E-Book, Deutsch, Band 3, 384 Seiten
Reihe: Judith-Krieger-Krimis
Klönne Nacht ohne Schatten
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-97403-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 3, 384 Seiten
Reihe: Judith-Krieger-Krimis
ISBN: 978-3-492-97403-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Samstag, 7. Januar
»Jetzt weißt du, wie es ist.« Der Satz ist rätselhaft, ohne Zusammenhang. Es gibt keinen Sprecher zu ihm, kein Gesicht. Kriminalhauptkommissarin Judith Krieger liegt ganz still. Jemand hat diesen Satz zu ihr gesagt, vielleicht sogar jemand, den sie kennt. Der Satz muss einen Sinn ergeben. Sie versucht die Traumbilder noch einmal heraufzubeschwören. Sie denkt an die Akten, die sich in ihrem Büro stapeln, auf jeder freien Fläche. Dann an die unselige Weihnachtstombola. Es hilft nichts. Sie kommt nicht einmal darauf, was dieses »Jetzt« bedeuten mag, das nach Schadenfreude klingt, beinahe wie eine Drohung. Sie zieht ihren Bademantel über und füllt in der Küche ein Glas mit Leitungswasser. 2:11 Uhr. Sie ist nicht erstaunt, als das Telefon zu klingeln beginnt. Eher ist es so, als habe sie darauf gewartet, ohne sich dessen bewusst zu sein. »Krieger?« »Henning, Kriminalinspektion. Tut mir leid.« »Schon okay.« Sie sucht unter der Zeitung auf dem Küchentisch nach Notizbuch und Stift, während der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung weiterspricht. »Ein Toter an der S-Bahn-Haltestelle Gewerbepark. Wahrscheinlich der Fahrer. Könnte ein Unfall sein. Vermutlich aber nicht.« »Schicken Sie mir einen Wagen.« Unten auf der Straße empfängt sie Nieselregen, im Rinnstein kleben die aufgeweichten Überreste einer Silvesterrakete. Der Wochenend-Soundtrack der Innenstadt liegt in der Luft: Motorenlärm, Gesprächsfetzen, Musik. Judith schließt die Augen, während ein Polizeistreifenwagen sie durch die fiebernde Innenstadt in den Nordwesten bringt. Sie sehnt sich plötzlich nach etwas, vielleicht einfach
nur nach einem jüngeren Ich. Es gab einmal eine Zeit in ihrem Leben, da glaubte sie, Gut und Böse unterscheiden zu können, und für jede Verzweiflung gab es eine Hoffnung. Am Aufgang der S-Bahn-Haltestelle Gewerbepark warten weitere Polizeiautos. Die Haltestelle liegt erhöht auf schmuddeligem Mauerwerk, das in einen struppig bewachsenen Bahndamm übergeht. Jenseits der Unterführung erkennt Judith eine vernachlässigte Schrebergartenkolonie. Das Gebiet zwischen Ehrenfeld und Bickendorf, das der Haltestelle den Namen gab, befindet sich im Umbruch, zur Kleinindustrie aus diversen Handwerksbetrieben, Auto- und Schrotthändlern haben sich die ersten Bürokomplexe gesellt. An der Straße zum Haltestellenaufgang stehen zum Abriss vorgesehene Mietshäuser und eine alte Backsteinfabrik. Die Fenster sind dunkel. Auch das einzige Lokal weit und breit, eine Pizzeria, hat längst geschlossen. »KHK Krieger?« Eine Polizeimeisterin mit straff gebundenem Pferdeschwanz deutet vage die Treppe hinauf. »Der Zeuge, der uns verständigt hat, ist noch hier.« Graffiti an den Wänden des Treppenaufgangs. Abfall, Urinränder und Erbrochenes auf den Stufen. Die Polizeimeisterin folgt Judith stumm nach oben, wo weitere Polizisten einen drahtigen Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt bewachen. Von einem Toten ist nichts zu sehen. »Der Tote liegt da drüben«, die Polizeimeisterin zeigt auf eine etwa 150 Meter von der Haltestelle entfernt wartende S-Bahn mit leuchtenden Scheinwerfern. »Wie hat der Zeuge ihn da gefunden?