E-Book, Deutsch, Band 1, 384 Seiten
Reihe: Judith-Krieger-Krimis
Klönne Der Wald ist Schweigen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97401-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 1, 384 Seiten
Reihe: Judith-Krieger-Krimis
ISBN: 978-3-492-97401-1
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Sonntag, 26. Oktober
Sie sehen die Frau, sobald sie die Lichtung erreichen. Sie kniet und erbricht sich. Die Wiese ist sumpfig, Grashöcker ragen daraus hervor wie strohige Perücken. Egbert Wiehl drückt seiner Frau das Pilzkörbchen in die Hand und versucht, so schnell wie möglich zu der Fremden zu gelangen, ohne nasse Füße zu bekommen. Ein sinnloses Unterfangen, es hat tagelang geregnet. Die Frau ist noch jung und hat einen blonden Pferdeschwanz. Sie schreit leise auf, als sie Egbert Wiehl wahrnimmt, und plötzlich weiß er nicht mehr, was er sagen soll. Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie Hilfe? Beides ist offensichtlich, denn es ist ein kalter Morgen und trotzdem kauert die Frau mitten in einer schlammigen Pfütze. Eine Sportlerin. Er zwingt sich, nicht auf ihre langen, muskulösen Beine zu starren, die in einer engen schwarzen Trikothose stecken. Die Frau versucht, etwas zu sagen, aber ihre Zähne klappern zu heftig. Es stinkt nach Erbrochenem. Die Frau hat sehr runde, grasgrüne Augen. Von ihrem Kinn hängt ein Spuckefaden, den sie offenbar nicht bemerkt. Jedenfalls macht sie keine Anstalten, ihn wegzuwischen. Egbert Wiehl hat das Gefühl, dass sie sich vor ihm fürchtet, und geht in die Hocke. »Haben Sie etwas Falsches gegessen? Pilze vielleicht? Sind Sie gestürzt?« Er streckt die Hand nach ihr aus und sie zuckt zurück. Im selben Moment wird ihm bewusst, dass er das Fahrtenmesser noch in der Hand hält. »Entschuldigen Sie, das Messer – wir sammeln Pilze, Helga und ich. Es war ja keine sehr gute Pilzsaison, zu kalt, und jetzt ist es schon spät im Jahr, aber …« Er klingt wie ein Idiot. Hastig schiebt er das Messer in den Schaft an seinem Gürtel und lächelt. »Kommen Sie.« Er streckt ihr wieder die Hand entgegen. »Können Sie aufstehen? Sie können doch hier nicht in der Pfütze knien. Sie holen sich ja den Tod.« Statt einer Antwort beginnt die Frau erneut zu würgen, blass und hässlich sieht ihr Gesicht dabei aus, eine verzerrte Maske. »Meine Frau ist dort drüben, wir wollen Ihnen helfen. Ich bin Arzt, wenn auch neuerdings pensioniert.« Hört sie ihn überhaupt? »Kommen Sie«, drängt er einmal mehr. Jetzt setzt die Frau sich mühsam auf. Sie zittert immer noch, hebt aber den rechten Arm und zeigt auf einen Hochsitz, der am Südrand der Lichtung im Schatten der Bäume steht. »D-d-da.« Egbert Wiehl folgt der Linie, die ihr Zeigefinger beschreibt, mit den Augen. Ist sie dort runtergestürzt? Unwahrscheinlich, denn sie konnte laufen, ihre Fußspuren sind gut sichtbar ins nasse Gras gedrückt. Sie führen direkt vom Hochsitz zu der Stelle, wo sie kniet. »Egbert! Ist alles in Ordnung?« Helgas Stimme scheint von weit her zu kommen, mit einer unwirschen Handbewegung lässt er sie verstummen. Er späht zu dem Hochsitz hinüber. Krähen flattern um den hölzernen Ausguck am Ende der Leiter, drängen sich durch die seitlichen Schießscharten, ja, es sieht aus, als ob sie sogar durch das Dach tauchen und sofort wieder herauskatapultiert werden, ein taumelndes, rastloses Auf und Ab. Irgend etwas stimmt nicht. »Warten Sie hier.