E-Book, Deutsch, 424 Seiten
Klees Grenzpaare in der traumasensiblen Paartherapie
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7495-0435-0
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Krisen meistern mit dem Integritätskompass Mit Online-Materialien
E-Book, Deutsch, 424 Seiten
ISBN: 978-3-7495-0435-0
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete AINS Traumatologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Allgemeines
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Familientherapie, Paartherapie, Gruppentherapie
Weitere Infos & Material
1. Wenn Liebe zum Trauma wird: Risikoanalyse für Grenzpaare
„Beziehungsstörungen betreffen die (beiden) beteiligten Personen und eine gestörte ‚Verbindungsstelle‘. Die Störung ist nicht nur auf ein Problem in einem Mitglied der Beziehung zurückzuführen, sondern eine pathologische Interaktion von jeder der an der Beziehung beteiligten Personen.“1 Wie ich schon sagte: Immer mehr grenzverletzend miteinander umgehende Paare suchen wegen ihres Beziehungsstresses eine Paartherapie auf. Leider fällt speziell die Grenzpaarproblematik den Fachpersonen viel zu spät auf, und von den Paaren werden gut gemeinte und aufrichtige Hilfeangebote angezweifelt und infrage gestellt. Oder sie bewirken das Gegenteil dessen, was sie eigentlich bewirken sollten: sie schaden. Im Interesse eines von Anfang an strukturierten und stringenten Beratungsprozesses beginne ich dieses Kapitel mit einer vorläufigen Definition der Grenzpaarthematik und mit Beobachtungen aus der Praxis. Ob man es mit einem Grenzpaar zu tun hat, zeigt sich erfahrungsgemäß bereits während der Auftragsklärung. Therapeut:innen und Fachpersonen fühlen sich oft von der Vielzahl der problematischen Themen des Paares überwältigt und von den überhöhten Erwartungen geradezu überfahren. Ein klarer Rahmenvertrag bietet hier Schutz vor Ausuferung, Eskalation und Grenzüberschreitung. Für Grenzpaare ist ein solcher Vertrag häufig eine Zumutung, während anders strukturierte Menschen diesen Minimalbedingungen ohne Bedenken zustimmen können. Erst danach kann eine umfassende Diagnostik erfolgen, um nach möglichst objektiven Kriterien einen gemeinsamen Handlungsplan zu entwickeln. Nach den Formulierungsvorschlägen für eine Vertragsvereinbarung erkläre ich die diagnostischen Instrumente: Auftragsklärung, den Test zur Persönlichkeitsstruktur und das strukturierte Interview mit dem Paar. Sie alle liefern uns wertvolle Informationen über das Ausmaß einer möglichen Grenzpaardynamik, und mit der gebotenen Vorsicht können wir anschließend mit dem Paar alles besprechen. Das Wissen über Grad oder Schwere hilft beiden Seiten – dem Paar und der Fachperson –, sich für oder gegen die gemeinsame Beratung zu entscheiden. Um die Beziehungskonstellationen von grenzverletzten Menschen zu verstehen, nutzen wir die vier inneren Anteile, die auch in der traumasensiblen Paartherapie helfen, Beziehungsmuster, Interaktionen und Herausforderungen für die Partnerschaft zu verdeutlichen. Von einer seelisch gesunden Beziehungsfähigkeit ausgehend, skizzieren wir außerdem das Ziel der Behandlung. Für die traumasensible Paartherapie hat sich das Traum(a)-Haus-Konzept bewährt. Den Grenzverletzungen in der Kindheit werden wir jedoch eher mit der Metapher des Aufwachsens in einer Geisterbahn gerecht; dies klingt weniger nach