E-Book, Deutsch, Band 6, 432 Seiten
Reihe: Judith-Krieger-Krimis
Klönne Die Toten, die dich suchen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97515-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 6, 432 Seiten
Reihe: Judith-Krieger-Krimis
ISBN: 978-3-492-97515-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1. Tag
Montag, 4. Mai
Judith
Sie folgten dem Pfad, den das Absperrband vorgab, ließen die Kollegen zurück. Ihr Gejohl, ihre Zoten. Judith hob den Daumen und lief schneller. Der Hof schien sich zu verengen. Mauern, die näher rückten und den Tag schluckten. Sie hörte die Schritte Dinah Makowskis in ihrem Rücken wie ein unstetes Echo, hörte das leise Rascheln ihres Overalls im Takt ihrer Bewegungen. Und ihr Handy vibrierte zum x-ten Mal heute. Weitere Glückwünsche zu ihrem Karrieresprung wohl. Kollegen, die sich plötzlich an sie erinnerten, nun, da sie wieder in Köln war. Hast also doch wieder Sehnsucht bekommen, Krieger. Hältst es nicht ohne Mord aus. Sie ließ das Telefon, wo es war, schickte einen schnellen Blick über die staubblinden Fenster der Lagerhalle, den Stapel modriger Holzbohlen davor, das holprige Pflaster. Löwenzahn blitzte in den Ritzen. Das sah lustig aus. Lauter fette kleine Sonnen, wie sie Kinder mit Wachskreiden malten. Früher hätte sie sich gebückt, die zu pflücken. Das Gebäude am Ende des Hofs war ein dreistöckiger Betonklotz mit Flachdach, die Fenster mit Brettern vernagelt. »Judith. Hallo.« Klaus Munzinger, der Chef der Kriminaltechnik, trat aus dem Eingang. »Klaus.« Sie gab ihm die Hand. »Und ihr seid wirklich sicher, dass ihr unseren Mann habt? Angelo Jaramillo?« »Die Kleidung passt. Die Haare. Und das Tattoo ist eindeutig.« Munzinger bückte sich zu einem seiner zahlreichen Koffer und förderte Mundschutz und Handschuhe daraus hervor. Dinah riss sie ihm förmlich aus der Hand und wich Judiths Blick aus. Im weißen Oval der Kapuze wirkte ihr Gesicht noch dunkler, sehr jung, seltsam nackt. »Alles ok, Dinah?« Dinah nickte, streifte die Handschuhe über. Ihr Fall war das. Sie hatte den vermissten kolumbianischen Geschäftsmann Angelo Jaramillo in den letzten Wochen gesucht und nicht finden können. Und nun war er tot, lag irgendwo in diesem Gebäude. Zwielicht empfing sie drinnen, ein bleiernes Grau, das durch die Bretterverschalungen hereinsuppte. Dort, wo einst Lampen montiert gewesen waren, krümmte sich ein Gewürm nackter Kabel aus den Wänden. Rechts gähnte ein Aufzugschacht, ungesichert und ohne Türen. Das Gebäude stand leer, seit Monaten schon, im nächsten Jahr würde es abgerissen werden. Sie folgten dem Kriminaltechniker zum Treppenhaus und die Stufen hinab. Schritte im Gänsemarsch, das Knistern der Overalls, die Anspannung, die Latexhandschuhe, deren Fingerlinge für Judiths Hände wie immer ein Stückchen zu lang waren. Alles vertraut, als ob sie nie fort gewesen wäre und die letzten vier Jahre sich einfach auflösten. Irgendwo ratterte ein Generator. Unten. Im Keller. Großartig, wirklich. Ein glänzender Start als Leiterin der Vermisstenfahndung. Ein Job für die Lebenden sollte das werden. Doch schon der erste Fall wandelte sich zu einer Todesermittlung, direkt nach ihrer Antrittsrede, noch bevor sie auch nur ihren neuen