E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Klier Wir sind ein Volk! - Oder?
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-451-82126-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Deutschen und die deutsche Einheit
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-451-82126-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Mauer war gefallen, und ein neues, geeintes Deutschland sollte entstehen. Endlich Freiheit, Wohlstand und Demokratie für alle Deutschen! Doch bald schon wich die Freude der Ernüchterung: Arbeitslosigkeit und Unsicherheit holten die Menschen ein. Deutschland vereinigt, aber doch gespalten – wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Im Herbst 2020 liegt die Wiedervereinigung 30 Jahre zurück. Aus diesem Anlass hat Freya Klier, die aktiv und maßgeblich an der Widerstandsbewegung gegen das Regime innerhalb der DDR beteiligt war, Zeitzeugen dazu eingeladen, sich an die Wende mit ihrer Euphorie und an die Entwicklungen danach zu erinnern.
Umbruchzeiten: Zwischen einem vergangenen Gestern und einem unbekannten Morgen befindet sich ein ganzes Volk in einem Ausnahmezustand, schwankend zwischen Angst und Euphorie. 1990 ist die friedliche Revolution gelungen, die Mauer ist gefallen. Doch was kommt nun? Vom Dissidenten und Widerstandskämpfer, vom einfachen Arbeiter bis zum Journalisten oder Politiker: Zeitzeugen aus Ost- und Westdeutschland erinnern sich an eine bewegt Zeit des Umbruchs und daran, was folgen sollte. Dabei steht eine Frage im Hintergrund: Ist die Wiedervereinigung gelungen, oder sind wir immer noch auf dem Weg, an dessen Ende das zusammen kommt, was zusammen gehört?
Mit Beiträgen von Jörg B. Bilke, Heidi Bohley, Helga Druxes, Andreas Dürr, Monika Fabricius, Gesine Keller, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Editha Krummreich, Reiner Kunze, Norbert Lammert, Doris Liebermann, Katharina Oguntoye, Norbert F. Pötzl, Friedhelm Schülke, Rainer Seidel, Peter Tauber, Lothar Tautz, Wolfgang Thierse und Herbert Wagner.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Mein 11. Gebot: Du sollst dich erinnern!
Freya Klier
Wer erinnert sich noch an 1990 – jetzt, im 30. Jahr der Wiedervereinigung? An die Jahrzehnte, die gerade hinter uns liegen, an vierzig Jahre Diktatur? Noch zu Jahresbeginn versuchten DDR-Liebhaber, »den Westen« lautstark für alles verantwortlich zu machen, was im Osten nach dem Mauerfall nicht rundlief, als plötzlich ein berüchtigtes Virus die Welt in die Zange nahm, auch Deutschland. Es wurde ruhig, der Lockdown griff. Ein Riesenhilfspaket wurde geschnürt – das teuerste in der Geschichte des Bundestages, wie wir hörten. Fast jeden Tag gab es Superlative, die Schwarze Null war rasch Geschichte. Die Olympischen Spiele von 2020 wurden kurzerhand auf 2021 verlegt. Und als wäre das noch nichts, wurde das Virus zur Covid-19-Pandemie, und ein europäisches Eislaufstadion musste zum Leichenschauhaus umfunktioniert werden. Die Zahl der Toten stieg rasant, nun schon weltweit. Herdenimmunität. Rettungspakete für Menschen, die plötzlich kein Einkommen hatten. Andere arbeiteten sich halb tot und kriegten den Beifall der Nation. Fast 10 000 Reservisten meldeten sich bei der Bundeswehr, um zu helfen – Unterstützung im Sanitätsbereich, bei der Logistik. Wir alle – Junge und Alte – haben völlig neue Erfahrungen gesammelt. Wir haben uns kennengelernt, in einer Ausnahmesituation. Und irgendwie lief es bisher ziemlich gut. Ist es das, warum ich so gerne in Deutschland lebe? Anfangs erging es mir wie in Shakespeares »Sommernachtstraum« – nur andersherum: Statt des Ausbruchs wilder Leidenschaft wurde ich über Nacht minimalistisch. Mein erster Gefängnisaufenthalt fiel mir ein: Als ich 18 Jahre alt war, fand ich mich nach einem missglückten Fluchtversuch in einer Zelle wieder, in der gar nichts mehr war – kein