E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Kley / Haber / Vorländer Gesellschaft der Zukunft
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-451-83306-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
38 Ideen für Neues
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-451-83306-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
38 Persönlichkeiten aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens stellen sich zum 70. Geburtstag von Thomas de Maizière der Frage: Wenn ich eine Sache in Politik, Wirtschaft, Kultur, Gesellschaft ändern könnte, was wäre das?
So entstehen offene und nachdenkliche Essays über zentrale Themen unserer Zeit.
Mit Beiträgen von Ralph Brinkhaus, Ulrike Demmer, Kirsten Fehrs, Sigmar Gabriel, Serap Güler, Emily Haber, Stephan Harbarth, Dunja Hayali, Christoph Heusgen, Timotheus Höttges, Wolfgang Holler, Wolfgang Huber, Michael Ilgner, Karl-Ludwig Kley, Ilko-Sascha Kowalczuk, Annegret Kramp-Karrenbauer, Michael Kretschmer, Norbert Lammert, Nathanael Liminski, Bettina Limperg, Klaus Mertes, Friedrich Merz, Hildegard Müller, Sönke Neitzel, Konstantin von Notz, Verena Pausder, Constanze Peres, Karin Prien, Frauke Roth, Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier, Ellen Ueberschär, Arnd Uhle, Kristina Vogel, Jan Vogler, Hans Vorländer, Volker Wieker, Ulrich Wilhelm.
Autoren/Hrsg.
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Deutschland eine neue Verfassung geben
VON ILKO-SASCHA KOWALCZUK
Weltweit sind Demokratie und Freiheit auch dort in Gefahr, wo sie bislang als unerschütterlich galten: in den Staaten der Europäischen Union und in Nordamerika. Der Angriff von Rechtsextremisten auf den demokratischen Verfassungsstaat und die repräsentative Demokratie folgt in allen Staaten mit ähnlichen Strategien und mit Parteien, die als parlamentarischer Arm des Rechtsextremismus auftreten. Schon lange geht es nicht mehr um „Protest“ oder vermeintliche „Wutbürger“, die über einzelne Erscheinungen der Gegenwart empört sind. Die Herausforderungen durch Globalisierung und digitale Revolution stellen eine enorme Überforderung dar. Viele Menschen sehnen sich nach einer vorgeblichen Sicherheit zurück, die es nie gab, die aber im Rückblick oft als solche erscheint. Verunsicherung führt oft zu einfachen Weltsichten, zu einfachen Antworten auf komplizierte Fragen und Zusammenhänge. Im Kern geht es in diesem harten, globalen Kampf um Freiheit vs. Unfreiheit. Der Vernichtungsfeldzug Russlands gegen die Ukraine ist das Symbolbild für diesen Kampf, der mit anderen Mitteln nahezu in jeder westlichen Gesellschaft augenblicklich ausgefochten wird. Politiker und Politikerinnen können dabei eine simple Beobachtung um ihrer Existenz willen als gewählte Bürger nicht offensiv aussprechen: In jeder Gesellschaft sind 15, 20, 25 Prozent der Menschen nicht für die Grundüberzeugungen des politischen Systems ansprechbar. Und doch ist es ihre selbstgestellte Aufgabe, sich immer und immer wieder gerade um diese „Unerreichbaren“ zu kümmern. Warum eigentlich? Und vor allem: Warum wird jene Mehrheit, die sich täglich für den demokratischen Verfassungsstaat engagiert, so oft „stiefmütterlich“ behandelt? Angesichts der Bedrohungen benötigen wir eine Stärkung des demokratischen Selbstbewusstseins jener, die in Deutschland das Grundgesetz stärken und mit Leben erfüllen, die den demokratischen Verfassungsstaat vor den Extremisten schützen wollen. Deutschlands Demokratie ist eine Mehrheitsdemokratie von Demokraten und Demokratinnen – ganz anders als die Weimarer Republik. