E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Klein Die Stadt der Tiere
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86327-105-3
Verlag: BlueCat Publishing GbR
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-86327-105-3
Verlag: BlueCat Publishing GbR
Format: EPUB
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Der König von Kreuzberg
Am südlichen Ende des lang gestreckten Görlitzer Parks bildete ein trüber Wasserlauf die Verbindung zwischen Landwehrkanal und Spree und gleichzeitig die Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Treptow. Etwa zwei Dutzend Gefährte standen dort ohne eine bestimmte Ordnung kreuz und quer zwischen der Uferlinie und der nächstgelegenen Straße herum. An der Gewässerseite bildete eine kleine, von einer alten Esche und einer großen Eiche beschirmte Promenade die Grenze. In der anderen Richtung endete die Wagenburg am Asphalt des Bürgersteigs. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schloss sich eine Häuserreihe an. Einige Wohnwagen waren kaum größer als ein Schäferkarren, andere erreichten die Größe eines Eisenbahnwaggons. Ein paar alte LKWs, deren Aufbauten zu winzigen Wohnungen ausgebaut waren, standen auf dem Gelände, ohne dass ein Parkschein die Dauer begrenzte. Die Räder und Kotflügel waren von hohem Gras und großblättrigen Kletten überwachsen, und die Wagen wirkten wie bunte Blechpilze, die eines Tages zufällig zwischen Sträuchern und Stauden aus dem Boden geschossen waren. Viele Wagen waren bunt bemalt, an einem hing ein Schild mit der Aufschrift Volxküche und auf der Rückwand eines großen Zeltes stand weithin lesbar: Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten. Sandino hätte es etwas anders formuliert: Die Grenze verläuft zwischen denen mit zwei und denen mit vier Beinen. Die Wagenburg war auf keinem Stadtplan verzeichnet und auf keinem Amt gemeldet, aber sie war trotzdem da. Ihre Bewohner lebten aus den unterschiedlichsten Gründen dort, aber die meisten hatten eine Gemeinsamkeit: Sie waren nicht bereit, jede Vorschrift anzuerkennen. Als diese Geschichte begann, waren die Kastanien schon verblüht. Die Tage wurden länger und länger. Der Sommer ließ sich nicht mehr aufhalten, aber die Nächte blieben manchmal noch kühl. Lobo war zu Besuch in der Wagenburg und lag mit Rocky und Erich im Staub. Zusammen blinzelten sie in das milde Licht des Abends und sahen träge zu, wie Sandino ziemlich eilig näher kam. Lobos Statur mit der vom Nacken zum Schwanz etwas abfallenden Rückenpartie und die graubraune Färbung seines Fells erinnerten an einen Wolfshund, aber der Kopf war breiter und die Schnauze stumpfer. Von der Nase bis fast zur Stirn trug er eine breite Narbe und quer über seinen Rücken lief eine Reihe dunkler Streifen, die ihm den Spitznamen »Zebra« eingebracht hatte. Die anderen Hunde hatten keine Ahnung, welche seltsame Mischung von Rassen zu diesem wunderlichen Ergebnis geführt haben mochte. Lobo lebte ohne Zweibeiner und Artgenossen zurückgezogen in einem stillgelegten Fabrikgelände in Schöneweide. Zu Menschen wahrte er stets große Distanz. Nicht einmal die Zweibeiner, die in der Wagenburg lebten, durften ihn anfassen. Manchmal suchte er aber die Gesellschaft der Hunde hier und holte sich nebenbei etwas zu fressen ab. Sandino, der kleine Terrier, hatte seine Artgenossen erreicht. »Gute Fährte!« »Gute Fährte«, erwiderten drei tiefe Stimmen. »Heute Nacht findet an der Feuerstelle eine Versammlung statt«, bellte Sandino. »Wir treffen uns, wenn der Mond am höchsten steht. Kann ich mit euch rechnen?« »Klar«, brummte Rocky gutmütig. »Um was geht’s?«, fragte Erich. »Wahrscheinlich das Übliche.« Lobo gähnte. »Ein Tier ist in Schwierigkeiten und bittet euch um Hilfe.« »So ist es.« Sandino wandte sich ab. »Entschuldigt mich, ich hab’s eilig. Ich will rechtzeitig alle informieren.« Er lief davon. »Was für ein Tier ist es denn diesmal?«, rief Lobo ihm nach. Sandino hielt inne und drehte den Kopf. »Neugierig?« »Ach was.« Lobo tat gleichgültig, aber ihm war anzusehen, dass er sehr gern eine Antwort bekommen hätte. Allem Argwohn zum Trotz konnte er das Interesse an der seltsamen Hilfsbereitschaft der Wagenburgtiere nicht verbergen. »Es ist ein ungewöhnlicher Fall«, bellte Sandino. »Sehr ungewöhnlich. Ich hätte nicht erwartet, dass so jemand sich an uns wendet.