Schreibtisch in Augenschein nehmen konnte. Guter Witz, eigentlich. Kein Wunder, dass die Kollegen feixten. Nur dass das gar kein Witz war. Die Treppe endete in einem Korridor, an dessen Ende stand eine Tür auf. Licht drang heraus, ein kaltweißes Rechteck, in dessen Widerschein die Wände roh wirkten, wund und die Decke zu niedrig, unwillkürlich zog Judith den Kopf ein. Das nervtötende Rattern des Generators trieb sie vorwärts. Dreckkrumen und Fußspuren auf dem nackten Estrich. Spinnweben, die graue Pelze aus Staub trugen. Irgendwo in Judiths Magen regte sich etwas, sanft wie der Flügelschlag eines Nachtfalters. Ein leises Unwohlsein. Eine Warnung. Weil die Luft schon den Tod trug und stumpf wurde, zählflüssig? Nein, deshalb nicht, damit konnte sie umgehen. Sie trat hinter dem weißen Rücken Klaus Munzingers in den leuchtenden Keller, blieb direkt wieder stehen. Ein rechteckiger Raum. Fensterlos, hoffnungslos, trostlos. Es gab nichts darin, nur die Scheinwerfer der Kriminaltechnik, den Lärm des Generators, den Leichengestank und den Toten. Überfesselung – war das die korrekte Bezeichnung? Judith wusste es nicht, doch ihr fiel keine bessere ein. Ein Bündel Mensch in Embryonalhaltung lag da vor ihr auf dem Estrich, grotesk mit Gewebeband umwickelt. Hinzu kamen Handschellen, Fußschellen und Metallketten, die Hals und Gliedmaßen an einem etwa armdicken grauen Rohr fixierten, das senkrecht hinauf zur Kellerdecke führte. Ein Abwasserrohr vielleicht. Oder ein Heizungsrohr. Aber hier in diesem Keller gab es weder Waschbecken noch Toilette noch einen Heizkörper. Das einzige Zugeständnis an Komfort, das sein Peiniger Angelo Jaramillo gewährt hatte, war die Fleecedecke, auf der er lag. Hellrot mit weißen Punkten. Kindlich. Zu dünn, um zu wärmen. Nein, halt, da war noch etwas. Eine Mineralwasserflasche der Marke JA in der Raummitte auf dem Boden, die ein Plastikaufsteller der Kriminaltechnik als Spurenträger Nummer 3 kennzeichnete. »Verstehst du jetzt, warum wir euch geholt haben?« Munzingers Stimme drang dumpf durch den Mundschutz. Judith nickte und warf einen Blick auf Dinah, die vollkommen still stand, den Blick unverwandt auf den Toten gerichtet. Abwesend oder hoch konzentriert? Was ging in ihr vor? Nicht zu entscheiden, nicht hier, später würden
sie das klären, wenn sie hier wieder raus waren und Dinah den Abschlussbericht verfasste, um die Vermisstenakte Jaramillo der Mordkommission zu übergeben. »Hier entlang, dicht an der Wand bitte.« Munzingers Zeigefinger dirigierte sie näher zum Leichnam. Wie viele Tatorte hatten sie schon zusammen begutachtet? Viele. Zu viele. Bis sie das nicht mehr ausgehalten hatte, keine Leichen mehr sehen wollte. Sehen und riechen und anfassen und in ihre Köpfe hineinkriechen, in ihre tiefsten Geheimnisse und Abgründe. Und in die ihrer Angehörigen und ihrer Mörder. »Bondagetape«, sagte Munzinger hinter ihr. »Also das schwarze Zeug, mit dem man ihn verschnürt hat. Hält bombenfest, funktioniert ohne Klebstoff. Gibt’s in einschlägigen Sexshops, genau wie den Rest des Equipments.« Judith drehte sich zu ihm um. »Nach einer SM-Party sieht das hier aber nicht aus.« »Weiß man’s?« »Ich bitte dich, Klaus. Er trägt Straßenkleidung.« »Ein misslungenes Vorspiel?