E-Book, Deutsch, Band 4, 384 Seiten
Reihe: Judith-Krieger-Krimis
Klönne Farben der Schuld
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97404-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 4, 384 Seiten
Reihe: Judith-Krieger-Krimis
ISBN: 978-3-492-97404-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Donnerstag, 23. Februar
Ein leises Stöhnen zuerst. Alterslos, geschlechtslos. Ruth Sollner presst den Telefonhörer fester ans Ohr und fixiert die Kerze, die vor ihr steht. Es ist unmöglich vorherzusehen, was während einer Schicht in der Telefonseelsorge geschehen wird. Jetzt, weit nach Mitternacht, wird es oft ruhig, doch in dieser Nacht schafft sie es nicht einmal, sich neuen Tee zu kochen oder auf die Toilette zu gehen, weil ein Anruf direkt auf den nächsten folgt. Als ob mit dem Beginn der Fastenzeit auch das Leid zu den Menschen zurückgekommen ist, oder zumindest das Bedürfnis es mitzuteilen. »Ja, bitte?«, sagt Ruth. Freundlich, einladend. Wieder ein Stöhnen. Rasselnder Atem. Eine Frau, weiß Ruth plötzlich, noch nicht alt. Wahrscheinlich liegt sie im Bett, schafft es nicht mehr aufzustehen. Von Kummer gebeugt. Oder von einer Krankheit. Ruth schließt die Augen, glaubt am anderen Ende der Telefonleitung die Bewegungen der Anruferin unter einem Federbett zu hören. »Aids, ich habe Aids, und das Kind ist noch klein.« O Gott, was soll man auf solch eine Offenbarung bloß erwidern, überlegt Ruth. Aber dann schafft sie es in der folgenden halben Stunde doch irgendwie, die Anruferin ein winziges bisschen zu ermutigen. Etwas Religiöses will die Frau zum Abschluss des Gesprächs noch hören, ein Wort Gottes, das Hoffnung gibt, und wie schon manchmal in den sehr seltenen Fällen, wenn eine solche Bitte an sie herangetragen wird, wählt Ruth Psalm Nummer 23, ihren persönlichen Lieblingspsalm. »Der Herr ist mein Hirt, mir wird nichts mangeln … Auch wenn ich wandern muss in finsterer Schlucht, ich fürchte doch kein Unheil …« Ruth spricht langsam, aus dem Gedächtnis. Verabschiedet sich dann von der Anruferin und atmet tief durch, froh, dass das Telefon nicht sofort wieder zu klingeln beginnt. Die Kerze flackert im Luftstrom ihres Atems. Sie knipst die Schreibtischlampe wieder an, die sie zu Beginn des Anrufs ausgeschaltet hatte, um sich besser aufs Hören zu konzentrieren, steht auf und geht endlich zur Toilette. Das Handwaschbecken und der Spiegel glänzen, ein leichter Zitrusgeruch hängt in der Luft. Viel zu spät sei ihre Tochter zum Putzen gekommen, hat Marianne berichtet, als Ruth sie ablöste, weit nach 20 Uhr. Aber Beatrice ist gekommen, denkt Ruth jetzt, während sie ihre Hände wäscht und das Waschbecken anschließend mit einem Papierhandtuch poliert. Und allein dafür will ich schon dankbar sein. In der Küche gießt sie eine Kanne grünen Tee auf und isst einen fettreduzierten Erdbeerjoghurt. Das Telefon im Beratungszimmer ist immer noch still, auch aus den anderen Wohnungen und Büros des Gebäudes ist kein Laut zu hören. Ruth tritt ans Fenster und betrachtet die nächtliche Stadt. Kaum jemand weiß, wo sich die Telefonseelsorge befindet, im dritten Stock eines unscheinbaren Mietshauses, unweit des Doms, in einer schmalen Gasse hinter dem Park des Priesterseminars. Doch für die Anrufer ist dies egal. Für