« Egbert Wiehl steht schwerfällig auf. Hitchcocks Vögel fallen ihm ein, er drängt die Filmbilder beiseite, fixiert den Hochsitz. Kein Grund, sich zu fürchten, sagt er sich. Die Frau macht eine Bewegung, als wolle sie weglaufen. Er tätschelt ihre Schulter. »Bleiben Sie hier, ich sehe nach.« Keine Antwort, nur ihr fliegender Atem. Er stapft auf den Hochsitz zu. Der Himmel ist pastellblau und wolkenlos, und die Sonne klettert soeben hoch genug, um die Baumwipfel im Tal rot und gelb aufleuchten zu lassen. Vor zwei Stunden hat Helga Kaffee, Mineralwasser, belegte Brote, Äpfel, eine Tafel Nussschokolade und die Picknickdecke in den Rucksack gesteckt, den er auf dem Rücken trägt. Der Wetterbericht hat einen strahlenden Altweibersonntag versprochen. Die letzte Chance des Jahres, ein paar Reizker zu finden und die Aussicht vom Bärenberg zu genießen. Egbert Wiehl erreicht den Fuß der Leiter und späht nach oben. Die Krähen haben überhaupt keinen Respekt vor ihm. Es sind viele, bestimmt 20 Stück. »Schschsch«, macht Egbert Wiehl, »Schsch.« Er stellt den Rucksack ins Gras und dreht sich um. Beide, Helga und die blonde Sportlerin, stehen nun nebeneinander und beobachten ihn. Es sieht aus, als ob Helga die Fremde festhält. Im selben Moment bemerkt er den Gestank. Süßlich. Faulig. Kranke und Sterbende riechen manchmal schlecht, aber doch nicht so. Verwesung, signalisiert sein Hirn. Vor 40 Jahren hat er das zuletzt ähnlich intensiv gerochen, als sie im Keller des Universitätsklinikums Leichen sezieren mussten. Es gab keine Klimaanlage und man konnte nie sicher sein, was einen erwartete, wenn man die Toten aus ihren Formalinbädern hob. Egbert Wiehl späht ins Unterholz, kann aber nichts Ungewöhnliches erkennen. Er versucht, möglichst flach zu atmen. Der Gestank wird schlimmer, je höher er klettert. Die schwarzen Vögel stürzen krächzend aus dem Himmel und taumeln wieder empor. »Schsch«, macht er erneut, aber erst als er ganz oben angekommen ist, fliegen sie weg. Das Blut rauscht in seinen Ohren. Sein Mund ist trocken, die Zunge ein pelziges Tier. Das, was die Krähen zurückgelassen haben, liegt auf der hölzernen Sitzbank. Es stinkt gotterbärmlich. Es ist nackt und zerfressen. Schutzlos. Im Dach des Hochsitzes fehlen Bretter. Egbert Wiehl schluckt angestrengt. Nur das Haar der Leiche sieht noch menschlich aus. Es ist seidig und blond, wie das der Sportlerin. *** Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger reitet wieder. Sie galoppiert durch einen Sommerwald, in weiten Sprüngen, die sie wiegen, bis sie vergisst, dass sie und das Pferd zwei Wesen sind. Ein Schimmel. Er spricht zu ihr in einer Sprache, die sie intuitiv versteht. Eine dunkle Stimme, tief in ihr drin. Es tut weh, weil es so nah ist. Irgendein Ich von ihr weiß die ganze Zeit, dass sie nur träumt, und registriert das Telefon, aber sie hört trotzdem nicht auf, den Pferdehals zu liebkosen. Nicht aufwachen müssen. Niemals mehr. Geborgen sein, gewiegt werden wie ein Kind. Das Klingeln verstummt und wieder gibt es nur den weißen Rücken unter ihr, die Ahnung von Glück. Licht fällt durch die Baumkronen auf das Pferd und tanzt im Takt seiner Muskeln. Irgendwo tief in ihrer Brust lauert der Schmerz. Als