Knoch / Samida / Zündorf | Geschichte in Gedenkstätten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 246 Seiten

Knoch / Samida / Zündorf Geschichte in Gedenkstätten

Theorie – Praxis – Berufsfelder
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8463-5143-7
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Theorie – Praxis – Berufsfelder

E-Book, Deutsch, 246 Seiten

ISBN: 978-3-8463-5143-7
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Seit 1945 sind von Auschwitz bis Kigali weltweit eine Vielzahl von Gedenkstätten entstanden.

Sie haben sich im Laufe der Geschichte als zentrale Orte der Erinnerung an das massenhafte Leiden von Menschen durch staatliche Verfolgung, Kriegsverbrechen und Völkermorde etabliert.

An den historischen Tatorten erfüllen sie viele Aufgaben: Gedenken, Bewahren, Forschen, Vermitteln. Im Zentrum stehen die Erfahrungen der Opfer.

Der Band zeichnet die Entwicklung und Geschichte von Gedenkstätten nach, führt in die wichtigsten Kontroversen ein und vermittelt einen Überblick zu den Aufgabenfeldern dieser Institutionen des kollektiven Gedächtnisses.

Knoch / Samida / Zündorf Geschichte in Gedenkstätten jetzt bestellen!

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Einführung
1 Definitionen
1.1 Eine Annäherung
1.2 Gedenkort – Gedenkmuseum – Denkmal – Erinnerungsort
1.3 Gedenkstätte: Eine kurze Begriffsgeschichte
1.4 Was macht eine Gedenkstätte aus?
2 Grundbegriffe
2.1 Erinnerung und Gedächtnis
2.2 Geschichtspolitik und Erinnerungskultur
2.3 Kollektivgewalt und Genozid
2.4 Opfer und Täter
2.5 Trauer und Trauma
2.6 Vergessen und Erinnern
2.7 Gedenken und Geschichtsbewusstsein
3 Entwicklungen
3.1 Totenkult und öffentliches Gedenken vor 1945
3.2 NS-Gedenkstätten als sakrale Gedächtnisorte der Nation
3.3 Die Gedenkstättenbewegung in der Bundesrepublik
3.4 Geschichtspolitik in der „Berliner Republik
3.5 Gedenkstätten für die Opfer in der SBZ und der DDR
3.6 Gedenkstätten in Europa seit 1990
3.7 Gedenkstätten als globale Institution
4 Themen
4.1 Sind Gedenkstätten heilige Orte?
4.2 Sind Gedenkstätten authentische Orte?
4.3 Sind Gedenkstätten museale Orte?
4.4 Sind Gedenkstätten Lernorte?
4.5 Sind Gedenkstätten politische Orte?
4.6 Sind Gedenkstätten universale Orte?
5 Praxis
5.1 Organisation
5.2 Akteure
5.3 Vernetzung
5.4 Aufgaben
5.5 Gedenkstätte als Beruf: Voraussetzungen
Weblinks zu Portalen, Plattformen und Linksammlungen
Dank
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Register der Namen und Orte