« »Hier in diesem Keller?« Sie ging in die Hocke, versuchte sich vorzustellen, was hier geschehen war. Sex oder Folter oder etwas völlig anderes? Angelo Jaramillo also. Haare, Statur und Kleidung passten tatsächlich exakt zu den Angaben in der Vermisstenakte. Ein fliederfarbenes Hemd, ein heller Leinenanzug und rehbraune Lederslipper. Schmutzstarr jetzt, verklebt von Dreck, Blut und Exkrementen. Er musste gefroren haben. Er trug nicht einmal Socken. Wieder der zitternde Flügelschlag in ihrem Magen. Warum? Wegen Jaramillos gefesselter Hände vielleicht, die so weit vorgereckt waren wie irgend möglich. Als würde er um etwas bitten. Flehen. Beten. Als wollte er unbedingt etwas erreichen. Vielleicht diese Wasserflasche. Wahrscheinlich sogar. Die Handschellen hatten sich tief in sein Fleisch gegraben. Genau wie dieses Halsband in seine Kehle. Ein Halsband aus Lackleder mit Metallverstärkung und Nieten. Er musste daran gezogen haben, sich dagegen gestemmt, bis zuletzt. Wie ein Tier, das nicht aufgeben kann. Lieber ersticken als sich fügen. War es das, was sie verstörte, diese Vorstellung? Nein, das war es nicht, nicht allein, es war … »Der Ring der O«, sagte Munzinger. »Also dieser Ring in dem kugelförmigen Scharnier auf dem Halsband, durch den die Kette verläuft. In der Szene gilt der als Erkennungszeichen der sogenannten Subs, also als Symbol der Unterwerfung …« Ein Schrei unterbrach ihn. Dinah torkelte gegen ein Scheinwerferstativ. Die Lampe fiel und zerbarst, bevor sie das auch nur begriffen. Und schon lag auch Dinah am Boden, krümmte sich, presste die Hände vors Gesicht und würgte. »Raus hier, sofort raus!« Munzinger riss sie wieder hoch. Dinah wimmerte, keuchte, bemühte sich zu gehorchen. Erbrochenes quoll unter ihrem Mundschutz hervor, das sie mit hektischen Bewegungen aufzufangen suchte. Munzinger fluchte und zerrte sie Richtung Tür, stolperte über ein Stromkabel. Das Licht schien zu verwirbeln, zu fallen, als auch der zweite Scheinwerfer kippte. Im Aufspringen sah Judith die Schatten ihrer Kollegen über die Wand fliegen. Es sah auf eine verrückte Art schön aus. Poetisch. Zwei aufgescheuchte Gespensterkrähen, die miteinander tanzten. Und dann war es auch schon vorbei, der Scheinwerfer zerschellte, ein Knall folgte und ein sehr ungesundes Zischen aus dem Generator, noch ein Knall, der verdächtig nach einer Tür klang, die zufiel, sich entfernende Schritte. Schwärze im nächsten Moment. Schwärze und eine vollkommen unwirkliche, schier ohrenbetäubende Stille, weil der Generator verstummt war. »Klaus? Dinah? Hallo?« Keine Antwort. Kein Laut. Nur ihr eigener fliegender Atem. Ihr Herzschlag. Judith rief noch einmal, lauter diesmal. Wieder nichts. Gar nichts. Das war ein Scherz. Ein ganz, ganz, ganz schlechter Scherz, das konnte ja wohl nicht wahr sein. Die mussten die Tür doch gehört haben und also wissen, dass sie hier drin festsaß. Diese Tür, die, wie Munzinger eben noch langatmig erklärt hatte, nur von außen zu öffnen war, weil sie innen nur einen Knauf hatte, keine Klinke, einen Knauf, den er noch nicht fertig untersucht hatte. Der Gestank sprang sie an, krallte sich an ihr fest, ließ sich nicht mehr abschütteln. Die Schwärze verdichtete sich, drohte sie zu...