sie bleiben Ruth und die anderen Mitarbeiter der Telefonseelsorge nichts weiter als Anteil nehmende Stimmen. Nie stellen sich die Berater mit Namen vor, nie wird die Postanschrift der Telefonseelsorge nach außen kommuniziert. Und auch die Ratsuchenden müssen ihre Identität nicht preisgeben oder fürchten, dass ihre Telefonnummern in der Seelsorge angezeigt werden. Diskretion und Anonymität sind die wichtigsten Gebote für ein vertrauensvolles Gespräch. Ruth wirft den Teebeutel in den Abfalleimer und trägt die Kanne zurück ins Beratungszimmer. Nach dem Morgen im Arbeitsamt und der verunglückten Mahlzeit mit ihrer Tochter, ist sie ins Bergische Land zu ihrer Schwester Eva gefahren, um ihr mit ihren an Windpocken erkrankten Kindern zu helfen. Bis in den Abend hinein hat das gedauert und danach ging es ohne Pause in der Telefonseelsorge weiter und all die Geschäftigkeit hat sie von ihren eigenen Sorgen abgelenkt. Jetzt aber, in der ersten ruhigen Minute, kommen sie zu ihr zurück. Die Angst, dass sie in den nächsten drei Monaten keinen neuen Job finden und dann zur Hartz-IV-Empfängerin wird. Die Angst um Beatrice natürlich, wie eine schwärende Wunde. Die Enttäuschung, dass Stefan seiner Tochter so ein schlechter Vater ist. Beatrice trinkt zu viel, driftet ab und ist völlig unzugänglich für jede Art von Hilfe, sie versucht Ruth zu provozieren, wie es nur geht, so wie mit dem dummen Gerede über den toten Priester. Es war nur eine Provokation, redet Ruth sich zu. Sie ist noch in der Pubertät, und dann der Tod von Jana vor zwei Jahren und ein Vater, der kurz nach ihrem dreizehnten Geburtstag einfach ausgezogen ist. Aber Ruths Unruhe bleibt trotzdem, scheucht sie ein weiteres Mal zu dem Anrufbeantworter des Büros, lässt sie erneut ihr Handy kontrollieren. Nichts, immer noch hat sie keine Nachricht von Hartmut Warnholz. Und warum sollte er dich auch jetzt zurückrufen, mitten in der Nacht, um vier Uhr früh, schilt sie sich stumm. Ihm wird schon nichts passiert sein, er ist sicher einfach nur zu spät heimgekommen, um deinen Anruf noch zu beantworten, jetzt schläft er und meldet sich morgen früh. Ruth trinkt ein paar Schlucke Tee, steht dann wieder auf. Der Umriss des Parks hinter dem Priesterseminar ist um diese Uhrzeit nur als schwarze Fläche auszumachen. Die Fenster der meisten Häuser sind dunkel. Als sei sie ganz allein auf der Welt, fühlt Ruth sich auf einmal. Die einzige lebende Person. Wie hinter Glas gefangen oder in einem Raumschiff. War da gerade ein Geräusch im Treppenhaus, waren da Schritte? Nein, jetzt ist alles still. Ruth setzt sich wieder vor das Seelsorgetelefon, schaltet die Lampe aus und betrachtet den warmen Lichtkegel der Kerze. Wer wird als Nächstes anrufen? Jemand, dessen Stimme und Schicksal sie schon kennt oder ein Erstanrufer, wie die Frau mit der Aidserkrankung? Was wird Ruth hören, wenn das Telefon das nächste Mal klingelt? Weinen, Stöhnen, Fluchen, Beschimpfungen, Klagen? Sie hat auf ganz neue Art zu hören gelernt, seit sie hier arbeitet. Sie hört inzwischen auch das Nichtgesagte, kann erkennen, ob der Ort, von dem aus der Anruf kommt, eng oder groß ist, sie hört auch das, was die Anrufer selbst gar nicht mitteilen wollen: tropfende Wasserhähne, Klospülungen, Flaschenklirren, gedämpftes Schlurfen, fast so, als sei sie blind. Wieder glaubt sie ein Geräusch im Treppenhaus zu hören, doch beinahe im selben Moment klingelt das Telefon. »Telefonseelsorge, guten Morgen.