E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Kolb Bei Rotlicht bitte kein Wasser zapfen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7562-9159-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Meine vierzig Jahre Radio
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-7562-9159-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was ist ein Berufssprecher? Immer wieder wird Jürgen Kolb mit dieser Frage konfrontiert - in den Jahrzehnten seiner Arbeit für das Radio. An der Beantwortung lässt er die Leser teilhaben, in Form von ebenso unterhaltsamen wie informativen Erinnerungsgeschichten aus seinem Sender, dem Hessischen Rundfunk (hr), aber auch in kritischen Gedanken zum aussterbenden Berufsbild. Sein Ton ist humorvoll, ironisch, nachdenklich, manchmal etwas böse. Als Roter Faden zieht sich durch die Geschichten und Überlegungen die Leidenschaft für das Sprechen und das klare Plädoyer für Professionalität am Mikrofon. Geradezu greifbar ist sein unbedingter Anspruch, Dienst am Hörer zu leisten - und an niemandem sonst.
Jürgen Kolb war von 1979 bis 2017 Sprecher, Moderator und Redakteur beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt am Main. Als Sprechtrainer und Coach führte er viele heutige Medienschaffende ans Mikrofon und vor die Kamera.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Im Hundehimmel
„Sie sollten sich erst mal kämmen. Guten Tag. Marlene Schneider. Sprecherin und Sprecherzieherin im Hause. Ich soll Sie hier beim Pförtner abholen. Mit den Haaren müssen Sie was machen. Hinten und an der Seite zu lang. Die stehen ja ab wie ein zerfledderter Heiligenschein – und vorne haben Sie ja gar nichts mehr. Schneiden Sie doch diesen Asparagus ab!“ Ich dachte, bei der Mikroprobe ginge es um Radio. Friseur? Das wäre doch Fernsehen. Meine Freunde Axel und Bernhard hatten mich an jenem heißen Junitag von Mainz nach Frankfurt gefahren. Nun saß ich zum ersten Mal in meinem Leben in einem Rundfunksender, im Eingangsbereich des Funkhauses am Dornbusch, Bertramstraße acht. Der Pförtner hatte mich in einem kleinen Glaskasten neben seiner Loge platziert, nach meinem schüchtern gehauchten Hinweis, ich sei Mikrofon-Proband. So also sah ein Sender von innen aus! Ich blickte auf mit Blattgold belegte mächtige Säulen, gewienerte Marmorböden und einen riesigen Wandteppich mit eingearbeiteter stilisierter Windrose. Das künstlerische Webstück hing an der majestätisch gebogenen Wand der Goldhalle, genau in der Mitte zweier sich in großen Bögen voneinander entfernenden Treppenaufgängen. Der Bau war pompös. Besucher wurden klein. Es roch förmlich nach Weihrauch. Funkhaus am Dornbusch. Der Name hatte mich immer fasziniert. Gelegentlich hörten wir ja auch im rheinland-pfälzischen Mainz den Hessischen Rundfunk: Musik zur Kaffeestunde mit Fred Metzler oder Hanna Pfeil. Und da tauchte der poetische Name des Senders ab und zu auf. „Wir hier im Funkhaus am Dornbusch haben uns auch gerade einen Kaffee gekocht und freuen uns mit Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, auf eine Stunde voller Musik …“ Allerdings sucht man in der Nähe des Senders einen Dornbusch mit Zweigen und Stacheln vergebens. Das hr-Gelände liegt im Frankfurter Nordend, grenzt jedoch an den Stadtteil Dornbusch. Funkhaus am Dornbusch. Wie