E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Köhler Echte Nähe zum Kind
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-28275-2
Verlag: Kösel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie Eltern zu ihren eigenen Gefühlen finden und so ein harmonisches Familienleben ermöglichen - Von der Gründerin der Kinderflüsterei
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-641-28275-2
Verlag: Kösel
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Die Gefühle Gefühle, Bedürfnisse, Handlungsstrategien Du kannst dein Kind nur in seinen Gefühlen begleiten, wenn du deine eigenen Gefühle begleiten kannst. Gleichzeitig. An dieser Stelle verzichte ich auf die Unterscheidung von Gefühlen, Emotionen und Affekten und wähle »Gefühle« als übergeordnete Begrifflichkeit, um nicht zu theoretisch zu werden. Gefühle verstehen wir hier als einen subjektiven Erlebniszustand, der sowohl einen Auslöser als auch eine vom Auslöser zu unterscheidende Ursache hat. Insbesondere Männer sind in unserer Arbeit meist sehr dankbar dafür, das bis dato nicht Fassbare und so oft dem weiblichen Geschlecht Zugeordnete begreifbar zu machen und erstmals einen analytischen Zugang zu finden. In der Folge geben sie sich stückchenweise und zu ihrer eigenen Überraschung oft mit größerem Tempo als ihre Partnerinnen den Gefühlen hin, zu denen sie zuvor noch wenig Zugang zu haben schienen. Es wirkt so, als hätten sie immer nach einem Kanal gesucht, die einst als nicht zu bewältigende und überfordernd erlebte Begegnung mit den eigenen Gefühlen mithilfe einer neuen Handlungsstrategie zu überwinden. Bei dieser Beobachtung handelt es sich selbstverständlich nur um unsere subjektiven Erfahrungen, die kein Stereotyp bedienen möchten. Vielleicht treffen wir in unserer Arbeit nur immer wieder den Typus Vater, der ohnehin schon sehr bereit ist, sich auf eine neue Art von Beziehung zu sich selbst einzulassen und der bisher nur einfach nicht das passende Werkzeug gefunden hat. Die Allerwenigsten von uns hatten Eltern, die emotional intelligent mit ihren eigenen Gefühlen umgehen konnten und uns dies gelehrt oder uns in unseren mächtigen kindlichen Gefühlen begleitet hätten. Das wäre aber notwendig gewesen, um die Erfahrung zu vermeiden, unseren Gefühlen schutzlos ausgeliefert zu sein oder von ihnen mitgerissen zu werden, denn wenn du auch nur einen einzigen Tag im Leben eines Kindes verbracht hast, weißt du um die Heftigkeit seiner Empfindungen. Du weißt nun auch, dass der Mensch generell dazu neigt, um jede ernsthaft negative Erfahrung seines Lebens unbewusst einen Bogen zu machen, um den der Erfahrung zugrunde liegenden Schmerz nicht nochmals erleben zu müssen. So haben wir kollektiv eine skeptische Haltung gegenüber unseren eigenen Empfindungen entwickelt: Sie sind auf jeden Fall mit Vorsicht zu fühlen, mit einen Fuß auf dem Boden, und auch nicht zu intensiv, bitte – es sei denn, sie sind positiv, dann gerne exzessiv und für immer festzuhalten. Mir ist in meiner Praxis noch niemals jemand begegnet, der nicht irgendwann auf die Angst vor der Unkontrollierbarkeit seiner eigenen Gefühle getroffen wäre, sorgsam versteckt unter Vermeidungsstrategien und anderen nützlichen Helferlein der Psyche. Um Gefühle kontrollieren zu können, hätte dieser Zugang ja stetig bedient und nicht abtrainiert oder vermieden werden müssen. Kurzum: Du kennst dich mit Gefühlen nicht so richtig gut aus, hast früh gelernt, deine eigenen Gefühle zu bewerten, nämlich als positiv und negativ, als erwünscht und unerwünscht. Aufgrund der ihnen innewohnenden Macht, dein Empfinden zu bestimmen, ganz so, als kämen sie einfach angeflogen, begegnest du ihnen unbemerkt vorsichtig und allzu oft mit gehörigem innerem Abstand und auch gerne mal mit dem Kopf. Auf diese Weise bilden wir innere Gefühlslandkarten in uns aus, die unsere Haltung gegenüber unseren eigenen Gefühlen und unser Handeln in unseren Beziehungen fortan bestimmen. Wir sprachen zu Beginn des Buches bereits darüber, wie wir Erwachsenen einen regelrechten Verlust des Zugangs in die eigene Intuition erlebt haben und daher geneigt sind, unsere Kinder so zu leiten, weniger auf sich und ihre Gefühle zu hören als auf die Stimmen im Außen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass auch das Außen irgendwie dafür verantwortlich ist, wie wir uns fühlen und ob wir versorgt sind, und nicht wir selbst – als Inhaber unserer Gefühle. Ganz schön verdreht, oder? Während wir also verlernt haben, uns selbst zuzuhören und zu fühlen, trauen wir uns zu, unser Kind dabei zu begleiten, mit seinen Gefühlen zurechtzukommen. Ein gewagtes Vorhaben, das schon mal um 7 Uhr morgens auf dem Badezimmerteppich darin gipfelt, dass dein Kind keine Zähne putzen möchte und du deinem Ohnmachtsgefühl ausgeliefert bist. Lass uns die Angelegenheit einmal pragmatisch betrachten: Gefühle sind Teil deines biologischen Überlebenssystems. Du bist nicht dein Gefühl, du hast Gefühle, auch wenn sich das manchmal ganz anders anfühlen mag, und du alleine machst deine Gefühle, nicht dein Partner, nicht dein Kind und auch nicht dein Chef. Gefühle haben einen Auslöser. Du denkst etwas oder erhältst ein Signal deines Körpers, beispielsweise ein Grummeln deines Magens. Blitzschnell kombinierst du: »Signal bekannt. Das ist Hunger.