Mensch, kein Buch, kein Blick nach draußen, keine Uhr, kein Stift, kein Blatt Papier. Statt einer Toilette nur noch ein Blechkübel … Und keine Klinke mehr. So ging es wohl einigen Hunderttausenden, die zuvor in einem DDR-Gefängnis saßen. Dagegen war jetzt auch der strengste Lockdown der blanke Luxus. Und als man sah, wie die Flüsse plötzlich sauberer wurden, machte sich gar ein gutes Gefühl breit. Irgendwann eröffnete ein jüdischer Fotograf eine Ausstellung, ohne physische Zuschauer. Zu sehen waren die Portraits jener Menschen, die am Jom-Kippur-Tag in der Synagoge in Halle saßen, als ein Rechtsextremer versuchte, die Tür aufzuschießen. Die Zeit vor Corona kam plötzlich massiv in meine Erinnerung. Noch im Januar 2020 schien die Welt in Ordnung. Bundespräsident Walter Steinmeier traf sich mit Bürgerrechtlern und ausgewählten Schülern, um den 30. Jahrestag der Stürmung der Stasi-Zentrale in Berlin zu begehen. So kam die Geschichte nach dem Mauerfall wieder hoch. »Du sollst dich erinnern«, heißt mein 11. Gebot. Und ich habe immer wieder guten Grund, ihm zu folgen. Wie begann zum Beispiel das Jahr 1990, wie kam es zur Währungsunion und dann vor dreißig Jahren zur deutschen Einheit? In Berlin waren es Hunderttausende aus Ost und West, die gemeinsam den Jahreswechsel 1989/90 am Brandenburger Tor feierten – dort, wo zuvor noch der Todesstreifen verlief. Doch geriet der Wahnsinn rasch außer Kontrolle: In schwindelerregender Höhe turnten Feiernde auf der Quadriga. Dann stürzte ein Gerüst ein: 300 Verletzte, ein Toter. Trotz der Tragödie aber ging das Feiern weiter … War das ein Omen? Auf den Straßen ging es längst um die Einheit Deutschlands. Über den Runden Tischen aber schwebte eher die Drohung als die Verheißung. Aus dem Osten flohen jetzt Familien mit Koffer und Kind; die West-Berliner Turnhallen waren voll mit Flüchtlingen. Die tolle Stimmung des Mauerfalls war irgendwie weg. »Das Beste an der DDR ist ihr Ende«, befand ich 1990 beschwörend, doch das sahen etliche Agierende nicht so. Was aber sollte es anderes geben als eine Vereinigung, was war die Alternative? Allein der ostdeutsche Verwaltungsapparat war 1990 fast hundertprozentig mit Personen besetzt, die sich durch eine besondere Nähe zum SED-Regime ausgezeichnet hatten. Zudem nutzte die Regierung Modrow den entstehenden Personalbedarf geschickt, um ein ganzes Heer zuverlässiger Genossen und Genossinnen auf einer der zentralsten Drehscheiben einer Gesellschaft zu platzieren: Mit Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit wurden hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter nicht nur zügig in Schulen, sondern auch auf Arbeitsämter umgesetzt. Der Schaden, den sie dem Land nach dem Mauerfall zufügten, ist bis heute nicht wirklich erfasst. Bei der ersten breiten Überprüfung im Jahr 1995 stellte sich heraus, dass von 38 ostdeutschen Arbeitsamtsdirektoren 28 stasibelastet waren. Im Januar 1990 fand der 1. DDR/BRD–Studentenkongress statt – zunächst in Düsseldorf, Mitte Februar dann in Leipzig. Das Motto: »Wider die Vereinigung – unser Haus heißt Europa«. Die Studenten aus dem Osten beeindruckte in Düsseldorf am meisten, dass hier überall Kopierer herumstanden. Ansonsten war die Veranstaltung an Peinlichkeit und Unwissen schwer zu überbieten: Die Ost-Studenten – besonders seit dem Mauerbau ausgewählt nach politischer Bravheit – orientieren sich nicht an den großen Leipziger Demos im Herbst 1989, sondern an einer sowjetisch gestalteten Großdemonstration in Berlin mit dem zweithöchsten Generaloberst der Staatssicherheit Markus Wolf an der Spitze. Die anwesenden West-Studenten wiederum konnten überhaupt nur ihr demokratisches System denken, nicht aber eine Diktatur. So viel Blabla hatte man von Studenten des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht erwartet … Doch insgesamt waren sie einander fremd – die Rhein- & Ruhr-Deutschen und die Oder- & Elbe-Deutschen. Ich schrieb im Februar 1990: »Menschen stehen einander gegenüber, die sich kaum kennen und doch gegenseitig beteuern, es solle nun zusammenwachsen, was zusammengehört. Sie besinnen sich darauf, ein Volk zu sein, verweisen auf ihre Verwandtschaft, auf eine fernere, doch gemeinsame Vergangenheit, die gleiche Sprache. Doch schon im Akt des Wiedererkennens spüren sie auch das Fremde, das zwischen ihnen steht.