Störung, Pathologie oder gar Krankheit. Der Fokus richtet sich so eher auf das Leid und weniger auf individuelles Versagen. Die Geisterbahnmetapher hilft, Ursache und Ausprägung der speziellen Interaktionsstörung bei Grenzpaaren zu verstehen. Wie aber kam ich auf diese Metapher? Einer Klientin waren als Kind von ihrer Mutter zur Bestrafung körperliche Verletzungen zugefügt worden. Von ihrem Partner wurde sie später jahrelang ausgenutzt, was dieser voller Reue zugab. Auch er hatte als Kind furchtbare Qualen erlebt, denn seine Mutter sperrte ihn stundenlang im dunklen Keller ein. Beide hatten keinerlei Ahnung, was gesund und was schädigend für eine Partnerschaft ist. „Wenn man in einer Geisterbahn aufwächst, kommt einem all dieser Horror völlig normal vor,“ meinte die Klientin. Mit dieser Aussage findet sich das Paar in bester Gesellschaft, denn kaum eine traumatisierte Person kennt die Gesetzmäßigkeiten gesunder Beziehungen. Wenn wir uns vorstellen, ein Kind sei in einer Art Geisterbahn aufgewachsen, gelingt es uns, die befremdlichen Verhaltensmuster im Kontext der Paarbeziehung nicht zu stigmatisieren. Den Geisterbahnkindern wurden die Knochen gebrochen, sie wurden in Kisten gesperrt, mussten zur sexuellen Abreaktion herhalten, wurden wie Dienstpersonal ausgebeutet, lebten in einer kalten Garage oder auf dem leeren Dachboden, wurden täglich geschlagen oder wie Püppchen ausstaffiert, zurechtgestutzt, hochgejubelt und wieder fallen gelassen. In dieser oder anderer Weise degradiert, waren sie für ihre Eltern jedoch die Rettung vor den eigenen Abgründen. Für die Kinder wurde es zu etwas ganz Normalem, jederzeit erschreckt, wie ein Gegenstand gebraucht oder als Hilfspolizei benutzt zu werden. Kommen sie im späteren Leben in eine Paartherapie, berichten sie voller Überzeugung, eine ganz normale Kindheit verbracht zu haben. Ihr zentrales Anliegen ist häufig, „das absonderliche Wesen“ des Partners / der Partnerin zu korrigieren: Da werde gelogen, betrogen, gesüchtelt oder gezwängelt. Es werden Schulden gemacht, Kinder schlecht behandelt, Tobsuchtsanfälle ausgelebt, Kontaktsperren oder Stalking-Attacken mit wildem Versöhnungssex ausgeglichen, und man sei nach all dem Hoch-und-runter mit den Kräften am Ende. Um die Besonderheit dieser Beziehungskonstellation für eine gemeinsame Verständigungsbasis und eine fundierte Diagnostik zu erfassen, beschäftigen wir uns in den einführenden Betrachtungen mit folgenden Fragen: Was zeichnet Grenzpaare besonders aus? Welche Bedeutung haben grenzsetzende Rahmenbedingungen? Mit welchem Auftrag erscheinen Grenzpaare? Was ist bei der Diagnostik zu beachten? Der Selbstkonzepttest: Durchführung und Auswertung Das strukturierte Grenzpaarinterview Welche Beziehungsmodelle verdeutlichen Ausgangspunkt und Ziel? Wie sieht das Beziehungsmodell bei Grenzverletzung aus? In diesem Kapitel geht es also um die Grundlagen, die den Beziehungsstil der grenzverletzenden Interaktionsstörung von seelisch gesunden Reaktionen in einer Partnerschaft unterscheiden helfen. Hierzu habe ich eine vorläufige Definition des Beziehungsmodells von Menschen mit Grenzverletzungen erstellt, damit wir in etwa wissen, wohin die Reise geht – nämlich in die bizarre Welt grenzverletzender Beziehungserfahrungen. Im Weiteren bezeichne ich diese Paare als „Grenzpaare“. 1.1 Was zeichnet Grenzpaare besonders aus?