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Mittel zur Stärkung der Demokraten und Demokratinnen, von Demokratie und Freiheit ein Weg wäre, vor dem fast alle aktiven Politiker zurückschrecken: Artikel 146 des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen. Abstrakt betrachtet spiegelt eine Verfassung Erfahrungen, die geeignet waren, die Integrität des Einzelnen zu verletzen und die politisches Handeln willkürlich erscheinen lassen könnten. Positiv formuliert setzen Verfassungen Normen, die die Integrität des Individuums zu schützen suchen und einen Normenkanon festlegen, dem sich politisches Handeln zu unterwerfen hat. Es geht also darum, Recht und Ordnung zu normieren. Das zu diskutieren, erfolgt nie zur richtigen Zeit, es ist zu grundsätzlich, als dass es in den Alltag welcher Akteure auch immer passen könnte. Nach meiner Beobachtung glauben die meisten Verfassungsrechtler, dass bei rechtlichen Fragen, bei Verfassungsfragen zumal, sie zuvörderst oder gar allein gefragt seien. Das verstehe ich sogar. Vertreterinnen sämtlicher Professionen glauben, ein gewisses Vorrecht auf „ihre“ Betrachtungsgegenstände zu besitzen. Das ist nachvollziehbar. Die „anderen“ freilich sind im demokratischen Diskurs gefordert, diese Selbstsicht zu hinterfragen und durch Einwürfe von außen die Debatte zu schärfen. Als Historiker weiß ich, wovon ich rede. Es gibt wohl kaum eine andere Disziplin, die so selbstverständlich gesellschaftlich permanent in ihrer Deutungshoheit – freundlich ausgedrückt – hinterfragt, tatsächlich als geradezu störend und semiprofessionell hingestellt wird wie die Geschichtswissenschaften. Die Rechtwissenschaften haben es über Jahrzehnte und Jahrhunderte professionell fertiggebracht, eine eigene, von der Alltagswirklichkeit derart entfremdete Sprache zu entwickeln, dass es geradezu anmaßend erscheint, als Uneingeweihter mitreden zu wollen. Der besondere Kniff an dieser Kunstsprache besteht darin, dass sie für den Laien auf den ersten Blick auch noch so aussieht und sich so anhört, als wäre sie verständlich. Das aber trifft auf Verfassungstexte nicht zu – sollte nicht zutreffen, was aber längst nicht mehr so ist. Unser Grundgesetz, einst ein würdevoller Normenkatalog, ist mittlerweile zu einer Ansammlung höchst wichtiger und ungemein unpassender Artikel geworden. Wer immer eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag hinter sich vereinen kann, scheint Grundgesetzänderungen anzustreben. Ich vermute, dieser Flickenteppich hat viel damit zu tun, dass etwa im aktuellen Bundestag 15 Prozent aller Parlamentarier Juristen sind, ein Anteil, der im Vergleich zu den vorherigen Legislaturperioden sogar noch zurückgegangen ist. Was ist der gesellschaftspolitische Sinn einer Verfassung? Es geht um einen Rahmen, in dem sich politisches Handeln vollzieht und der das Individuum schützt, und es geht darum, politische Herrschaft und soziale Machtausübung voneinander abzugrenzen. Je weniger in einer Verfassung festgelegt worden ist, je schmaler also eine Verfassung daherkommt, um so besser – eigentlich. Sie ist immer ein Ausdruck der politischen Ordnung. Sie konstituiert nicht diese Ordnung, sondern umgekehrt: Diese Ordnung schreibt sich ihre Verfassung. In der DDR oder Sowjetunion gab es auch Verfassungen. Spätestens in der Diktatur lernt jedes Kind, dass eine Verfassung ohne die Möglichkeit, deren Gültigkeit und Anwendung unabhängig prüfen zu lassen, keine Verfassung ist. Wir