« Die führenden Genossen gründen GmbHs und schaffen beiseite, worüber sie im Frühjahr 1990 noch die Macht haben. Als klar wird, es werde zur deutschen Einheit kommen, wird DDR-Geld massenhaft nach Moskau umgeschaufelt – das kann man dann Ende Juni prima umrubeln, wenn es zur absehbaren Währungsunion kommt. Straßen, Plätze und Schulen werden teilweise umbenannt: Der Leipziger Karl-Marx-Platz wird wieder zum Augustusplatz; den Rotstift her für Thälmann-, Pieck- und Leninstraße. Nicht überall natürlich. Dort, wo die Genossen noch an der Macht sind – im neuen Gewand – bleibt alles beim Alten … Auch die Fluchtwelle Richtung Westen bleibt, und die verschärft das Arbeitskräfteproblem im Osten dramatisch. Und keineswegs alle kriegen im Westen jetzt eine »Buschzulage«, weil man sie loswerden will. Eine Geschichte habe ich persönlich mitverfolgt, eine signifikante: So wird Prof. Dr. Werner Mendling, ein Wuppertaler Gynäkologe und angesehener Oberarzt, vom Osten aus gebeten, die frei werdende Stelle des Chefarztes in Frankfurt/Oder zu übernehmen. Der Chefarzt geht in Pension und redet ihm freundlich zu. Also zieht Gynäkologe Mendling voller Pioniergeist mit Frau und Sohn nach Frankfurt/Oder. Die ehemalige Bezirksstadt der DDR war der Standort einer SED-Parteischule, eines Armeesportklubs, einer Zentrale des DDR-Leistungssports und der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit. Die Mendlings kaufen ein Siedlungshaus aus der Nachkriegszeit, unterstützen die Kultur der Stadt und sind mit ihren Nachbarn, einem Ingenieursehepaar aus der DDR, schon bald befreundet. Nein, Chefarzt Prof. Dr. Mendling kehrt nicht den eitlen Wessi heraus. Doch bringt er einen Hauch von Weltläufigkeit an die polnische Grenze. Er zieht einen großen Medizinerkongress an Land, für den sich auch Berlin beworben hat. Ärzte und Wissenschaftler aus aller Welt treffen in Frankfurt/Oder ein, 110 Vorträge sind anberaumt. Das kulturelle Rahmenprogramm dafür stellt das Ehepaar selbst auf die Beine; die Gäste lernen Schloss Neuhardenberg kennen und andere preußische Güter samt zugehöriger Geschichte. Die Ärzte schwärmen sehr nach ihrer Abreise, Mendlings aber stellen ihr kulturelles Rahmenprogramm und damit ihre monatelange Vorarbeit dem Kulturamt der Stadt und dem Tourismusamt zur Verfügung, die selbst nicht viel auf die Beine stellen. Und deren Reaktion? Eine schmallippige Eingangsbestätigung, sonst nichts. Auch die Nadelstiche der Genossen nehmen zu: Irgendwann muss sich der Chefarzt vor dem obersten Klinikdirektor (der übrigens einige Jahre später als Stasi-Mitarbeiter enttarnt wird), dem Verwaltungschef und der DDR-Justitiarin dafür rechtfertigen, dass er sich über den Ausleihzettel eines Fachbuches mokiert hat, auf dem 1996 noch immer »Staatsbibliothek der DDR« steht … Ganz schlimm wird es, als die Frau des Arztes ein Buch über ihre Erlebnisse in der Stadt schreibt. Plötzlich kursieren in der Gynäkologischen Klinik anonyme Briefe. Zettel liegen im OP-Saal herum mit Texten wie: »Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es andersrum.« Längst spürt der Arzt aus Wuppertal, was DDR bedeutet, wieso fast vier Millionen Bürger aus dieser Zwangswelt geflohen sind. Vielleicht hätten der Arzt und seine Frau standgehalten, doch da ist noch die sozialistische Sippenhaft: Ihr zwölfjähriger Sohn wird plötzlich demonstrativ schlecht benotet. Es häufen sich die...