Grenzverletzte Personen hatten in ihrer Kindheit keinen eigenen Raum oder keine Möglichkeit zur ruhigen Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Wegen ihrer grenzverletzenden, grenzzerstörenden, ignoranten, missachtenden und ausbeutenden Eltern waren sie nirgendwo sicher und ständig den Vorstellungen, Anforderungen, Projektionen und Stimmungen ihrer Bezugspersonen ausgeliefert. Sie wurden ausgegrenzt, eingegrenzt, eingesperrt und ausgeschlossen; nirgends fanden sie Schutz, und es war ihnen nicht gestattet, Nähe zu suchen, freie eigene Wege zu gehen und vielleicht anderenorts Zuwendung zu finden. Grenzen und Abhängigkeit, Nähe und Schutz hatten wenig Bedeutung, da es kaum Akzeptanz oder Verständnis für das Eigene gab. Später, als Erwachsene, sind in den Paarbeziehungen, die sie eingehen, ebenfalls Grenzverletzungen, unstillbare Sehnsüchte oder Befreiungsaktionen an der Tagesordnung. Sie sprechen nicht darüber, welche Grenzen es in ihrer Beziehung gibt, und wenn sie doch Vereinbarungen treffen, dann nur, um sie früher oder später zu brechen oder zu umgehen. Diese Herausforderungen führen bei Grenzpaaren bisweilen zum Zusammenbruch der kaum herausgebildeten inneren Strukturen. Deswegen können sie sich nicht konsequent an etwas halten, oft nicht einmal daran denken, es zu tun. Andererseits sind Menschen mit einer traumabedingten grenzverletzten Persönlichkeitsstörung grenzenlos in ihren Ansichten, unkonventionell und nicht selten charismatisch. Dort, wo für andere Grenzen sind, gehen sie weiter und sind deshalb offen für neue Wege. Dieser Wagemut, diese Kreativität und Buntheit brauchen konstruktive Bahnen, um in Beziehungen Geborgenheit und Wachstum fördern zu können. Deshalb ist es so wichtig, dass diese Menschen einen schützenden Umgang mit Grenzen schätzen lernen, genauso wie Struktur und Halt bietende Rahmenbedingungen. 1.1.1 Wie wirken Grenzpaare in der Paararbeit?
Grenzverletzende Klientenpaare zeigen eine besondere Art verschleiernder Attacken. Um diese ein wenig besser zu verstehen, will ich einige besonders eigentümliche Situationen auflisten, aus meiner eigenen Beratungspraxis sowie Begebenheiten, die mir von angehenden Paartherapeut:innen berichtet wurden. Situation 1: Gegen Ende der vereinbarten Sitzungszeit – wir hatten gerade die wesentlichen Punkte zur Verantwortungsübernahme aufgelistet – rutschte Margita zunehmend nervös auf ihrem Platz herum. Ich sprach sie an, ob wir uns noch Zeit für ihr Unbehagen nehmen sollten, da sprang die junge Frau unvermittelt auf und verbarrikadierte sich auf der Toilette. Erst einmal beschwichtigte mich Tobias, das sei typisch für seine Partnerin. Doch die Zeit verging, das Sitzungsende rückte immer näher, und Margita machte keine Anstalten, ihre „Trutzburg“ zu verlassen. Ich hatte die Vermutung, dass sie kurz vor Schluss erscheinen würde, um hierdurch eine besondere Aufmerksamkeit zu erhalten. Ich hatte im Anschluss eine private Verabredung und wollte mich deshalb nicht darauf einlassen, gleichzeitig kam ich mir ziemlich herzlos vor. Tatsächlich öffnete Margita die Tür des WCs, als ich bereits an der Haustür stand. Ein wenig fluchtartig verließ ich meine Praxis und brachte nur noch einen höflichen Abschiedsgruß zustande. Während der gesamten Therapiezeit war Margita immer wieder kurz vor dem Zusammenbruch gewesen. Ich konnte sie stets stabilisieren...