sie den Waldrand erreichen, will sie umkehren, aber das Pferd gehorcht ihr nicht mehr. Ich will das nicht, denkt ihr waches Ich. Will diesen Traum nicht, jedenfalls nicht dieses Ende, nicht wieder dieses Ende. Weit entfernt hinter den Feldern duckt sich ein Gehöft ins Tal. Plastikverschweißte Heuballen gleißen daneben, der Landschaft seltsam entrückt, wie eine Installation von Christo und Jeanne-Claude. Der Schmerz in Judiths Brust wird stärker, Panik mischt sich darunter, trocknet ihre Kehle aus. Du träumst, sagt ihre Vernunft. »Du musst suchen«, flüstert der Schimmel. Was denn, will sie fragen, aber da trägt er sie auf einmal vorwärts – so ist es jedes Mal –, schneller und immer schneller und es gibt keine Zügel, nur die Mähne, an die sie sich klammert, den Geruch nach Erde und Pferd und den Wind, der ihr die Tränen in die Augen treibt. Die Angst. Sie beginnt zu fallen. Halt an, ich will nicht zu diesem Hof, versucht sie zu rufen, aber die Einigkeit mit dem Schimmel ist jäh verschwunden und sie findet ihre Stimme nicht mehr, nur verzweifelte Sehnsucht und das überwältigende Gefühl von Verlust. Im nächsten Moment ist sie allein, im Inneren des Gehöfts. Eine steile Treppe, Dunkelheit, die sie umfängt. Der Geruch ranzigen Drecks. Eine fleckige Matratze. Schmuddelige Tapeten. Irgendwo ist das Opfer. Fleisch und Knochen. Haare. Vergänglich. Zu vergänglich. Dann keine Tür mehr, keine Treppe, kein Entkommen, nur noch ein Raum mit zu niedriger Decke. Wo sind ihre Kollegen? Ein Geräusch vor dem Haus. Galoppierende Hufe. Panik. Das Pferd lässt sie allein. Sie ist allein. Sie hat es nicht geschafft. Wo verdammt noch mal ist die Tür? »Warum bist du nicht gekommen?« Patricks Stimme. Warum kann sie nicht antworten? Warum wäscht diese Panik durch ihren Körper, in jede ihrer Poren? »Ich hab es einfach nicht geschafft.« Ein heiseres Flüstern. Ist das wirklich ihre Stimme? Ihre Lippen sind steif. Sie kann Patricks Antwort nicht hören, weiß nur, dass er da ist, irgendwo hier in diesem muffigen, dunkelbraunen Raum. Die Luft wird knapp und sie kauert auf dem Boden, wittert wie ein wildes Tier. »Patrick?«, flüstert sie. So viel Hoffnung in ihrer Stimme, so viel Sehnsucht. Sie muss Hilfe holen. Nach einer endlosen Zeit entdeckt sie ihr Handy. Es liegt auf einer Fensterbank, hinter der nicht mehr die Wiese mit den Heuballen ist, nicht mehr ihr Pferd. Sie rappelt sich auf und stolpert auf das Handy zu. Aber ihre Finger sind steif und nassgeschwitzt und gehorchen ihr nicht mehr. Katapultieren das Handy mitten in eine bodenlose Schwärze und sie weiß, dass sie verloren hat. Auf dem Anrufbeantworter im Wohnzimmer tutet das Besetztzeichen. Offenbar hat der Anrufer aufgelegt, ohne eine Nachricht aufs Band zu sprechen. Judith Krieger liegt reglos und versucht, ihren Atem zu zähmen. Sie weiß nicht, was schlimmer ist, der Moment im Traum, wenn das Pferd mit ihr durchgeht, die nicht enden wollende Einsamkeit in dem dunkelbraunen Raum oder das Aufwachen. Sie versteht diesen Traum nicht, der sie seit Monaten wieder und wieder heimsucht. Versteht nicht die Sehnsucht und die Intensität. Versteht nicht, was das Pferd bedeuten soll. Von einer kurzen, unerfreulichen Phase in ihrer Pubertät abgesehen, ist sie nie geritten. Sie braucht Kaffee und eine Zigarette. Musik...