« Ihre Stimme klingt professionell, verrät nichts von der Angst, die ihr plötzlich den Rücken hochkriecht. Der Anrufer ist ein Mann. Betrunken. Vollkommen ungeübt darin, seine Gefühle zu artikulieren. Seine Frau hat ihn nach über zwanzig Jahren Ehe verlassen. Mühsam lockt Ruth das aus ihm heraus, während ein Teil ihrer Sinne sich zugleich auf die Räume der Telefonseelsorge konzentriert. »Warten Sie bitte einen Augenblick, ich bin gleich wieder für Sie da.« Noch nie hat sie ein Beratungsgespräch auf diese Weise unterbrochen, aber jetzt kann sie nicht anders, weil da ganz eindeutig Schritte im Treppenhaus sind. Schritte, die vor der Seelsorge anhalten, und dann folgt ein Kratzen, als ob sich jemand am Schloss zu schaffen macht. Angst, sie hat Angst, was soll sie tun? Die Polizei rufen, Licht machen, fragen, wer da ist? Wie gelähmt steht Ruth in dem dunklen Flur. Wie gelähmt hört sie das leise Kratzen eines Schlüssels – und zuckt geblendet zurück, als die Tür aufschwingt und das Licht angeht. »Frau Sollner!« Unfähig, sich zu bewegen, als stünde ein Geist vor ihr, starrt Ruth den Sprecher an. Es ist Pfarrer Röttgen, der neue Leiter der Telefonseelsorge. Aber auch er erscheint nicht so selbstsicher wie sonst. Nervös befingert er seinen Priesterkragen und sein Atem geht schnell, als sei er gerannt. »Dddas Telefon, ich bin mitten in einem Gespräch, ich wusste nur nicht …«, bringt Ruth heraus und stolpert zurück ins Beratungszimmer. Der Betrunkene ist tatsächlich noch immer in der Leitung, mit großer Mühe gelingt es ihr, sich wieder auf das Gespräch einzulassen. Aber sie ist nicht bei der Sache, fühlt sich noch immer, als sei sie eben tatsächlich einer Gefahr entkommen, und das Wissen, dass jedes ihrer Worte auf dem Flur zu hören ist, macht sie noch nervöser. »Sie brauchen Licht, das hab ich Ihnen doch schon mehrmals gesagt.« Kaum hat sie das Gespräch beendet, schaltet ihr Chef das Deckenlicht ein. Ruth ist zu erschöpft, ihm zu widersprechen. Noch eine Stunde, dann übernimmt die Morgenschicht. Vielleicht hat sie ja Glück, und bis dahin bleibt das Telefon ruhig. »Warum sind Sie so früh schon hier?«, fragt sie, weil ihr unter Röttgens Blick seltsam unwohl ist. »Schlafstörungen.« Er geht zum Fenster, presst seine Stirn an die Scheibe. »Außerdem gibt es hier viel zu tun.« Ruth wartet, bis er nebenan in seinem Arbeitszimmer verschwunden ist, wahrscheinlich, um nach weiteren Versäumnissen seiner Vorgängerin zu fahnden. Dann wischt sie mit einem Papiertaschentuch den feuchten Fleck von der Fensterscheibe, den seine Stirn dort hinterlassen hat. Wieder klingelt das Telefon. Sie setzt sich zurecht, atmet tief durch. »Telefonseel…« »Ich bring dich um!«, zischt eine Männerstimme. »Du mieses Schwein!« *** Um 5.45 Uhr reißt ihn das penetrante Fiepen des Weckers aus einem komaähnlichen Tiefschlaf. Manni wälzt sich aus dem Bett, hält im Badezimmer den Kopf unter den Wasserhahn und steigt in seine Joggingklamotten. Draußen nieselt es. Die Luft ist kalt und jetzt, vor dem Einsetzen des Berufsverkehrs, noch einigermaßen frisch. Manni macht...