Eine Annäherung
Wer Hamburg vom Süden aus mit der Bahn erreicht, passiert kurz vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof einen Teil der HafenCity. Die Neubauten dieses immensen Stadtentwicklungsprojekts erstrecken sich auf einem weitflächigen Areal früherer Hafen- und Industrieanlagen. Wer genau hinsieht, erkennt einen Park mit einer ungewöhnlichen Gestaltung. Er wird durch eine Bodenfuge geteilt, die ihn mit einem etwas tieferliegenden Bereich verbindet. Dort sind Reste alter Gleisanlagen zu erkennen. Beides gehört zu dem 2017 eingeweihten Gedenkort „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“. Wie vergleichbare Projekte – der Erinnerungsort Alter Schlachthof in Düsseldorf und die Erinnerungsstätte an der Frankfurter Großmarkthalle – erinnert der Hamburger Gedenkort an die von hier aus durchgeführten Deportationen von mehr als 8000 Juden sowie Sinti und Roma zwischen 1940 und 1945 in mehrere Ghettos und Vernichtungslager. Dafür waren auch weitere Gebäude in der Umgebung des Bahnhofs genutzt worden. Als einer von vielen lokalen Tatorten des Holocaust blieb der Hannoversche Bahnhof jahrzehntelang unbeachtet. Von 1906 an wurde er nur noch für den Güterverkehr genutzt, seit 1999 ist er gar nicht mehr in Betrieb. Das historische Empfangsportal wurde 1955 abgerissen, die Seitengebäude verschwanden wenige Jahre später. Mit der Umwandlung des innerstädtischen Hafengebiets zur HafenCity begann 2001 auch der Rückbau der Gleisanlagen. Bevor der Hannoversche Bahnhof aber in Gänze verschwand, geriet seine Nutzung während des Holocaust in den Blick. Noch 1993 hatten engagierte Bürger lediglich die Anbringung einer Tafel im Hauptbahnhof erreicht, um an die Deportierten zu erinnern. Auf viel mehr wagte kaum jemand zu hoffen. Doch in den 2000er Jahren änderten sich die Bedingungen: Durch das Engagement von Bürgern sowie von Institutionen wie der KZ-Gedenkstätte Neuengamme oder der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg wurden in einem mehr als zehnjährigen Prozess die Grundlagen für die Schaffung eines Gedenkorts gelegt. Bauhistorische Sondierungen, eine temporäre Ausstellung, pädagogische Projekte, ein Wettbewerb für die Freiraumgestaltung des gesamten Parks im Auftrag der HafenCity GmbH und ein 2013 eröffneter „Info-Pavillon“ bereiteten die schrittweise Realisierung vor. Die späte Entdeckung des Hannoverschen Bahnhofs ist ein gutes Beispiel für die Konjunkturen des Vergessens und Erinnerns nach 1945, aber auch für jene Konstellationen, die seit gut drei Jahrzehnten die Einrichtung zahlreicher Gedenkstätten begünstigt haben. Er repräsentiert eine mittlerweile bestehende Vielfalt an unterschiedlichen Themen, dezentralen Orten und solchen mit zentralem Charakter, Gestaltungen und Organisationsformen der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Dabei hat ein Merkmal in den vergangenen Jahren immer größere Aufmerksamkeit erfahren: der konkrete historische Ort – die Tatsache also, dass sich die erinnerte Gewalt genau hier ereignet hat und noch Überreste erhalten sind. So vermittelt der Gleisrest am Hannoverschen Bahnhof nicht nur den Eindruck eines authentischen Bezugspunkts des Erinnerten, sondern weist auch über sich hinaus auf die Topographie der Todesorte, an die Menschen von hier aus transportiert wurden. Das „denk.mal“ wird auch als „Gedenkort“ bezeichnet und besteht aus drei Elementen: An dem erhalten gebliebenen Gleisstück befindet sich ein Mahnmal mit Namenstafeln der Opfer, das auf Drängen von Überlebenden in die Planung aufgenommen worden ist. Beton, Glas und Metall setzen hier einen nüchternen Akzent, prägen aber auch die Ästhetik der umgebenden Neubauten. Die Fuge als Außeninstallation macht den ehemaligen Bahnhofsvorplatz und den Gleisverlauf im Parkgelände symbolisch nachvollziehbar. Vom Park aus senkt sich der Weg bei gleichbleibend hohen Seitenwänden um etwa vier Meter nach unten ab. Dies „erzeugt Konzentration, wirkt auf die Sinne und verändert die räumliche Wahrnehmung“ (Endlich 2018: 44). In einem der angrenzenden Neubauten hat die Stadt langfristig das Erdgeschoss für ein Dokumentationszentrum mit einer ständigen Ausstellung und Bildungsangeboten wie einer „Lernwerkstatt“ oder einem „Zukunftslabor“ gepachtet. Der Investor hat sich verpflichtet, an der Außenfront des Gebäudes eine Gravur gut sichtbar anzubringen, die auf das Dokumentationszentrum verweist. Auch dauerhaftes Personal ist in der Planung vorgesehen (von Wrochem 2018). Der Gedenkort „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ weist somit wesentliche Merkmale auf, die heute mit einer Gedenkstätte verbunden werden: einen historischen Ort und zumindest fragmentarische