« Das passende Gefühl dazu stellt sich ein: Du empfindest Hunger. Das Grummeln deines Magens ist jedoch nicht die Ursache für deinen Hunger. Die Ursache ist dein Bedürfnis nach Nahrung. Idealerweise gehst du dann zum Kühlschrank und bereitest dir etwas zu essen zu. Du handelst also, um dein Bedürfnis zu befriedigen, und das Gefühl des Hungers verschwindet. Ja, so einfach könnte alles sein, wenn wir denn nur wüssten, dass der Umgang mit Gefühlen aus drei Elementen besteht, und wenn wir uns darin üben würden, sie so sinnvoll zu befriedigen, wie wir es beim Schmieren einer Stulle tun: Gefühl Bedürfnis Handlung Dann würdest du fühlen, das zugehörige Bedürfnis erforschen und schließlich handeln, um das Bedürfnis zu befriedigen. Das Gefühl würde verschwinden. Tatsächlich sieht die Realität morgens um sieben auf deutschen Badezimmerteppichen ein wenig anders aus. Du fühlst deine Ohnmacht oder die darunterliegende Wut und handelst ausschließlich, um das Gefühl schnellstmöglich wieder loszuwerden, nicht um das darin versteckte Bedürfnis beispielsweise nach Kooperation, Verbindung, Unterstützung oder Gehörtsein zu stillen, denn dann würdest du ganz sicher ganz anders handeln. So schreist du vielleicht, bist in den Bedürfnissen deines Kindes unterwegs, während du deine missachtest, meckerst herum, verlässt den Raum oder stellst eine Folge »Paw Patrol« in Aussicht, nur damit du dich deiner Angst vor dem nächsten Machtkampf nicht stellen musst. Vielleicht greifst du bei Frust zur Schokolade, gönnst dir ein Glas Rotwein nach einem anstrengenden Tag oder distanzierst dich an diesem Abend von deinem Partner, weil er nicht erkennt, was du gerade von ihm brauchst. Du handelst, um das als nicht positiv wahrgenommene Gefühl wieder loszuwerden. Die Frage danach, was du im Moment eines belastenden Gefühls brauchst, stellst du dir nicht. Kaum jemand tut das. Du erkennst im entscheidenden Moment nicht, dass du gerade etwas brauchst, und du erkennst schon gar nicht, was das ist. Du handelst ziellos, weil Menschen eben immer irgendwie handeln, um sich weniger ohnmächtig zu fühlen. Lass es dir auf der Zunge zergehen: Du handelst, um dich von deinem unangenehmen Gefühl zu befreien. Damit erreichst du aber nur einen Erfolg für den Moment – meist kommen die Gefühle in der übernächsten Situation zurück. Nachhaltig gelöst hast du die Situation nicht, und das spürst du auch. Das liegt daran, dass dein verkanntes und dem Gefühl zugrunde liegendes Bedürfnis noch immer darauf wartet, von dir gestillt zu werden. Erst dann kann das negative Gefühl verschwinden, denn dies ist seine Aufgabe. Es weist dich darauf hin, dass du etwas brauchst, und es ist deine Aufgabe herauszufinden, was das ist, um dich damit zu versorgen. Würdest du dich auf dem Hoch deines Frusts fragen, was du gerade brauchst, so mag Rotwein durchaus dein erster Gedanke sein. Mach dir einen Spaß daraus und frag dich, welches Bedürfnis dir ein Glas Wein befriedigen kann, und du wirst keine Antwort darauf finden. Ein ziemlich sicherer Hinweis darauf, dass es sich bei deiner Antwort nicht um ein Bedürfnis, sondern um eine Handlungsstrategie handelt. Wenn du dich frustriert fühlst, so können diesem Gefühl viele Bedürfnisse zugrunde liegen. Vielleicht brauchst du Ruhe und Erholung? Vielleicht brauchst du Trost oder Unterstützung? Vielleicht brauchst du aber auch Nähe oder Austausch oder irgendetwas anderes. Erst wenn du weißt, was du brauchst, kannst du gezielt handeln, um dein Bedürfnis zu stillen. Dann ziehst du dich vielleicht zurück, wenn du Ruhe brauchst, oder suchst ein gutes Gespräch oder bittest um Hilfe, wenn du Unterstützung brauchst. Dann findet der Lehrer in seinem Klassenzimmer heraus, was sein Schüler, der gerade zum fünften Mal in Folge den Stift fallen lässt, in diesem Moment benötigt, anstatt sein Benehmen zu bewerten, ihn zu ermahnen oder zu bestrafen, damit die Handlung ausbleibt und sich sein Wunsch, störungsfreien Unterricht zu halten, erfüllt. Vielleicht ist der Schüler gelangweilt, vielleicht fühlt er sich überfordert, vielleicht gab es am Morgen Streit in seiner Familie. Würde sich der Erwachsene die Mühe machen, im Verhalten des Kindes das zugrunde liegende Bedürfnis gemeinsam mit dem Kind zu erforschen und sogar Handlungsstrategien finden, die das Bedürfnis stillen, anstatt nur seine Handlung abzustellen, bräuchte das Kind die lästige Handlung nicht mehr, seine Eigenkompetenz würde sich verdreifachen und der Unterricht könnte ungestörter verlaufen. Wir würden dann gezielt den Zugang des Kindes zu sich erhalten, also das Gegenteil dessen bewirken, was in der Gesellschaft sonst vollzogen wird. Unerwünschte Handlungen des Kindes bedürfen keiner...