klangvoll, raffiniert und banal zugleich. Marlene Schneider schob mich zum Aufzug. Sie schubste mich durch die Eingangshalle mit den imposanten goldenen Säulen. Unsere Schritte klackerten von den glatt polierten, marmornen Wänden zurück. „Das ist der Hundehimmel“, sagte Frau Schneider. Ich verstand nicht. Später klärte man mich über den Sinn der ironischen Bezeichnung auf. Im Himmel würden die Hunde gewiss ihr Beinchen an goldenen Bäumen heben. Frau Schneider bugsierte mich in einen dunklen Gang zu einem noch dunkleren, klapprigen Fahrstuhl und wir landeten im zweiten Stock des Rundbaus, ein – wie der Name sagt – kreisrundes Gebäude, in dem zu jener Zeit alle Programmräume des hr untergebracht waren, vor allem die Studios. Nach unglaublichen Irrungen, Wirrungen und labyrinthischen Gangfluchten hielt Frau Schneider mich am Arm fest. „Gehen Sie hier rein. Das ist eigentlich der Sprecher-Aufenthaltsraum. Heute sitzen hier Ihre Mitprobler.“ Tatsächlich. Etwa fünf zehn Damen und Herren quetschten sich auf zerschlissenem Fünfzigerjahre-Mobiliar in einem klitzekleinen Kabüffchen zusammen. Ich fand trotzdem noch Platz. Man sprach miteinander. Stimmen. Stimmen zum Niederknien! „Daaas ist heute meine drrrritte Mikrofoooonproobe. Ich war bereits bei Raaadio Breeeemen. Dort hatte man leider keine Verwennnndung, aber man wolle mich annnnruuuufen, wenn Kapazitäääten frei würrrden.“, „Sosooo! Ich war beim Südwestfunk in Baaaaden-Baaaaden. Auf einem Taaaagesausflug. Man hat mich sofort verpflichtet – für ein Schneewittchen-Hörspiel.“, „Und Sie, junger Mann?“ Man meinte mich. „Äh, ich studiere Deutsch in Mainz.“ „Bitte?“, „In Mainz, Deutsch!“, „Ah ja – viel Glück!“ Gespannte Erwartung. Man redete miteinander. Manche erzählten, was sie veranlasste, einen Mikrofontest zu machen. Zur Auflockerung imitierte ich einen Radiosprecher: „Hier ist der Hessische Rundfunk.“ Die Probanden lachten. „Klingt fast echt“, sagte einer. Das Schnattern unserer merkwürdigen Versammlung verstummte, als die Tür zum Räumchen aufflog und ER eintrat. Trommelwirbel, Fanfaren, Nebel aus Trockeneis … Denkste! Ein freundlicher älterer Herr in Hausjacke mit dicker Brille und bequemen Tretern stellte sich vor uns Prüflinge, grüßte überaus nett und sprach in die Runde: „Hallo, ich bin Helmut Hansen, Chefsprecher des Hauses (das Haus, des Hauses, dem Hause, im Hause wird in diesem Buch noch häufiger auftauchen, eine über allem schwebende Instanz, von der niemand so recht weiß, wer oder was das Haus eigentlich ist …) und begrüße Sie zu unserer kleinen Mikrofonprobe. Wenn Sie sich bitte auch kurz vorstellen wollen?“ Hansen hatte diverse Bewerbungsbögen in der Hand und begann, die jeweiligen Namen den Din-A4-Blättern zuzuordnen. Vor Aufregung stammelte ich: „Jürmklp.“ „Wie bitte?“ „Jürgen, äh, Kolb.“ „Herr Kolb – aaaaah ja!“ Hansen lächelte kurz und verglich mein lebendiges Antlitz mit dem Wuselhaarpassfoto auf dem Papierbogen. „Ja, eindeutig.