über mit der Bett­num­mer 308 zu­ge­wie­sen. Dann tre­te ich in den Ver­samm­lungs­saal ein: ein drei­e­cki­ger, großer Kel­ler­raum, von Rei­hen grob ge­zim­mer­ter Bän­ke er­füllt. An der Wand ein Po­di­um mit ei­nem von Wachs­lein­wand be­deck­ten Har­mo­ni­um – an­schei­nend ist der Abend­got­tes­dienst schon vor­bei. Die Keller­de­cke ist von sechs Ei­sen­trä­gern ge­stützt, längs der Wand ver­lau­fen Heiz­röh­ren. Was die Stadt in ih­ren tiefs­ten Ab­grün­den nicht mehr zu hal­ten ver­moch­te, was selbst Whi­techa­pel, die­ses Asyl der De­s­pe­ra­dos al­ler Welt­tei­le, nicht mehr auf­zu­neh­men ge­wagt hat­te, was zu Bet­tel und Ver­bre­chen nicht mehr ge­eig­net ist, scheint hier ab­ge­la­gert wor­den zu sein. Da sit­zen sie und ver­der­ben die war­me Luft. Der eine schnallt sei­nen Holz­fuß ab und lehnt ihn an die Bank. Der an­de­re macht In­ven­tur, ei­ni­ge hun­dert Zi­ga­ret­ten- und Zi­gar­ren­stum­mel ne­ben sich aus­brei­tend. Ei­ner holt aus sei­nem Schnapp­sack die Din­ge her­vor, die er wahl­los aus dem Rinn­stein auf­ge­le­sen: Stücke al­ten Bro­tes, den Rumpf ei­ner Pup­pe, zu­sam­men­ge­ball­te Zei­tun­gen (er glät­tet sie sorg­fäl­tig), den Rest ei­ner Bril­le, das Ru­di­ment ei­nes Blei­stif­tes. Ei­ner bin­det sein Bruch­band zu­recht, ei­ner wi­ckelt sei­ne Fuß­lap­pen ab, ei­ner ver­daut hör­bar – alle Sin­ne wer­den gleich­zei­tig ge­fol­tert. Die Mehr­zahl der Gäs­te sind Grei­se, mit grau­en Haar­sträh­nen, zer­zaus­tem Bart und Au­gen, die sich nicht mehr zu der Ar­beit auf­raf­fen kön­nen, einen Blick zu tun. Teil­nahms­los star­ren sie ins Lee­re. Nur wenn ein Es­sen­der oder et­was Ess­ba­res in den Bann­kreis die­ser Au­gen kommt, fla­ckert in den mat­ten Pu­pil­len Le­ben auf, und sie rich­ten sich gie­rig, nei­disch, sehn­süch­tig auf den Schmaus. Am Schal­ter der Kan­ti­ne hängt ein Zet­tel, auf dem steht, zu wel­cher Stun­de Mahl­zei­ten er­hält­lich sind, je­doch man kann die Schrift nicht le­sen, denn eine Ar­mee von Mau­er­as­seln hockt auf dem Pa­pier. Der Kan­ti­neur ist ein­äu­gig. Vi­el­leicht ist er – wie die meis­ten Funk­tio­näre der Heils­ar­mee – frü­her selbst ein Ob­dach­lo­ser ge­we­sen und hat in ei­ner der blu­ti­gen Schlach­ten, die im Be­reich des eins­ti­gen Jago Court5 noch heu­te manch­mal ent­bren­nen, sein Auge ver­lo­ren. Nun reicht der be­kehr­te Po­ly­phem den Hung­ri­gen Spei­se und Trank. Ein Stück Brot kos­tet einen Far­thing6 – die Schei­de­mün­ze, die man im üb­ri­gen Eng­land gar nicht mehr kennt, hat hier ih­ren Geld­wert. Jede der üb­ri­gen Spei­sen ist für einen hal­b­en Pen­ny zu ha­ben. Auf Tas­sen auf­ge­schich­tet, lie­gen ge­räu­cher­te und ge­sal­ze­ne He­rin­ge, aus ei­nem Kes­sel wird ein Blech­ge­fäß mit Sup­pe ge­füllt, aus ei­ner Schüs­sel reicht man dem Käu­fer eine Por­ti­on Ha­fer­schleim, und aus ei­nem an der Wand ste­hen­den Kup­fer­sa­mo­war strömt beim Auf­dre­hen des Hah­nes fer­ti­ger Tee. Von Zeit zu Zeit schrei­tet ein Asyl­be­diens­te­ter die Ban­krei­hen ab, um die ge­leer­ten Scha­len zu sam­meln. Ich hat­te schon ge­hofft, auf mei­ner Bank an­ge­klei­det schla­fen zu kön­nen. Aber es soll­te schlim­mer kom­men. Um halb neun Uhr abends schrillt ein Pfiff, und es wird ver­kün­det: »In die Schlaf­sä­le.« Bar­fü­ßig, die zer­trüm­mer­ten Stie­fel in der Hand, ver­las­sen alle das Lo­kal. Der Ein­bei­ni­ge macht sich nicht erst die Ar­beit, sei­nen Holz­fuß wie­der an­zu­schnal­len: müh­se­lig hüpft er auf ei­nem Bein hin­aus. An der Stie­ge müs­sen wir ei­nem Kon­trol­leur un­se­re Zet­tel vor­zei­gen. »Beds No. 211-321« steht auf ei­ner Tür. Wir sind also zu Hau­se. Der Raum, den wir be­tre­ten, ist ge­nau über un­se­rem bis­he­ri­gen Auf­ent­halts­ort ge­le­gen und die­sem voll­stän­dig kon­gru­ent. Jetzt aber ha­ben wir nicht mehr das Ge­fühl, in der Höl­le zu sein; jetzt sind wir in ei­ner Gruft. Vom Ge­wöl­be bren­nen zwei oder drei Lämp­chen düs­ter und ge­spens­tisch auf lan­ge Rei­hen schwar­zer Sär­ge her­ab, die auf nied­ri­gen Ka­ta­fal­ken ru­hen. Das sind – um sich des auf die Türe ge­schrie­be­nen Eu­phe­mis­mus zu be­die­nen – die »Bet­ten«. (Der Mann am Ein­gang hat­te mir von Prit­schen ge­spro­chen.) Ich rech­ne im Kop­fe: 321-211 = 110. Hun­dert­zehn enge Tru­hen, mit ei­nem Über­zug aus schwar­zer Wachs­lein­wand be­deckt. Dar­un­ter ein Bet­tuch und ein Pols­ter aus Drell­lei­nen,...



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