erleben gerade in den USA oder in Ungarn und Polen oder anhand der Debatten in Israel, zu schweigen von Diktaturen wie in Russland, wie problematisch es werden kann, wenn die juristisch obersten Verfassungsschützer nicht mehr die nötige Unabhängigkeit besitzen und die entsprechenden Gremien nicht die gesellschaftliche Diversität wenigstens zu spiegeln versuchen. Als Historiker interessiert mich die Verfassungswirklichkeit weitaus mehr als die Verfassungstheorie. Ich komme zurück auf die Frage, ob es einen richtigen Zeitpunkt für Verfassungsdebatten gibt. Ich blicke dabei auf den berühmten Artikel 146 des Grundgesetzes, der die Geltungsdauer des Grundgesetzes bestimmt: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ 1990 waren sich Politikerinnen und die meisten Juristen einig, dass die Herstellung der deutschen Einheit – egal ob nach Artikel 23 oder Artikel 146 – von einer Verfassungsdiskussion begleitet werden würde. Seit dem Herbst 1989 hatte sich in der DDR eine Verfassungsdebatte entwickelt, die viele Ostdeutsche als überflüssig ansahen. Zwar wünschten sie die schnelle Streichung von Artikel 1 der DDR-Verfassung, die die führende Rolle der SED seit 1968 juristisch festschrieb, was auch am 1. Dezember 1989 geschah. Aber insgesamt war die ostdeutsche Gesellschaft wenig mit juristischen und schon gar nicht mit Verfassungsfragen vertraut. Ihr Erfahrungsschatz hatte in dieser Hinsicht nicht viel aufzubieten. Am Zentralen Runden Tisch konstituierte sich eine Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“, in der Expertinnen und Experten aus Ost und West mitarbeiteten. Selbst Kanzler Kohl erklärte noch am 11. Februar 1990 nach seiner Rückkehr aus Moskau in einem Fernsehinterview, es müsse eine neue Verfassung erarbeitet werden. „Ich bin dafür, daß das, was sich bewährt hat, und zwar auf beiden Seiten, von uns übernommen werden soll. Es gibt auch Entwicklungen in der DDR in diesen 40 Jahren, die es sich sehr lohnt anzusehen. Ich bin ganz und gar dagegen, eine Position einzunehmen, die auf Anschluss hinausgeht.“1 Wenig später erklärte Kohl, die Vereinigung würde nach Artikel 23 zustande kommen. Damit waren Verfassungsfragen scheinbar erledigt. Artikel 146 lautete bis Ende September 1990: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Noch vor dem 3. Oktober 1990 änderte der Bundestag diesen Artikel allerdings, der seither wie bereits zitiert lautet. Die deutsche Einigung blieb in der Bonner Politik folgenlos. Genug Probleme hätte die Bundesrepublik zu bewältigen gehabt, Probleme, die sich seit Jahren angestaut hatten. Da sei eine Verfassungsdebatte nur hinderlich gewesen. Zumal die große Mehrheit der Ostdeutschen nach genau diesem Grundgesetz strebte und die große Mehrheit der Westdeutschen keine Gründe für eine Verfassungsänderung erkennen konnte. Hinzu käme, dass die Volkskammerwahlen im März 1990 als Plebiszit für Artikel 23 Grundgesetz (Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes) galten und es angesichts des engen Zeitplans keine Möglichkeiten für eine neue Verfassung nach Artikel 146 gebe. So wurde damals, so wird heute vielfach argumentiert. Tatsächlich ist in der Volkskammer die DDR-Verfassung mehrfach geändert worden, um neue Gesetze nicht in Widerspruch zu ihr zu bringen. Zwar hatte die erwähnte Arbeitsgruppe vom Runden Tisch bis zum 4. April 1990 eine neue DDR-Verfassung erarbeitet, eine Rechtsverbindlichkeit war damit aber nicht gegeben. Im DDR-Parlament fanden sich dann jenseits von Bündnis 90 und...