« »Na los, sag schon! Was für ein Tier ist es? Hund, Feind oder Beute?« »Komm auch, dann wirst du’s sehen!« »Das fehlte noch.« Lobo sträubte ein wenig das Nackenfell. Der Gedanke, eine Katze zu unterstützen statt zu verjagen oder ein Kaninchen aus einer Notlage zu befreien, statt es zu fangen und zu fressen, war ihm zuwider, und als die Zusammenkunft stattfand, war er längst zur Jagd in sein Revier zurückgekehrt. Mehr oder weniger häufig tauchten in der Wagenburg Tiere auf, die um Hilfe baten, und niemand wurde ohne Beratung abgewiesen. Längst hatte sich weit herumgesprochen, dass dort die unterschiedlichsten Tiere Freundschaft geschlossen und einen kleinen Bund mit großen Zielen gegründet hatten. Sie wollten den schier allmächtigen Zweibeinern eines Tages eine gleichberechtigte Partnerschaft abringen und sie hatten beschlossen, einander zu unterstützen, statt sich gegenseitig aufzufressen. Sandino war der Motor dieses Experiments. Es war seine Idee, dass auch Tiere sich über Artgrenzen hinweg einigen und miteinander leben könnten. Der Treffpunkt lag am straßenseitigen Rand der Wagenburg und war ringsum von Gebüsch und hohem Kraut verborgen. Ein etwa metergroßer Kreis aus Steinen markierte die Feuerstelle. Daneben befand sich ein Streifen Gras mit einigen Baumscheiben und Brettern, die einfache Sitzgelegenheiten boten. Alle menschlichen Bewohner schliefen längst. Noch war Sandino mit dem Besucher allein. Eine nahe Straßenlaterne, das ferne Leuchten der nächtlichen Stadt und die Glut, die von einem abendlichen Feuer übrig geblieben war, sorgten für weiches, mattes Licht. Sandinos gedrungene Terriergestalt zeichnete sich als Schemen auf dem Boden ab. Bei Licht wirkte sein Fell wie ein Flickenteppich mit dichten, kurzen Fasern und gleichmäßigen Anteilen von Schwarz, Weiß und Hellbraun. Der Kopf machte eine Ausnahme. Er war bis auf einen dunklen Fleck um das rechte Auge herum vollkommen weißfellig und nahm Sandino etwas von der Steifheit, die er ausstrahlte, wenn er seine Ohren tütenförmig aufstellte und den kurzhaarigen, auf die Hälfte der ursprünglichen Länge kupierten Schwanz aufrichtete wie ein Lehrer den Zeigestock. Neben dem Terrier hockte ein kleiner, sehr hagerer Schatten mit spitzer Schnauze. Sein Blick war misstrauisch. Die Stimme glich einem heiseren Pfeifen: »Kann ich wirklich jedem hier vertrauen?« »Ja«, bellte Sandino. »Auch den beiden Riesenhunden? Dem Alten und dem Monstrum?« »Ja.« Danach warteten sie schweigend, bis ein schleppendes Tappen Erich ankündigte. Viele Jahre hatte der greise Schäferhund an der Grenze, die Berlin jahrzehntelang geteilt hatte, Wache geschoben. Dann bröckelte das Bollwerk plötzlich, krachte zusammen und verschwand spurlos. Erich verlor seinen Job, irrte eine Zeit lang orientierungslos durch die Stadt und landete irgendwann in der Wagenburg. Hier verbrachte er nun seine alten Tage und wurde immer schwerhöriger und seniler. »Freundschaft, Genosse. Steht ein operativer Einsatz an?« »Vielleicht«, erwiderte Sandino. Als Erich das Tier neben ihm bemerkte, leckte er sich irritiert über die graue Schnauze. »Etwa für die da?« Sandino nickte und Erich bellte ungnädig: »Solidarität hat ihre Grenzen.« Ächzend streckte er neben der warmen Asche alle viere von sich. Als Nächster kam Rocky. Er kroch von allerlei Geräuschen begleitet durchs Gebüsch, blieb an einer Astgabel hängen und schüttelte sich unwillig. Holz knirschte und brach. Rocky war eine riesige Dogge. Jeder Laut von ihm war ein tiefes Grollen, sein plumper Körper riesig, seine Augen trüb wie eine Schlammpfütze. Die Lefzen hingen an ihm herunter wie etwas, das alle Hoffnung verloren hatte. Rocky entdeckte den Gast und starrte ihn einfältig an. »Uff«, grollte er und ließ sich mit einem dumpfen Geräusch neben Erich fallen. Ignaz, der Igel, rumpelte wie ein aufgezogenes Blechspielzeug durch das Gras zum Versammlungsort und stoppte direkt vor Rockys gewaltigem Maul. Blitzschnell rollte er sich zu einem Stachelball zusammen. »Ich bin’s nur«, grollte...