Relikte als Sachzeugnisse; ein namentliches Gedenken an Opfer eines staatlichen Massenverbrechens; eine Verbindung von Überresten, Mahnmalen und Landschaftsgestaltung; eine Dauerausstellung und ein Bildungsangebot mit regelmäßigen Nutzungszeiten und festem Personal; eine Sammlung, eine Bibliothek und andere Informationsangebote; ein Netzwerk aus bürgerschaftlich Engagierten, wissenschaftlichen Experten und staatlich Verantwortlichen. Allerdings: Auch wenn bis zum „Gedenkort“ ein langer Weg und viele Verhandlungen führten, waren mit seiner Entstehung gegenüber früher entstandenen NS-Gedenkstätten wie der KZ-Gedenkstätte Neuengamme deutlich weniger erinnerungspolitische Konflikte verbunden. Beispiel: Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme Zum 60. Jahrestag der Befreiung wurde 2005 auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme im Südosten von Hamburg die neugestaltete Gedenkstätte der Öffentlichkeit übergeben. Sie umfasst eine Fläche von 57 Hektar – das ist mehr als das Elffache der Grünfläche vor dem Berliner Reichstag – mit 17 historischen Gebäuden sowie zahlreichen baulichen Überresten und Bodendenkmälern. Während vom Häftlingslager nur noch wenige Bauten erhalten sind, befinden sich in unmittelbarer Nähe mit dem ehemaligen Klinkerwerk und den früheren Walther-Werken zwei große Baukomplexe, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten. Im Zuge der Neugestaltung der Gedenkstätte wurden frühere Standorte der Häftlingsunterkünfte und Teile ihrer Überreste symbolisch sichtbar gemacht und der Appellplatz teilrekonstruiert. An insgesamt fünf Standorten werden dauerhaft Ausstellungen gezeigt, darunter in einem der beiden erhaltenen Massivbauten des Lagergeländes die zentrale Dauerausstellung. Jährlich besuchen mit steigender Tendenz etwa 100.000 Menschen die Gedenkstätte. Der Weg zu dieser Gedenkstätte war lang und konfliktreich. Das KZ Neuengamme wurde zunächst 1938 als Außenlager des KZ Sachsenhausen eingerichtet. Die SS machte daraus 1940 ein eigenständiges KZ mit schließlich 85 Außenlagern im gesamten Nordwesten Deutschlands, in das bis Kriegsende insgesamt etwa 100.000 Häftlinge verbracht wurden. Bis 1948 diente es als britisches Internierungslager für SS-Angehörige, zivile Funktionsträger des NS-Staats und mutmaßliche Kriegsverbrecher. Kurz zuvor hatte die hamburgische Gefängnisbehörde beantragt, das Gelände für eigene Zwecke nutzen zu dürfen. Während ein Neubau die Holzbaracken des Häftlingslagers ersetzte, wurden große Teile der befestigten Bauten des Konzentrationslagers für Insassen und Personal weitergenutzt. Als 1970 ein weiteres Gefängnis errichtet und zunächst für Jugendliche, dann ab den 1980er Jahren als geschlossene Erwachsenenanstalt verwendet wurde, war endgültig kein Zugang zum ehemaligen Häftlingslager mehr möglich. Es waren zunächst Überlebende, die sich gegen die achtlose Weiternutzung und das lokale Vergessen für ein Gedenken am Ort selbst einsetzten. 1953 erreichten französische Überlebende die Aufstellung einer Gedenksäule auf dem Gelände der ehemaligen Lagergärtnerei, am westlichen Rand des ehemaligen KZ. Für die Überlebenden hat dieser Ort eine besondere Bedeutung: Hier hatte die SS die Asche der im Krematorium verbrannten Leichen verstreuen lassen. Die 1958 als Zusammenschluss der nationalen Verbände ehemaliger Neuengamme-Häftlinge gegründete Amicale Internationale KZ Neuengamme setzte sich für eine würdige Gestaltung dieses Bereichs ein, den sie als Friedhof deklarierte und reklamierte. In den folgenden Jahrzehnten entstand außerhalb des ehemaligen Lagergeländes ein Gedenkhain mit internationalen Einzelgedenksteinen neben der Gedenksäule. 1965 wurde in diesem Areal ein weitläufigeres Mahnmal des Hamburger Senats eingeweiht. Die parkartige Anlage aus einer Stele, einer Steinmauer und einer Skulptur firmierte bereits als „Gedenkstätte“, verfügte aber weder über Personal noch über eine Ausstellung. Hatte das Gedenken so einen ersten Ort gefunden, war der Weg zur Erinnerung vor allem im Sinne von Information und Aufklärung...


Knoch, Habbo
Prof. Dr. Habbo Knoch ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Universität zu Köln. Zuvor war er Geschäftsführer der "Stiftung niedersächsische Gedenkstätten" (Celle) und Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen.

Zündorf, Irmgard
Dr. Irmgard Zündorf ist Leiterin des Bereichs Public History am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Samida, Stefanie
PD Dr. Stefanie Samida ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Heidelberg und Privatdozentin für Populäre Kulturen an der Universität Zürich.



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