“ Dann ging es weiter reihum. Manche Damen und Herren waren schon bekannt, andere versuchten sich zum ersten Mal. Irgendwann pickte mich ein gewisser Herr Bollmann aus diesem Hühnerstall voller adrenalisierter Prüflinge. Aha! Gerd Bollmann. Merken. Wichtig. Mit ihm ging es vom zweiten Stock in den dritten. Wieder der uralte Aufzug aus dem Vormärz. Und hier, im dritten Geschoss endlich, da waren sie: die Aufnahmestudios. Die gesamte kreisrunde Etage bestand aus Studios – und die wiederum aus jeweils zwei Räumen, einer für die Technik, mit Mischpult, Tonbandmaschinen und Plattenspielern. Durch eine Wand mit riesiger Glasscheibe getrennt: der andere. Dort hinein verfrachtete man mich und schloss hinter mir die dicke stählerne Doppeltür. Gefangen im Sprecherraum. Entsetzlich kahl. Warm. Stickig. Zwei Möbel. Tisch. Stuhl. Fertig. Es roch nach Nierentisch und Petticoat und Goldfischli und Gummibaum. Aber da war nichts, was so abgestanden hätte miefen können. Es müffelte, weil hier offenbar vor Jahrzehnten das letzte Mal ein Fenster aufgegangen war. Totenstille im Raum außerdem. Gruft. Schalltot. Und: keine technische Ausrüstung, außer einem flaschenförmigen Mikrofon an einer langen Metallstange. Sie kam aus der Decke und zielte genau auf die Tischmitte. Zudem eine kleine Gegensprechanlage zum Technikraum nebenan. Seitlich am Tisch hing noch ein Kopfhörer. Das abgegriffene graue Sechzigerjahre-Modell kannte ich aus dem alten Sprachlabor des Schloss-Gymnasiums. Mein Blick fiel auf zwei separate Knöpfe im Tisch. Der eine befand sich in gleicher Ebene mit der Tischplatte. Wenn er betätigt wurde, versank er ein paar Millimeter. Räuspertaste. Auf dem anderen Knopf stand Gong. Der satte Gong etwa? Der, mit dem im Hessenfunk immer die Nachrichten begannen? Was würde passieren, wenn ich draufdrückte? Immerhin traute ich mich, den alten, staubigen grünen Vorhang am Fenster des Raumes ein wenig zuzuziehen. Die Sonne blendete. Der Vorhang duftete nach Konrad Adenauer. „Herr Kolb, Sie haben sich gewiss mit unseren Prüfungstexten vertraut gemacht, denke ich. Dürfen wir Sie bitten, zu beginnen? Vielleicht zunächst die Nachrichten?“ Bollmanns Stimme kannte ich aus dem Radio. Nun hörte ich sie über die Gegensprechanlage aus dem Raum hinter der Glasscheibe. Bollmann klang ganz anders, als er aussah. Im Radio ein tönender Lohengrin, optisch eher das Klischee eines Finanzbeamten beim Abfassen eines Steuerbescheids. Viele Jahre später sagte mal ein Kollege zu mir: „Würden sich die Leut‘ vors Funkhaus stellen und wollten bei jedem, der gerade rauskommt, die Stimme zuordnen, das gäb‘ ein ziemliches Durcheinander.“ Die Nachrichten also sollte ich testweise verkünden, gleich das Hochamt zu Beginn der Probe. Feuchtfingrig raschelte ich in meinen Prüfungsunterlagen. Da gab es Pressestimmen mit Kommentaren der Tageszeitungen, außerdem ein schwerer Ansagetext zu noch schwererer Musik, eine saloppe Jazzmoderation à la Monty Alexander hat den Swing mit Suppenlöffeln gegessen, ein riesiges Heft mit dem Radioprogramm und tatsächlich einige Meldungen der Nachrichtenabteilung. „Und bitte!“ Ich sah durch die große Trennscheibe. Die junge, liebreizende Tontechnikerin, Renate, wie sie mir zu Beginn der Probe verriet, startete das Aufnahmeband. Ein rotes Lämpchen in der Tischplatte glomm auf und ich plapperte los, irgendetwas über Bundeskanzler Schmidt und Kabinett und Rente. Über Tornados in Amerika, Transitgespräche mit der DDR und die kunsthistorische Bedeutung der Marienkirche in Gelnhausen. Während meines Vortrags dachte ich an alles, nur nicht an den Inhalt der Texte. Meine Stimme kam mir vor wie gequetschter Kastratengesang,...