« »Er sagt, er ist rübergelaufen, weil die S-Bahn nicht einfuhr, wollte sich beschweren.« Die Polizistin senkt die Stimme. »Der hat eine ganz schöne Fahne.« »Ich schau mich mal um«, sagt Judith. »Behaltet ihn hier. Was ist mit dem Bahnverkehr?« »Ist nicht unterbrochen. Aber der Zug steht ja auch auf dem Wartegleis.« Einer der Beamten gibt ihr eine Stableuchte. Sie springt ins Gleisbett, schaltet die Lampe ein. Nieselregen hängt in der Luft wie Weichzeichner, legt sich auf ihre Haare, ihr Gesicht, ihren Mantel. Millionen feiner Tröpfchen, die unaufhaltsam Spuren zerstören. Wie viel Zeit ist vergangen, seit der Tote gefunden wurde? Zu viel Zeit. Judith beschleunigt ihre Schritte. Die Gleise schimmern kalt im Licht der Taschenlampe, die Scheinwerfer der Bahn blenden Judith. Jenseits des Gewerbeparks erscheint das Großbordell Amor zum Greifen nah: neun Stockwerke, an deren Fassade sich rote Lauflichter jagen. Weiter entfernt schwimmt der Dom in den Lichtern der Innenstadt wie in buntem Nebel. Der Tote liegt neben dem Führerstand der S-Bahn im Schotter, ein Knie angezogen, halb seitlich auf dem Bauch, als schliefe er. Doch sein grotesk in den Nacken gebogener Kopf macht den ersten Eindruck friedlicher Entspannung zunichte. Der Kopf und das Blut, das aus seinem leicht geöffneten Mund geflossen ist. Beinahe schwarz sieht es aus. Ölig. Judith hockt sich hin und leuchtet dem Mann ins Gesicht. Seine Augen sind schon trüb, trotzdem ist es ihr, als sehe er sie an und bitte um etwas, nicht verstehend, was mit ihm geschehen ist, nicht bereit, seinen Tod zu akzeptieren. Der Geruch von Blut steigt ihr in die Nase. Metallisch. Süßlich. Lebenssaft, der sich bereits zersetzt, nutzlos wird. Urin und Kot mischen sich dazu. Wahrscheinlich hat der Mann im Moment seines Todes in die Hosen gemacht. »Ich denk die ganze Zeit, dass er was zu sagen versucht.« Der Polizist, der neben dem Toten gewartet hat, kreuzt die Arme vor der Brust. »Was?« »Was?« Irritiert sieht er Judith an. »Was, glaubst du, versucht er zu sagen?« Der Mann zieht die Schultern hoch. »Keine Ahnung, ist ja auch Quatsch.« Wortlos zwingt Judith Latexhandschuhe über ihre klammen Finger. Der Tote ist korpulent. Er trägt Sweatshirt, Hose und Schuhe, alles in Dunkelblau oder Schwarz. Das Blut ist wirklich überall. Sie fasst unter den Kopf des Mannes, registriert Schürf- und Platzwunden auf Stirn und Wange. Die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt. Wie schwer ein menschlicher Schädel wiegt, wenn die Halsmuskeln ihn nicht mehr stabilisieren. Die Gesichtshaut ist blass, wächsern, kühl. Judith entdeckt keine Totenflecken. Behutsam lässt sie den Schädel zurück auf den Schotter gleiten. Ein Schwall lauwarmen Blutes ergießt sich aus dem Mund des Toten über ihre Hand. Sie unterdrückt einen Fluch. »Seine Lunge muss verletzt sein.« Sie spricht laut, um das Unbehagen zu übertönen, das der unverwandt starre Blick des Toten und die Erinnerung an die rätselhafte Traumbotschaft in ihr auslösen. »Wir brauchen die Spurensicherung, Licht, Abdeckplane oder Zelt, und zwar schnell. Gibst du das durch? Verfluchter Regen.« Der Tote trägt keine Jacke, fällt ihr plötzlich auf. Wieder schickt sie den Lichtstrahl über seinen Leib. Das Bahnlogo prangt auf seiner Sweatshirtbrust. Die linke Hand ist unter dem Körper vergraben. Die andere ist zur Faust geballt. Judith tritt hinter den zusammengekrümmten Mann, geht erneut in die Hocke. Hier ist der Stoff seines Sweatshirts dunkel verkrustet. Sie beugt sich näher zu ihm. Risse im Gewebe, links und rechts der Wirbelsäule. Fadendünne Schnitte, fransige Schnitte, kreuz und quer. Judith richtet sich auf. »Jemand muss wie von Sinnen auf ihn eingestochen haben. Rücklings. Besser, du rufst auch die Rechtsmedizin.« Der Polizeimeister spricht erneut in sein Funkgerät. »Müller hat Dienst«, sagt er zu Judith, als er fertig ist. Sie nickt, leuchtet weiter die Umgebung ab, dann den Führerstand der S-Bahn. Ihr Haar klebt jetzt an ihrem Kopf, der Regen wird dichter, hüllt sie ein. Er ist zu warm für eine Januarnacht, der ganze Winter ist zu warm, die Nachrichten sind voll davon: Schmelzende Polkappen, steigende Meeresspiegel, Wirbelstürme, Hungersnöte, alles selbst verschuldet, alles menschengemacht. Und trotzdem ist die Nacht zu kalt, um ohne Jacke zur Arbeit zu gehen. Wieder leuchtet Judith über den Körper des Toten. Was ist mit der Jacke des S-Bahn-Fahrers passiert? Hat er sie ausgezogen, bevor er ermordet wurde? Hat der Täter sie ihm weggenommen, und wenn ja, warum? Die Nase des Toten ist zu groß, der Mund zu klein, das hellbraune Haar wird am Hinterkopf licht. Sie sieht ihn vor sich, wie er an der Bahn entlang durch den Schotter schlurft, vom hinteren zum vorderen Triebwagen, ein müder Mann mit gekrümmten Schultern, der nichts auf Sport und Haltung gibt. Die Schnürsenkel seiner Schuhe sind aufgebunden, registriert sie auf einmal. Wollte er sie ausziehen, in seiner letzten Pause, mitten auf den Gleisen? Wohl kaum. »Von wo ist der Täter gekommen?«, fragt der Polizeimeister. »Vielleicht war er in der Bahn. Wir brauchen jemanden von den Verkehrsbetrieben, mit etwas Glück gibt es da drin Kameras.« Judith schickt den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe über die S-Bahn-Waggons. Sie sehen alt aus. Verdreckt. Hat der Tote eine Frau? Kinder? Er trägt keinen Ehering, jedenfalls nicht an der rechten Hand. »Warte hier und lass KOK Korzilius rufen«, sagt sie zu dem Polizeimeister. »Ich red jetzt mit dem Zeugen.« Der Wind nimmt zu und peitscht ihr Nässe ins Gesicht. Der Weg zurück zur Haltestelle über die Gleise ist zu einsichtig, als dass der Täter ihn gewählt haben dürfte, auch wenn hier um diese Tageszeit absolut niemand wach oder unterwegs zu sein scheint. Auf dem Bahnsteig stehen jetzt die Spurensicherer bereit, die Gesichter grünlich blass vom trüben Neonlicht. Sie hören sich an, was Judith berichtet, und schwärmen dann über die Bahngleise aus, wie eine Spezies flügelloser weißer Käfer. Judith streicht sich die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es läuft gut, hat Millstätt, ihr Chef, gestern gesagt, als er sie zur Bereitschaft einteilte. Die Kollegen betrachten dich als rehabilitiert. Es ist genau das, worum sie gekämpft hat, nach ihrer Krise, der Auszeit und der Rückkehr, aber ist es auch das, was sie will? Ja, denkt sie, ja, verdammt,...